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Vorwärts, 2. 12. 1923
An einer Kurfürstendammecke hörte ich einen Bettler »Deutschland über alles«, die »Wacht am Rhein«, »Heil dir im Siegerkranz« singen. Der Wind fegte wütend durch die Nacht, grausam stieg die Kälte von den Pflastersteinen auf, Passanten wehten, von ihr getrieben, vorbei und spät war es. Welchen Sinn konnte hier, an dieser teils gemiedenen, teils eilig passierten Ecke ein Betteln haben und welchen Gewinn brachte es? – Es schien, als hätte der Bettler hier Dienst, um ihn war die Einsamkeit eines nächtlichen Wachtpostens, und nur eine Disziplin, der militärischen ähnlich und verwandt, konnte ihn hier ausharren lassen. Ja, der Bettler glich einem Soldaten, der einen undankbaren, harten und unhygienischen Dienst versieht, ohne die Gründe und den Zweck seiner Tätigkeit zu kennen. Und wie eine Militärkapelle, die Gedanken an Heldentod musikalisch zu betäuben, lustige und patriotische Märsche spielt, wenn die Soldaten den Giftgasen und der Vernichtung entgegengehen, so sang die Kehle dieses Bettlers heldenhafte Lieder, während seinem Magen der Hunger und seinen Lungen die tödliche Entzündung drohten. Weshalb sang er nicht, wenn er schon durchaus singen mußte, von der bitteren Not seiner Tage? Wen hoffte er mit patriotischen Gesängen bis zur tätigen Barmherzigkeit zu rühren? Glaubte er, die nationale Gesinnung eines Passanten wäre stärker als Kältegefühl, Furcht vor Verkühlung und Sehnsucht nach dem warmen Bett? Wußte er nicht, daß gerade die nationalen Gesang liebenden Patrioten (wie die deutsche Industrie und ihr Gefolge) am kärglichsten zu spenden pflegen? Und was gingen nun ihn, den frierenden, hungernden, obdachlosen Bettler der Rhein und der Siegerkranz an? Wie konnte er sein persönliches Weh so unkennbar verbergen hinter dem musikalischen Ausdruck einer patriotischen Gesinnung? Ich kann nicht annehmen, daß der herrliche Gesang, der Schwung der Melodie, der mitreißende Text den Bettler seine traurige Situation vergessen ließen. Ich habe patriotische Lieder schon oft gehört: Studenten sangen sie, wohlgenährte Bürger in den Dielen, Offiziere und jene ganze Klasse, deren besonderes Vorrecht der akustische Patriotismus ist; die singen kann, weil sie essen darf.
Dieser Bettler aber sang zu Unrecht. Er hätte ungefähr singen sollen: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß...« oder das Hungerlied aus den Webern oder jenes Weberlied von Heine, in dem von Alldeutschlands Leichentuch die Rede ist... Solche Lieder würden nicht nur der Situation des Bettlers entsprechen, sondern auch der Stimmung jener Straßenecke und der augenblicklich aktuellen europäischen Politik.
Der Bettler ist bestimmt falsch instruiert; jemand muß ihm gesagt haben, daß die Konjunktur nationalen Gesang erheische.
Das stimmt allerdings, nicht aber an den Straßenecken. Die Konjunktur für patriotische Musik blüht in den Herzen der Fabrikanten und in den Tanzdielen. Patriotischer Gesang ohne Sekt ist wie eine Militärkapelle, hinter der keine Kompagnie marschiert.
Oder sollte der Bettler wirklich aus Begeisterung singen? Flüchtet er vor seinem Elend in den Patriotismus? Und singt, um nicht zu schreien? Und wird kriegerisch, weil er kein Empörer sein darf? Dann ist er symbolisch. Millionen singen in Deutschland: Heil dir im Siegerkranz. Und ihr Leiblied müßte lauten: Wer nie sein Brot mit Tränen aß...