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I.
Einleitung.

Gestern Nachmittag, als im Hause und dessen Umgebung tiefe Ruhe und Stille herrschte, während Jung und Alt draußen mit der Ernte beschäftigt war, und ich – aus Furcht vor den Indianern, welche sich in der letzten Zeit etwas feindselig gezeigt haben – bei verschlossenen Thüren zu Hause saß, blickte ich zufällig von meinem Spinnrädchen auf und schaute aus dem offenen Fenster über die Bucht hinüber, an welcher unser Haus steht. Da fühlte ich mich unversehens, ich weiß nicht wie es kam, über Jahre und Meere zurückversetzt in die Tage meiner Kindheit, nach dem alten Hause am Rande des Marschlandes. War es das leise Flüstern der schläfrigen Luft in dem hohen Grase am Ufer, was meine Gedanken zurückführte in jene Gegend von England, wo die Winde am Rande der Sümpfe im Schilfe seufzen und pfeifen; oder war es vielleicht der glänzende Wasserspiegel, durch welchen die wilde Ente lange Furchen zog, der mich an den großen See erinnerte, welchen wir von dem Fenster meines Zimmers erblickten? Vielleicht war es auch der Duft des frischen Heues, durch das vergitterte Fenster hereinströmend, der mich plötzlich auf den Gipfel des kleinen Heuschobers im Obstgarten des alten Herrenhauses von Netherby versetzte, an dessen Fuß mein Bruder Roger zu stehen pflegte, während ich, von Base Placidia (wenn sie gerade besonders herablassend war) unterstützt, das Heu umwendete, wobei Tante Gretchen, meiner Mutter Schwester, uns hülfreiche Hand leistete, sobald wir ihres Beistandes bedurften. Wahrscheinlich war es das Heu. Denn die Seele steht, wie der vortreffliche Bunyan in seinem Werke über den heiligen Krieg ausgezeichnet dargethan hat, durch fünf Thore mit der äußeren Welt in Verbindung. Und übereinstimmend mit diesen äußeren Thoren aus der Sinnenwelt des Raumes gibt es, däucht mir, eben so viele innere Thore, die zu der innern, unsichtbaren Gedankenwelt leiten und sich gleichzeitig mit den äußeren Thoren durch dieselbe Federkraft öffnen. Aber von allen jenen geheimnißvollen Springfedern, welche diese wunderbare innere Welt erschließen, wirkt keine mit solch magischer Schnelligkeit, wie das Thor des Geruches. Unvermerkt stiehlt sich der zarte Duft wohlbekannter Feldblumen oder Gartenkräuter herein, und flugs, ehe sie es gewahr wird, ist die Seele weit hinweg in der Welt der Vergangenheit und pflückt Blumensträuße auf den Feldern ihrer Kindheit, oder sammelt in einem Winkel des alten Gartens Kräuter, welche längst erstarrte Hände in wohlbekannten Gemächern, die seit vielen Jahren von Fremden bewohnt sind, ausbreiten sollen.

Daher glaube ich, es war der süße Duft unseres amerikanischen Heues, der, mehr als irgend Etwas, mich hinübertrug in unser altes Haus in Alt-England und in längst vergangene Zeiten. Ich fuhr fort zu spinnen, während das Herz in fernen Tagen verweilte, und, wie dies bei Frauen gewöhnlich der Fall ist, waren die Finger nur um so emsiger, je weiter und schneller die Gedanken abschweiften, bis der Flachs am Rocken versponnen war, wodurch meine Arbeit und meine Gedanken unterbrochen wurden. Um frischen Vorrath zu holen, stieg ich in eine Kammer im obern Stockwerke hinauf, und während ich damit beschäftigt war, fiel mein Blick auf eine Kiste, worin viele Hefte eines alten Tagebuches lagen, das ich einst eine Reihe von Jahren hindurch geführt hatte.

Unwiderstehlich fühlte ich mich davon angezogen, und während ich vor der alten Truhe kniete und in den vergilbten Papieren blätterte, die an manchen Stellen Don den Motten zernagt waren, und die Schrift las – wovon die ersten Theile in großen, mühsam geformten Buchstaben geschrieben waren, als ob jedes Zeichen ein feierliches Symbol von der höchsten Wichtigkeit wäre, die letzteren in den hastig ergriffenen Zwischenpausen eines geschäftigen, vielbewegten und verwickelten Lebens rasch gekritzelt waren – däuchte mir, als schaute ich durch eine Reihe gemalter Fenster in die Hallen eines alterthümlichen Palastes. Auf den Fenstern erblickte ich die wohlbekannten, aber seltsamen Bilder eines kleinen, lebhaften Mädchens und einer Jungfrau. Aber diese Porträts waren zugleich Fensterscheiben, und nachdem ich sie eine Weile betrachtet, schien mir's, als ob die gemalten Scheiben verschwänden und ich nur noch in die Gemächer des Palastes sähe, auf welchen sie hinaus gingen. Doch waren es keine leeren, oder schweigenden, schattenhaften Räume, sondern wirkliche, frische Gemächer voll Leben und Bewegung. Als ich daher endlich die alten Blätter aus der Hand legte und bei dem sinkenden Tageslicht hinausblickte über diese neuen Küsten hinüber, über dieses neue Meer nach dem weit entfernten England, das noch immer dort drüben liegt, war es mir für einen Augenblick, als ob die hinter den weiten westlichen Wäldern untergehende Sonne, der Streifen goldener Kornfelder, die langsam über den Hügel zurückkehrenden Schnitter, der Begräbnißplatz der Indianer an der Bucht, das hübsche neue Haus, meine eigene ruhige Person nur Schatten, und jene alte Welt, in welcher mein Geist geweilt hatte, noch immer Wirklichkeit und Leben wäre.

Endlich weckte mich Nachbar Hartops fröhliche Stimme aus meinen Träumen, und ich eilte hinab, die Thüre zu öffnen und das Erntemahl aufzutragen.

Allein heute, indem ich wieder in den alten zerknitterten Papieren blättere, gewinnt abermals die Vergangenheit neues Leben vor mir, und ich will es nicht wieder ersterben lassen.

Es gibt eine Stunde des Tages, wenn die Sonne untergegangen und der blendende Glanz erloschen ist, ehe die Dunkelheit der Nacht hereinbricht, in welcher mir die Welt größer und deutlicher vorkommt, als zu jeder andern Zeit. Das Firmament erscheint dann höher und himmlischer als sonst, und die Erde, hie und da an ihren höchsten Spitzen mit himmlischer Gluth übergossen, scheint dem Himmel näher verwandt. Die kleine Landschaft, welche unser Horizont umschließt, wird augenscheinlicher ein Theil einer – größern Welt. Und hat nicht auch das Menschenleben eine solche Stunde? Ehe sie verrinnt, will ich das Tageslicht benützen und meiner Erinnerung die Scenen einprägen, welche so bald in Träume und Stillschweigen zerfließen würden.

Auf der ersten Seite meiner alten Tagebücher finde ich folgendes Ereigniß verzeichnet:

»Den achtundzwanzigsten März im Jahre unseres Herrn ein tausend sechshundert und sieben und dreißig. – Heute vor zwölf Jahren wurde unter strömendem Regen König Karl in Whitehall Gate und in Cheapside zum König ausgerufen. Mein Vater hörte den Herold und meine Tante Dorothea erinnert sich noch gar wohl des Regens, weil er das mit Schlitzen verzierte, atlassene Wamms meines Vaters verdarb (es war das letzte, welches er kaufte, da er sich seitdem viel einfacher kleidete); auch weil viele Leute den Regen als ein böses Omen für die neue Regierung betrachteten. Allein Vater sagt, dies sei ein der Christen unwürdiger Aberglaube.

»Auch bei der Krönung des Königs, welche am fünften Februar des folgenden Jahres statt fand, war Vater zugegen. Unsere französische Königin wollte, weil sie dem papistischen Glauben anhing, die Abtei nicht betreten. Als der König mit entblößtem Haupte dem Volke vorgestellt wurde, blieb Alles still; kein Einziger rief: »Gott segne den König«, bis der Graf Arundel sie dazu aufforderte, was, wie mein Vater sagte, ein schlimmeres Zeichen war, als wenn die Wolken Ströme von Regen ergossen hätten.«

Dies war in großen, mühsam geformten Buchstaben geschrieben.

Der zweite Abschnitt in meinem Tagebuche lautet sehr verschieden. Dort steht:

» Den zehnten April. Die scheckige Kuh ist gestorben und hat ein Kälbchen als Waise hinterlassen. Tante Gretchen sagt, ich dürfe das Kalb als mein Eigenthum behalten und es mit Hülfe von Tib, unserer Melkerin, aufziehen.«

Die Verschiedenheit dieser Aufzeichnungen ruft mir Vieles in's Gedächtniß zurück. Den Tag ehe ich den ersten Abschnitt schrieb, hatte Vater meinem Bruder Roger, meiner Base Placidia und mir, drei hübsch gebundene Hefte gebracht und uns gesagt, wir sollten dieselben benützen, um alle merkwürdigen Begebenheiten darin aufzuzeichnen. »Denn,« sagte er, »wir leben in seltsamen, wichtigen Zeiten, und Ihr Kinder könnt, noch ehe Ihr erwachsen seid, Dinge sehen, ja vielleicht thun oder leiden, welche eine weltgeschichtliche Bedeutung haben.«

Der Verabredung gemäß sollte Jedes von uns seine Aufzeichnungen allein schreiben und Keines sich von dem Andern helfen lassen. Dies war eine harte Bedingung für mich, weil ich damals selten etwas ohne Rogers Beihülfe oder Genehmigung überlegte oder that.

Nach langem, einsamem Nachsinnen kam ich zu dem Schlusse, daß die Geschichte hauptsächlich Könige und Königinnen betreffe, und geringere Leute nur in Bezug auf jene, das heißt, wenn es Könige und Königinnen gibt. Aus der alten griechischen Geschichte erinnerte ich mich der Helden, welche keine Könige waren, allein ich vermuthete, sie ersetzten deren Stelle. Die ganze englische Geschichte dagegen handelte von nichts, als was sich mit den Königen ereignete. Der eine wurde auf der Jagd erschossen; ein, anderer in Berkeley-Castle ermordet, die kleinen Prinzen im Tower erstickt. König Eduard III. gewann einen großen Sieg bei Crecy in Frankreich, König Heinrich V. einen zweiten bei Azincourt. Natürlich hatten andere Leute Theil an diesen Begebenheiten. Sir Walter Tyrrel harte zufällig den Pfeil abgeschossen, welcher den König Wilhelm tödtete, und böse Menschen mußten ohne Zweifel den König Eduard und die kleinen Prinzen absichtlich ermordet haben.

Natürlich hatten König Eduard und Heinrich Heere, mit deren Hülfe sie ihre Siege gewannen; aber diese Leute, dachte ich, würden in der Geschichte nicht erwähnt worden sein, ohne ihre Beziehung zu den Königen. Zugleich hielt ich es für unnöthig, Dinge zu erzählen, bei welchen Niemand, der mich näher anging, etwas zu thun gehabt hatte. Daher betrachtete ich Vaters Atlaswamms als ächt historisch, da es bei der Proklamation des Königs gegenwärtig war, und Tante Dorothea ebenfalls, weil sie ihre Bemerkungen darüber gemacht hatte.

Eine ganz verschiedene Theorie über Geschichte, welche in einer Unterredung mit Roger ihren Grund hatte, veranlaßte die zweite Aufzeichnung. Roger sagte nämlich, daß man nie zum Voraus wisse, welche Dinge später geschichtlichen Werth haben könnten; es sei also das einzig Richtige, das aufzuzeichnen, was uns wirklich aufrichtig interessire. Stelle es sich dann später heraus, daß diese Dinge für die Welt von Wichtigkeit seien, so werde unsere Erzählung ein Theil der Weltgeschichte. Wo nicht, so sei dieselbe wenigstens unsere wahre Geschichte, und als solche für die, welche sich für uns interessiren, wichtig. Aber ein schwaches Echo weit entfernter großer Begebenheiten aufzuzeichnen, an welchen wir glauben Antheil nehmen zu müssen, das, meinte Roger, heiße gar nicht mehr eine menschliche Sprache führen, sondern sei bloße Nachäfferei. »Jedermann,« sagt Roger, »sieht die Dinge auf seine Weise, verschieden Don andern an; und wenn daher ein Jeder das kleine Stückchen, das er sieht, aufrichtig beschriebe, so würde nach und nach ein vollkommenes Bild daraus entstehen. Allein abzuschreiben, was Andere gesehen haben, heiße sich bei jeder neuen Abschrift ein bischen weiter vom Original entfernen. Wenn, zum Beispiel, Julius Cäsar's Amme ausgezeichnet hätte, was er als kleiner Knabe gesagt und gethan, so würde dies zur Weltgeschichte gehören; aber ihre Ansichten über die Politik der römischen Republik würden höchst wahrscheinlich durchaus nicht von geschichtlichem Werthe sein, sondern bloß eitles Gewäsch.«

Auch die Behauptung, daß Könige und Königinnen die einzig wahren Gegenstände für die Geschichte seien, verwarf Roger mit großer Verachtung. Er hatte unlängst Herrn John Hampden, Herrn Oliver Cromwell und andere Freunde unseres Vaters besucht und war voll Entrüstung über die Tyrannei des Hofes und der Prälaten zurückgekehrt. Er sagte, weise Männer dächten, die Nation sei nicht um des Königs willen, sondern der König um der Nation willen da. Und – nichts zu sagen von der griechischen Geschichte, selbst die biblische sei sicher nicht voll von Königen und Königinnen, sondern von Schäfern und Hirten, von Predigern und Soldaten; oder, wenn Könige darinnen erwähnt würden, so wären sie vorher Hirten und Krieger gewesen, und ebensowohl Heilige und Helden als Könige.

Alle diese Gründe bestimmten mich, das nächste Mal über das Kalb der scheckigen Kuh zu schreiben, weil mich dies damals am meisten interessirte. Wenn mein Vater oder Roger, oder Base Placidia, oder Tante Gretchen, je historische Personen wurden (und wer konnte das wissen? wie Roger meinte), so war es gar wohl möglich, daß Anekdoten über dieses Kalb, das meinem Vater gehörte, und der Tante Gretchen so lieb war, daß Base Placidia behauptete, es sei kindisch, sich so viel darum zu kümmern, in untergeordneter Weise auch historisch merkwürdig wurden. Jedenfalls nahm ich mir vor, nicht wie Julius Cäsar's Amme von Politik zu schwatzen.

Die nächste Angabe lautete:

» Den 4ten August 1637. Dr. Antonius hat diesen Abend bei uns zugebracht und wird auf Vaters Bitte einige Tage hier verweilen, um seine Gesundheit wieder herzustellen, da Tante Dorothea heilsame Kräuter kennt und Tante Gretchen schmackhafte Gerichte zu bereiten weiß, welche ihm dienlich sein können. Mit genauer Noth ist er dem Lazarethfieber entgangen, indem er, seiner Gewohnheit nach, viele gute, schwer geprüfte Leute in den Gefängnissen im Lande umher besuchte. Ich bin krank und gefangen gewesen, sagt Dr. Antonius, – und ihr habt mich besuchet, diese Worte sind deutlich genug, um beim schwächsten Lichte gelesen zu werden, wie schwer auch das Uebrige zu verstehen sein mag. Er erzählte uns zwei seltsame Geschichten, die sich neulich zugetragen haben. Wenigstens scheinen sie mir sehr sonderbar.

»Am 30sten Juni dieses Jahres (während Roger und ich beim schönsten Sonnenschein in unserm Obstgarten mit Heumachen beschäftigt waren), sah Dr. Antonius im Hofe des Westminster-Palastes drei Herren im Pranger stehen. Der Pranger ist ein hölzernes Gestell auf einer Erhöhung, worein man böse Leute, wie tolle Hunde, einsperrt, daß sie sich nicht rühren können, indem man ihre Köpfe und Hände durch Löcher herausgucken läßt, um sie lächerlich zu machen, damit das Volk sie auslache und verhöhne. Aber Vater und Dr. Antonius hielten diese Herren nicht für böse, sondern höchstens ein wenig unvorsichtig in ihren Reden. Und das Volk fand sie auch gar nicht lächerlich; es spottete und höhnte nicht im Mindesten, sondern verhielt sich ganz still und Viele weinten. Die Namen jener Drei waren: Herr Prynne, ein Advokat; Dr. John Bastwick, ein Arzt, und Herr Burton, ein Geistlicher an einer Kirche in London. Dort standen sie viele Stunden lang, und der Henker schnitt einem nach dem andern mit einem fürchterlichen Messer die Ohren ab, und brannte hierauf grausam die zwei Buchstaben S L in ihre Wangen, was soviel als seditious libeller (aufrührerischer Pasquillant) bedeutet. Die drei Unglücklichen gaben, wie Dr. Antonius sagt, keinen Laut der Klage von sich, sondern benahmen sich wie tapfere Männer. Aber am muthigsten von Allen war, meiner Meinung nach, Frau Bastwick, des Doktors Gattin. Sie blieb bei ihm auf dem Schaffot und ertrug, ohne ein Wort oder einen Seufzer hören zu lassen, den Anblick aller Schmerzen ihres Gatten, aus Furcht, ihn abtrünnig zu machen; dann nahm sie seine Ohren in ihre Schürze und küßte sein armes verwundetes Gesicht vor allem Volk. Liebes, muthiges Herz! Ich wollte, sie wäre hier bei uns, und ich könnte ihre treuen Hände küssen so ehrerbietig wie die einer Königin, und mich an ihr tapferes Herz schmiegen, als ob es meine Mutter wäre! Die Dulder seufzten und stöhnten nicht; aber das Volk unterbrach einmal ihr jammervolles Schweigen mit einem Schrei des Zornes und öfters mit leisem gedämpftem Stöhnen, als ob es selbst ihre Schmach und ihre Schmerzen litte und (wie Dr. Antonius sagte) derselben eingedenk sein wollte. Herr Prynne sagte zu dem Scharfrichter, während das glühende Eisen sein Gesicht brannte: »Zerhaue mich, zerreiße mich in Stücken; ich fürchte dich nicht; ich fürchte nur das höllische Feuer! Herr Burton redete zu dem Volke von Gott und Seiner Wahrheit, und wie es wohl der Mühe werth sei, eher Alles zu leiden, als darauf zu verzichten. Auch sagte er, auf den Pranger deutend: »Das Evangelium wird doch einst aus diesen Löchern über England leuchten.« Endlich wurde er fast ohnmächtig; allein als man ihn in ein benachbartes Haus trug, sagte er getrost: »Sie ist zu heiß um lange zu währen.« (Damit meinte er die Verfolgung). Diese drei Herren sind jedoch nun in drei verschiedene Gefängnisse eingesperrt – in Launceston, Lancaster und Caernarron. Und Vater und Dr. Antonius sagen, der Erzbischof Laud habe alle diese Martern befohlen. Aber hätte der König sie nicht verhindern können, wenn er es nur gewollt hätte?

»Werden Roger und ich je wieder in dem lieblichen Juni-Sonnenschein das Heu umwenden können, ohne daran zu denken, wie die Sonne auf diese armen, verwundeten und verstümmelten Herren herabgebrannt hat? Hoffentlich werde ich einst die muthige Frau Bastwick zu sehen bekommen und ihr sagen können, wie sehr ich sie liebe und verehre und wie der Gedanke an sie, mehr als hundert Predigten, mich anfeuern wird, geduldig und muthig zu sein.

»Die Hauptperson der andern Geschichte, welche Dr. Antonius erzählte, war Jenny oder Janet Geddes; sie war nicht von vornehmer Abkunft, denn sie verkaufte Aepfel in einer Bude in Edinburg und scheint überdies sich keiner sehr anständigen Ausdrücke bedient zu haben. Die Schotten, wie es scheint, haben die Bischöfe nicht gerne und wollen auch gar keine haben. Aber der Erzbischof Laud und der König wollen sie dazu zwingen.

»Eines Sonntags nun, den 23ten Juli, also vor einem Monat, begann einer der von Erzbischof Laud eingesetzten Bischöfe in der St. Aegidius-Kathedrale zu Edinburg das für diesen Tag bestimmte Kirchengebet zu lesen. Jenny Geddes hatte ihren Feldstuhl in die Kirche mitgebracht (auf dem sie vermuthlich vor ihrer Apfelbude zu sitzen pflegte); und als der Bischof in seinen langen Gewändern herauskam (welche der Erzbischof gerne sehr bunt hat, während die Schotten nur schwarze haben wollen) stand sie auf, und warf ihren Stuhl dem Bischof an den Kopf, nannte den Gottesdienst die Messe, den Bischof einen Dieb und wünschte ihm alles mögliche Unglück in sonderbarem schottischen Dialekt, den ich wohl nicht recht verstanden habe; denn es klang wie Fluchen, und wäre Jenny Geddes eine fromme Frau, wenn auch keine Dame, so hätte sie doch gewiß nicht geflucht, und am wenigsten noch in der Kirche. Ob der Bischof verwundet wurde oder nicht, darum scheint sich Niemand bekümmert zu haben. Vermuthlich hat der Stuhl seinen Kopf nicht getroffen. Allein der Gottesdienst war unterbrochen. Denn das Volk erhob sich in großer Wuth, nicht gegen Jenny Geddes, sondern gegen den Bischof, den Erzbischof und das Kirchengebetbuch, ja gegen alle Bischöfe und Gebete aus Büchern, nicht bloß in Edinburg, sondern im ganzen Lande. Daraus kann man sehen, wie Vater sagt, daß schon zuvor sehr viel unzufriedene Reden um Jenny's Apfelbude herum geführt worden waren. Es gibt immer eine zornige Person, die den Feldstuhl schleudert, sagt Vater; aber Niemand kümmert sich darum, außer wenn Grund zum Zorn vorhanden ist.«

Dies war ein langer Abschnitt, der eine Menge Seiten einnahm und mich viele Zeit kostete.

Von meiner eigenen Geschichte, welche damit in Verbindung stand, ist kein Wort darin. Ueberhaupt bemerke ich in allen diesen Tagebüchern, daß sie die Vergangenheit mehr durch die heraufbeschwörenden Erinnerungen erwecken, als durch das was sie erzählen. Ob dies wohl bei den meisten Tagebüchern der Fall ist? Es scheint mir fast unmöglich, Roger's Regel zu befolgen und nur das zu schreiben, was uns gerade wirklich interessirt; denn wir wissen kaum selbst, was uns das tiefste Interesse einflößt, und wenn wir es wissen, so sind es gerade Dinge, über welche wir nicht zu schreiben im Stande sind.

Tief unter den Dingen, die wir sehen und über die wir nachdenken und reden, sind die großen, dunkeln, stillen Stellen, aus denen heraus wir selbst in's Dasein wachsen, und wo Gott an der Arbeit ist. Was wir erst anfangen zu sehen, erkennen wir noch gar nicht, was wir ohne deutliches Bewußtsein fühlen, unsere unbestimmten, widerstreitenden Gedanken, vermögen wir weder auszudrücken noch klar zu erkennen.

Leer und formlos ist der Zustand einer erst zu erschaffenden Welt. Ist die Welt erst erschaffen, so kann auch die Geschichte ihrer Schöpfung geschrieben werden. So lange die Schöpfung (oder Erschaffung) dauert, ist sie ein Chaos, und kann von außen nur als formlos und leer, vom Chaos aus aber gar nicht beschrieben werden. Nur der Schöpfer versteht das Chaos und unterscheidet schon vor der neuen Schöpfung das Chaos von der bloßen Verwüstung und den Trümmern der ersten. Selbst die weisesten Menschen können nur theilweise die Vergangenheit verstehen.

Die Gegenwart zu verstehen vermag nur Gott.

Denn die Gegenwart verstehen hieße die Zukunft vorhersehen. Das Chaos durchschauen wäre so gut, wie die neue Schöpfung vorhersehen.

Daher sind mir bei allen Tagebüchern nicht sowohl die darin ausgezeichneten Begebenheiten, als die Erinnerungen, welche sie erwecken, von Wichtigkeit. Und jede Selbstprüfung löst sich zuletzt in das Gebet auf: »Zeige Du mir, was ich nicht sehe.«

»Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz.«

 

Die Folgen, welche diese von Dr. Antonius erzählten Geschichten für mich hatten, stehen so deutlich vor meinen Augen, als ob ich sie erst gestern erlebt hätte, obgleich das Tagebuch nicht den leisesten Wink darüber gibt.

Den Sonntag, nachdem Dr. Antonius uns die schauerliche Scene am Pranger mitgetheilt hatte, waren Roger und ich an unser Lieblingsplätzchen auf dem Apfelbaume, der am entferntesten Ende des Obstgartens stand, geklettert. Wir hatten eine schreckliche Zeichnung mit uns genommen, die einzige Art von Bild, welche Tante Dorothea uns am Sonntag zu betrachten gestattete. Sie erlaubte uns dieses zum Theil, glaube ich, weil es kein Bild dessen war, das im Himmel noch auf der Erde, noch hoffentlich unter der Erde ist; zum Theil auch wegen der ernsten Gedanken, die es einzuflößen geeignet war.

Es stellte ein großes verzweigtes Ding vor, wie unser alter Stammbaum. Aber am Fuße des Baumes, wo sonst der Name Adams oder Noahs oder des Aeneas von Troja oder des Cassibelaun, oder sonst das Haupt einer Familie steht, befand sich der Name der heiligen Dreieinigkeit. Von diesem Stamme gingen zwei Aeste aus, wovon der eine die Gottlosen, der andere die Frommen darstellte; und dabei standen Worte, welche zeigten, daß dieselbe Barmherzigkeit und dieselben Gnadenmittel, die in den Herzen der Frommen Buße, Glauben und Liebe erwecken, nur Bitterkeit, falsche Sicherheit und Haß gegen Gott in dem Herzen der Bösen erzeugen. Immer weiter und weiter gingen die Zweige aus einander, bis der eine in einem schönen Engel mit Flügeln, der andere in einem scheußlichen Ungeheuer mit dem Rachen eines Walfisches, den Krallen eines Drachen und den Zähnen eines Löwen endigte. Beide waren durch folgende Zeilen mit einander verbunden:

»Ob Himmel oder Höll' Dein Loos,
Bleibt Gottes Ehre immer groß.«

Mir schauderte an jenem sonnigen Herbsttage auf meinem luftigen Sitze auf dem Apfelbaume beim Anblicke jener Zeichnung, hauptsächlich weil kein Mittel angegeben war, wie man auf den richtigen Zweig gelangen konnte, wenn man zufällig auf den schlimmen gerathen war. Alles schien so unwiderruflich und unvermeidlich, wie jener Punkt in unserm eigenen Stammbaume, wo Edwy, der älteste Sohn, ein Benediktiner-Mönch wurde, und in einem leichten Schnörkel endigte, und Walter, der zweite Sohn, Adalgira, die Erbin von Netherby-Haus heirathete und unser Stammvater ward. Und zu meiner unaussprechlichen Angst schien es, als ob sich die heilige Dreieinigkeit wenig darum bekümmerte, was aus uns werde, als Cassibelaun oder Noah, was aus ihren Nachkommen Edwy oder Walter wurde.

So saßen Roger und ich ganz still und furchtsam auf dem Apfelbaume, während der Wind in dem grünen Laub um uns her säuselte und die Sonnenstrahlen sich bemühten, die rosigen Aepfel zu reifen, und dann zum Spiel hin und her auf dem Grase tanzten. Noch erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre, wie mir plötzlich der Gedanke durch's Herz schnitt, daß dieselbe Sonne, welche am 30sten Juni so freundlich auf Roger und mich beim Heumachen herabgelächelt, im selben Augenblicke mit ihren glühenden Strahlen auf jene armen, verwundeten Herren am Pranger im Schloßhofe gebrannt, und für uns nicht im Geringsten von ihrer Glorie verloren habe durch den Schmerz, welchen sie, einem Feuerofen gleich, Jenen verursachte. Und wenn dieser furchtbare Baum auf der Zeichnung Wahrheit war, mußte man nicht von Gott dasselbe glauben?

Eine geraume Weile ertrug ich stillschweigend die ganze Wucht dieses furchtbaren Gedankens. Trotz dem warmen Sonnenscheine schüttelte mich ein eiskalter Schauer. Endlich jedoch vermochte ich es nicht länger zu ertragen, und fast bange, meine Worte zu hören, flüsterte ich meinem Bruder zu:

»Ach, Roger! warum hat doch Gott den Teufel nicht getödtet?«

In diesem Augenblick wurde der Baum heftig geschüttelt und in sprachlosem Entsetzen hielt ich mich an Roger fest. Das dichte Laub, welches uns umgab, verhinderte mich zu sehen, woher der Stoß kam. Ich zitterte bei dem Wiederhall meiner eigenen Stimme. Die düstern Gedanken in meiner Seele schienen den hellen Mittag mit namenlosem Schrecken zu umnachten. Allein Roger beugte sich von seinem Aste hinab und rief:

»Base Placidia! Pfui, schäme Dich! Du hast den Baum mit Fleiß geschüttelt. Ich hörte die Aepfel fallen und nun sammelst Du sie auf. Das heißt betrügen!«

Denn das gefallene Obst gehörte uns Kindern.

Placidia erwiderte in sanftem, unbewegtem Tone:

»Ich stieß ganz unversehens an den Stamm des Baumes und es mag sein, daß ich ihn ein wenig stärker schüttelte als nöthig war, da ich hörte was Olivia sagte. Das war eine recht gottlose Rede, die ich Tante Dorothea hinterbringen werde.«

»Du magst es sagen, wem Du willst,« entgegnete Roger mit Entrüstung. »Olivia hatte nichts Böses damit gemeint. Du bist grausam genug, um in der Sternkammer zu sitzen, Placidia!«

»Sie ist gerade wie unsere große, graue Katze,« fuhr er zu mir gewendet fort, als sie hinwegschlich; »mit ihrem sanften, geräuschlosen Wesen und der Heimlichkeit und Beharrlichkeit, mit der sie ihre Interessen verfolgt. Als voriges Jahr unser Hühnerstall abbrannte, und die Truthähne kreischten und die Hühner gackerten, und ein Jeder herumrannte, um so viel als möglich zu retten, sah ich, wie die graue Katze in einem Winkel ein armes versengtes Hühnchen verzehrte und sich behaglich die Schnauze leckte. Ich glaube wirklich, sie bildete sich ein, das Ganze sei nur angestellt worden, um ihr Abendessen zu braten. Und gerade so würde es Placidia auch machen. Wenn London in Flammen stünde und sie dort wäre, ich glaube wahrhaftig, sie würde es einzurichten wissen, um ihr Abendessen auf der glühenden Asche zu braten. Und was mich am meisten ärgert, ist daß sie meint, Niemand durchschaue sie!«

Roger wurde sonst nicht leicht heftig; aber Placidia war ein beständiges Aergerniß für uns beide. Gewisse kleine Unredlichkeiten an ihr, die man nicht gerade Betrug, gewisse Unzartheiten, die man nicht Unverschämtheit, und Verdrehungen und Ausflüchte, die man nicht ganz Lügen nennen konnte, erregten stets seinen größten Zorn, besonders wenn ich, wie dies sehr häufig der Fall war, dabei verlieren oder leiden mußte.

»Glaubst Du, daß sie es wirklich der Tante sagen wird?« fragte ich; denn an demselben Morgen hatten wir uns gestritten; sie hatte mich in den Arm gekniffen, wo es nicht zu sehen war, und ich hatte sie darauf, zu meiner Schande, in den Finger gebissen, wo man es sehen konnte.

»Ich weiß nicht, und mache mir auch nichts daraus,« versetzte Roger stolz. »Was hilft's, sich darum zu bekümmern? Ich vermuthe, wir müssen alle ein gewisses Maaß von Strafe aushalten, Olivia, das uns hoffentlich für die Zukunft zu Gute kommt, wenn wir es auch in der Vergangenheit nicht verdient haben. Wenigstens ist dies Tante Dorotheens Ansicht. Fahre nur jetzt fort mit dem, was Du vorhin sagen wolltest.«

So kehrte ich denn zu meiner Frage zurück.

»Ach, Roger! ich möchte wissen, warum Gott nicht gleich im Anfange den Teufel vernichtete oder ihn nicht wenigstens aus dem Garten fern hielt. Denn dann würde nichts Schlimmes geschehen sein. Eva würde nicht die verbotene Frucht gegessen haben. Herr Prynne und Dr. Bastwick wären nicht an den Pranger gestellt worden. Und ich würde mich höchst wahrscheinlich nicht mit Placidia gezankt haben, weil sie mich dann nicht so gereizt hätte.«

»Warum Vater auch nur Base Placidia in's Haus genommen hat, die uns immer zum Bösen verleitet!« sagte Roger.

»Du weißt, daß sie eine Waise ist, und daß Jemand sich ihrer annehmen muß,« versetzte ich. »Ueberdieß hat Vater gewiß seine guten Gründe, nur daß wir sie nicht kennen.«

»Und so hat Gott sicher seine Gründe,« sagte Roger mit Ehrfurcht; »nur kennen wir sie nicht.«

»Aber der Teufel ist ganz böse,« entgegnete ich, »und wird nie besser werden; allein Base Placidia kann sich noch ändern. Gott kann den Teufel nicht um seinetwillen verschont haben, denn er wird ja immer schlimmer; und ich sehe nicht ein, warum Er es um unsertwillen gethan haben sollte.«

»Der Teufel war nicht immer der Teufel, Olivia,« sagte Roger nach einigem Nachdenken. »Er war anfänglich ein Engel.«

»Aber, Roger,« rief ich eifrig, denn diese Zweifel lasteten schwer auf meiner Seele, »warum hat Gott den Teufel denn nicht verhindert, ein Teufel zu werden? Dies wäre noch das Allerbeste gewesen.«

Roger gab keine Antwort.

»Es kann nicht darum sein, weil Gott es nicht vermocht hätte,« fuhr ich fort, »denn Tante Dorothea sagt, Er könne Alles thun, was Er will. Und es ist unmöglich, daß Er es nicht gewollt hat; denn Tante Gretchen sagt, es sei Ihm ganz zuwider, Jemand böse oder unglücklich zu sehen. Es muß aber einen Grund haben, und wenn wir diesen wüßten, müßte, däucht mir, alles Andere klar werden.«

»Ich kann den Grund nicht einsehen, Olivia,« sagte Roger nach einer langen Pause, »nicht im Mindesten. Ich hörte einmal zwei oder drei Personen mit Vater und Tante Dorothea über diesen Punkt streiten, und ich glaube, Jedes meinte, ihn erklärt zu haben. Aber Keines war mit der Ansicht des Andern einverstanden. Und je länger der Streit dauerte, desto längere und gelehrtere Wörter gebrauchten sie. Allein sie konnten sich nicht vereinigen und wurden endlich so heftig, daß ich das Ende gar nicht hörte. Wenn ich aber in ein paar Jahren nach Oxford komme, will ich mir Mühe geben, den Grund zu erforschen, und sobald ich ihn gefunden habe, werde ich ihn Dir mittheilen.«

»Aber das ist für mich gar nicht die größte Schwierigkeit, Olivia,« begann er nach einer kleinen Pause von Neuem. »Denn wenn wir oder die Engel Personen und nicht Dinge sein sollten, so sehe ich nicht ein, wie man uns hindern konnte, Unrecht zu thun, wenn wir Lust dazu hatten. Das größte Räthsel für mich ist, warum wir irgend etwas thun, oder ob wir es unterlassen könnten, mit einem Worte, ob wir überhaupt Personen und keine Puppen sind.«

»Freilich sind wir keine Puppen, Roger,« sagte ich. »Freilich können wir unterlassen, gewisse Dinge zu thun, wenn wir nur wollen. Das scheint mir gar nicht räthselhaft. Ich hätte es unterlassen können, Placidia in den Finger zu beißen, wenn ich gewollt – das heißt, wenn ich mir Mühe gegeben hätte. Und gerade darin besteht ja das Unrecht.«

»Aber Du wolltest nicht,« sagte Roger, »und darum unterließest Du es nicht. Was sollte Dir aber den Willen geben, es zu unterlassen?«

»Wenn ich gut und fromm gewesen wäre, hätte ich Placidia nicht weh thun mögen, so sehr sie mich auch reizte,« erwiderte ich.

»Und was heißt gut sein?« fragte er.

»Gerne recht thun,« versetzte ich, »ist, denke ich, gut sein.«

»Aber was soll Dir Lust machen zum Rechtthun?«

»Natürlich das Gutsein,« sagte ich, indem ich mich in einen Wirbel verwickelt fühlte.

»Das heißt sich beständig in einem Kreise herumdrehen und zu keinem Ende kommen,« sagte Roger. »Aber abgesehen von Recht und Unrecht, was treibt Dich an, etwas zu thun?«

»Weil ich mag,« sagte ich, »oder weil ein Anderes es wünschte.«

»Aber was macht, daß Du magst?« sagte er. »Warum mochtest Du zum Beispiel heute Nachmittag hierher kommen?«

»Weil Du es wünschtest, und weil es ein schöner Nachmittag war, und weil wir es immer zu thun pflegen, wenn das Wetter schön ist,« antwortete ich.

»Du hattest also Lust, weil Etwas in Dir Dich antrieb, gefällig gegen mich zu sein, und weil die Sonne schien. Dies Alles konntest Du nicht hindern, daher konntest Du dich nicht enthalten, es zu mögen; und daher hattest Du eigentlich gar keine Wahl.«

»O doch, Roger, ich hatte wohl die Wahl,« entgegnete ich. »Ich hätte mürrisch sein und Lust haben können, Deinen Wunsch nicht zu erfüllen.«

»Aber Du bist nicht mürrisch; Du bist im Ganzen gut gelaunt; und daher konntest Du Dich nicht enthalten, mir gerne einen Gefallen zu erweisen.«

»Ich bin aber oft mürrisch gegen Placidia,« sagte ich.

»Das kommt daher, weil Du, wie Tante Gretchen sagt, denselben lebhaften, aber sanften Charakter hast, wie unsere Mutter,« erwiderte er. »Und das ist noch ein weit größeres Räthsel, weil es noch weiter zurückführt bis auf den Charakter unserer Mutter – und wenn dem so ist, wer weiß wie weit noch, – wahrscheinlich bis auf Eva.«

»Aber manchmal, wenn Du so redest, fühle ich mich versucht, selbst gegen Dich mürrisch zu sein, Roger. Aber ich ziehe es vor, gelassen zu bleiben, und ich bin es doch selbst, die es vorzieht, und nicht mein Charakter oder der meiner Mutter.«

»Weil der eine Beweggrund, welcher Dich antreibt, gelassen zu sein, stärker ist, als der andere, der Dich reizt, mürrisch zu werden,« sagte er. »Es ist immer Etwas vor Deinem Entschluß, was denselben bestimmt, so daß Du gerade das vorziehen mußt, was Du vorziehst, und so hast Du eigentlich gar keine Wahl.«

»Ich habe wohl die Wahl, Roger,« behauptete ich. »Sieh', jetzt will ich von diesem Baume herunterspringen, so – und nach Hause gehen.«

»Dies beweist noch gar nichts,« sagte er, mit einer Kaltblütigkeit mir folgend, die mich ärgerte. »Du willst vom Baume herunterspringen, weil Du ein eigensinniges Gefühl in Dir hast, das Dir diesen Entschluß eingibt; und das ist ein Theil Deines Charakters, der sich wahrscheinlich bis auf Eva zurückführen läßt – eben ein Beweis für die Wahrheit meiner Behauptung.«

»Ich sollte nicht die Freiheit haben, Recht oder Unrecht, oder irgend Etwas zu thun, Roger!« rief ich. »Dann könnte ich eben so wohl ein Pferd, oder ein Baum oder ein Stein sein!«

»Das könntest Du vermuthlich,« antwortete Roger trocken.

»Gibt es denn gar keine Lösung für dieses Räthsel, Roger?« fragte ich.

»Ich sehe keine,« sagte er, »wenigstens nicht durch Nachdenken. Mir scheinen im Gegentheil die Räthsel gar kein Ende zu nehmen, wenn man einmal zu denken anfängt.«

Roger schien sich übrigens aus diesen Zweifeln gar nichts zu machen, sondern sich vielmehr darüber zu freuen, als ob es ein geistiges Ballspiel wäre.

Ich dagegen fühlte mich sehr verwirrt und gedrückt; denn ich kam mir beinahe selbst wie ein Ball vor, der ohne Ende hülflos hin- und hergeworfen wird, und fühlte mich sehr unglücklich.

Zur Zeit des Abendessens kamen wir nach Hause zurück, mit dem unbestimmten Gefühl, daß ein Richterspruch über unsern Häuptern schwebe. Tante Dorothea erwartete uns unter dem Hofthore mit einer Gerte in der Hand.

»Ihr unartigen Kinder!« rief sie uns zu; »Placidia sagt, sie habe gehört, wie Ihr auf dem Apfelbaume ruchlose Reden führtet und den heiligen Namen Gottes mißbrauchtet.«

»Ich habe nicht sowohl von Gott gesprochen, Tante Dorothea, als vom Teufel,« sagte ich in großer Verwirrung.

»Das ist ja noch schlimmer,« erwiderte sie, »das heißt geradezu schwören. Das ist so gottlos wie die Reden der Cavaliere am Hofe. Halte Deine Hand her, Roger! und Du, Olivia, gehst sogleich ohne Abendessen zu Bette.«

Roger verschmähte es, sich zu vertheidigen und empfing, ohne eine Miene zu verziehen, drei scharfe Hiebe. Erst nachher sagte er:

»So, jetzt werde ich Vater erzählen, daß Placidia die Aepfel gestohlen hat, und Olivia zu ihrem Rechte verhelfen.«

»Du wirst Deinem Vater nichts sagen, kleiner Herr,« entgegnete Tante Dorothea. »Ich habe Placidia wegen ihres Anklagens schon vor drei Stunden zu Bett geschickt und ihr das Kapitel aus den Sprüchen Salomons aufgegeben. Und Du wirst Dich jetzt hinsetzen und dasselbe lernen, und Ihr beide müßt es mir morgen vor dem Frühstück hersagen.«

Dies hielt Tante Dorothea für unparteiische Gerechtigkeit. Die Zeit, pflegte sie zu sagen, sei zu kostbar, um dieselbe damit hinzubringen, daß bei Kinderstreitigkeiten erst lange untersucht werde, wer Recht habe; und bei der allgemeinen Verderbniß der menschlichen Natur könne man sicher annehmen, daß jede Anklage auf irgend einem wahren Grunde beruhe, und daß jeder Ankläger einen unrechten Beweggrund habe. Bei allen Streitigkeiten, sagte sie, werde auf beiden Seiten gefehlt. Darum bestrafte sie ohne weitere Untersuchung Kläger und Angeklagte mit gleicher Strenge. Ich habe seitdem bemerkt, daß einige Leute, welche sich das Ansehen unparteiischer Historiker zu geben bemühen, denselben Plan verfolgen. Aber es hat mir von den Historikern so wenig als von Tante Dorothea ganz billig geschienen. Das Gute jedoch, ich muß es gestehen, hatte Tante Dorotheens Weise, die Gerechtigkeit zu handhaben, daß nämlich den häufigen Anklagen gesteuert wurde. Nur ein ungewöhnlich heftiger Rachedurst, oder ein besonders lebhaftes Gefühl erlittenen Unrechts konnte uns antreiben, eine Klage zu erheben, für die, wie wir wohl wußten, der Kläger eben so streng bestraft wurde wie der Angeklagte. Und wenn auch unser Gerechtigkeitsgefühl nicht befriedigt war und Roger und ich daher einen ständigen Beschwerde-Ausschuß bildeten, so wurde doch durch dieses System der Hausfriede sehr befördert. Selbst die erbitternde Wirkung wurde häufig durch die Gegenwart entgegenwirkender Elemente gemildert.

Noch lag ich, den in Tante Dorothea verkörperten Beschlüssen der Gerechtigkeit gemäß, nicht lange zu Bette, als in Tante Gretchen's Gestalt die Barmherzigkeit an mein Lager trat, um meine Wunden zu verbinden.

»Mein kleines Olivchen,« sagte sie, sich auf den Rand meines Bettes setzend, »was hast Du denn gesagt? Du wolltest doch gewiß kein undankbares Wort gegen unsern lieben Herrn und Heiland aussprechen?«

Hierauf verbarg ich mein Gesicht in die Bettücher und schluchzte so heftig, daß das Bett davon erschüttert wurde.

Sie ergriff meine Hand, beugte sich über mich und sagte liebevoll:

»Arme Kleine! Dein Herzchen darf nicht brechen. Der gute Herr wird Dir verzeihen, Olivia, Alles verzeihen! Sage mir, was es ist, mein Herzenskind, sei nicht bange!«

Ich schluchzte noch immer; dann fuhr sie fort:

»Wenn Du es mir nicht sagen kannst, so sage es dem lieben Heilande. Er ist viel milder als Deine arme Tante Gretchen und kennt Dich besser. Nur fürchte Dich nicht vor Ihm. Nichts betrübt Ihn mehr als Mißtrauen, mein süßes Herz; nur dies nicht.«

Nun wurde ich ein wenig ruhiger und schluchzte:

»Gewiß, Tante Gretchen, ich dachte nichts Gottloses dabei. Aber es ist so schwer zu verstehen. Es gibt so Vieles, das ich nicht begreifen kann. Ach! wenn ich auf der unrechten Seite des Baumes wäre! Auf der bösen Seite des Baumes!«

Bei diesem Gedanken brach mein Schluchzen auf's Neue aus.

Tante Gretchen war sehr bestürzt. Sie fragte:

»Welches Baumes, mein Kind? Wohin verirrt sich Dein armes Gehirn?«

»Des Baumes, an dessen Anfang Gott ist und der auf der einen Seite in den Himmel, auf der andern in die Hölle führt, ohne daß ein Weg von einer Seite zu der andern geht, wenn man einmal auf die schlimme Seite gerathen ist; so daß es scheint, als kümmere sich Gott gar nicht darum, ob man in den Himmel oder in die Hölle komme.«

»Von einem solchen gottlosen Baume habe ich nie gehört,« entgegnete Tante Gretchen. »Der einzige Baum in der Bibel ist der Baum des Lebens. Und von diesem will der liebe Heiland Jedem, der zu Ihm kommt, reichlich die Frucht des Lebens und die heilenden Blätter mittheilen.«

»Wenn es nur einen Weg gäbe von einer Seite zur andern!« sagte ich; »und wenn ich nur gewiß wüßte, daß Gott sich um uns kümmert!«

»Es gibt einen Weg, mein Lämmchen,« erwiderte sie. »Aber es ist kein Weg, sondern nur ein Schritt. Es ist ein Blick, eine Berührung. Denn der Weg hinüber ist der liebe Heiland selber. Und Er ist Dir stets näher, als ich Dir jetzt bin, wenn Du Ihn nur sehen könntest.«

»Und ist es Gott wirklich nicht gleichgültig, ob wir selig oder verdammt werden?«

»Gleichgültig! Olivchen!« rief sie aus. »Hast Du denn die Krippe und das Kreuz vergessen? So geht's wenn man bis zum Anfang zurücksehen will. Er war im Anfang, aber weder Du noch ich! Er ist jeden Tag und in alle Ewigkeit der Anfang für uns. Blicke auf zu Ihm. Sein Angesicht leuchtet Dir, bewacht Dich so Liebevoll wie das Auge Deiner Mutter, Du armes mutterloses Lämmchen! Was auch sonst dunkel sein mag, dies ist klar. Und Du hast nie die Absicht gehabt, Ihn zu betrüben oder an Ihm zu zweifeln. Du wolltest nicht sagen, die Dunkelheit liege an Ihm, Olivia! So hast Du es gewiß nicht gemeint. Mag es sonst dunkel sein, wo es will, nur nicht bei Ihm. Freilich gibt es Dunkelheit genug. Aber in Ihm ist keine.« Hierauf murmelte sie halb leise vor sich hin: »Es ist höchst sonderbar, Dr. Luther hat doch vor hundert Jahren Alles so deutlich erklärt. Und jetzt scheint es, daß man wieder Alles von vorne anfangen muß.«

»Hast Du gebetet, mein Lämmchen?« setzte sie sanft hinzu.

Ich hatte es gethan. Allein es war mir süß, noch einmal mit Tante Gretchen niederzuknieen, von ihren Armen umschlungen und ihrem warmen Kleide bedeckt, und ihr die Worte nachzusprechen – das Vaterunser und das Gebet für Vater, Roger und Alle.

Als ich jedoch um Segen für Base Placidia bitten sollte, vermochte ich die Worte nicht über die Lippen zu bringen.

»Du hast nicht für Deine Base gebetet, Olivia,« sagte Tante Gretchen.

»Es ist so schwer, sie zu lieben, Tante,« erwiderte ich; »sie macht oft, daß ich Unrecht thue. Und ich habe sie diesen Morgen in den Finger gebissen.«

Tante Gretchen schüttelte mit dem Kopfe.

»Arme Kleine!« sagte sie. »Ach ja, es ist freilich immer am schwersten denen zu vergeben, denen wir weh gethan haben.«

»Aber sie hat mich in den Arm gekniffen, wo es Niemand sehen konnte,« versetzte ich.

»Es wird Dir wenig helfen, daran zu denken, armes Lamm!« sagte Tante Gretchen. »Was Du zu thun hast, ist zu verzeihen. Denke an etwas, das es Dir erleichtern kann.«

»Mir fällt nichts ein, das mir's erleichtern könnte,« entgegnete ich.

»Hast Du den Wunsch, daß Deiner Base etwas recht Trauriges widerfahre?« fragte Tante Gretchen nach einer Pause. »Würdest Du ein Unglück für sie erbitten, wenn Du es könntest?«

»Nein, nicht von Gott,« erwiderte ich. »Ich könnte natürlich nichts Böses von Gott erbitten.«

»Oder möchtest Du Deinen Vater bitten, sie, die arme vernachlässigte Waise, fortzuschicken?«

»Nein, nein, Tante Gretchen,« sagte ich, »das auch nicht. Aber ich wollte, daß sie von Tante Dorothea gestraft würde.«

»Wie hart?« fragte Tante Gretchen.

»Das kann ich nicht genau sagen. Nur so hart als sie es verdient.«

»Das wäre sehr hart für uns Alle,« sagte sie; »und wahrscheinlich auch für Dich ein bischen härter, als einmal ohne Nachtessen zu Bette zu gehen.«

»Nun denn, nur bis sie gut wäre,« sagte ich.

»So wünschest Du also, daß Deine Base gut werden möchte?« sagte Tante Gretchen. »Dann kannst Du wenigstens darum beten.«

»Ich glaube, das Haus würde ein wahres Paradies sein, ehe der Versucher darein eintrat,« versetzte ich, »wenn Base Placidia nicht so garstig wäre.«

»Meinst Du?« sagte sie ernst. »Bist Du denn immer so gut und fromm? Nun da kannst Du ja bitten, daß Gott Deiner Base ihre Schulden verzeihen möge, wenn Du ihr auch nicht selbst vergeben kannst, und für keine eigenen Schulden um Verzeihung zu bitten hast!«

»Ach, Tante Gretchen!« sagte ich, plötzlich verstehend, was sie meinte, »jetzt sehe ich es ganz klar ein! Das Stückchen Eis in meinem eigenen Herzen hat mir Alles dunkel und kalt gemacht. Es war das Eis in meinem eigenen Herzen!«

Sie lächelte und drückte mich an ihr Herz.

Und dann betete sie nochmals für die verwaiste Placidia und für mich und Roger, daß Gott in seiner großen Gnade uns segnen, uns vergeben und uns gut und liebevoll, Ihm und Seinem lieben Sohne ähnlich machen möchte, der für uns gelitten und unsere Sünden hinweg genommen hat.«

Und von da an lag mir nicht mehr so sehr daran, daß Roger die versprochene Antwort von Oxford bringen möchte.

Auf einen Augenblick fuhr mir der Gedanke durch den Sinn, daß auch Rogers anderes Räthsel ein und derselben Quelle entsprungen sein möchte, aus demselben Punkte entspringen könnte; daß die Ueberzeugung, nicht Dunkelheit, sondern Licht, nicht Nothwendigkeit, sondern Liebe sei der innerste Grund von Allem, jede Frage lösen müsse. Denn Liebe ist vollkommene Freiheit und zugleich unvermeidliche Nothwendigkeit.

Ehe ich jedoch einschlief, während Tante Gretchen noch mit ihrem Strickzeug an meinem Bette saß, hörte ich sie bei sich selbst sagen:

»Nein, es ist doch am Ende nicht so sehr seltsam – gar nicht so seltsam, obgleich Dr. Luther es vor hundert Jahren so klar gemacht hat wie Sonnenschein. Es ist das Eisstückchen im Herzen – das immer wieder auf's Neue gefriert.«

Allein Tante Dorothea hatte nach reiflicher Ueberlegung während der Nacht gefunden, daß die Geschichte mit dem Apfelbaum doch zu wichtig war, um dieselbe, wie die meisten unserer kindischen Händel, mit Stillschweigen zu übergehen, ohne meinen Vater damit zu belästigen.

Wir wurden also den folgenden Morgen in das Arbeitszimmer meines Vaters gerufen, wo er als Grundbesitzer die Zinsen seiner Pächter einzog, als Magistrat die Uebelthäter verurtheilte und seine Gesetzbücher so wie eine Menge Folianten über Theologie, Philosophie und andere Dinge verwahrte. Mir war sehr feierlich und bang zu Muthe an jenem Morgen, da mein Gewissen mir vorwarf, absichtlich etwas Böses gethan zu haben, und ich nicht wußte, wie Vieles ich mir noch vielleicht absichtlos hatte zu Schulden kommen lassen.

Allmählig wußte er uns, während Roger und ich auf der andern Seite des Tisches standen, so daß die Gesetzbücher und die mathematischen Instrumente, auf die mein Vater so viel hielt, sich zwischen uns befanden, den Gegenstand unserer Unterredung abzufragen.

Da rief er mich zu meinem Erstaunen, als wir unser Urtheil erwartend dastanden, liebevoll an seine Seite, setzte mich auf seine Kniee und deutete auf ein Papier, das er über einen großen Folianten, der offen vor ihm lag, ausgebreitet hatte. Die Sonne und die Planeten nebst den vier Trabanten des Jupiter und die Erde mit dem Monde waren darauf abgebildet; das Ganze schien äußerst complicirt durch viele geheimnißvoll verschlungene Linien und Kreise.

»Olivia,« sagte er, »sei so gut, mir dies zu erklären. Ein Herr hat es gemacht, der bei dem großen Astronomen Galilei gelernt hat. Diese Figur soll erklären, wie es kommt, daß die Erde und die Sonne an ihrem Platze bleiben.« Ich sah zuerst die complicirten Linien und Figuren und geheimnißvollen Zeichen an, dann blickte ich meinem Vater in's Gesicht um zu sehen, was er meine.

»Du verstehst es also nicht!« sagte er anscheinend verwundert.

»Vater,« sagte ich, »was kann ein Kind wie ich!«

»Und doch ist dies nur eine Zeichnung von einem kleinen Stückchen von der Welt, Olivia; nur die Sonne und die Erde und ein Paar Planeten in dem Winkelchen der Welt, worin wir leben. Das ganze Weltall ist noch weit schwerer zu verstehen als dieses.«

»Vater,« sagte ich beschämt erröthend, »ich habe auch nie gedacht, ich könnte selbst diese Dinge verstehen, wenigstens jetzt noch nicht; ich dachte nur, Du oder andere weise und gelehrte Leute könnten sie erklären.«

»Olivia,« sagte er zärtlich und andächtig, indem er mein Haupt streichelte, »vor den großen Geheimnissen, auf die Ihr Beide Du und Roger gerathen seid, kann ich selbst nur staunen und warten und wie Du sprechen: ›Vater, was weiß ein Kind wie ich!‹ Und ich glaube, selbst der große Galilei könnte nicht viel mehr thun.«

Allein zu Roger sagte er, die Hand auf seine Schulter legend:

»Uebe Deinen Verstand so viel Du kannst, mein Junge; aber zweierlei Wege rathe ich Dir am meisten zu vermeiden: die einen, welche an den Rand der großen Dunkelheit führen, die unser kleines Fleckchen Licht rings umher begränzt, und die andern, welche immer im Kreise herumführen und Dich nach vieler Arbeit immer auf denselben Punkt zurückbringen, von dem Du ausgegangen bist. Ich sage nicht, daß Du diese nie betreten sollst; Du wirst es nicht immer verhüten können. Auch glaube ich nicht, daß Du es immer verhüten möchtest, selbst wenn es Dir möglich wäre. Ich halte es für eines unserer herrlichsten Gnadenmittel, zuweilen, wenn der Schleier unseres Tageslichts hinweg gezogen ist, allein dazustehen und hinauszuschauen in die unermeßlichen Räume der Nacht; ein demüthigender und erhebender Anblick, wenn wir bedenken, daß es nur bei uns auf der Erde Nacht ist, aber nicht auf den Sternen, die wir betrachten. Allein hauptsächlich rathe ich Dir, Deine Kräfte auf solchen Wegen zu üben, die zu einem bestimmten Ziele führen. Diese Uebung ist ebenso wohlthätig und der Erfolg weit günstiger.« Mit diesen Worten war er im Begriffe, uns zu entlassen.

Tante Dorothea war jedoch mit seiner Ermahnung gar nicht zufrieden. »Dieser Signor Galilei war ein höchst gefährlicher Mensch,« sagte sie. »Er behauptete, die Sonne stehe still und die Erde drehe sich, was in vollständigem Widerspruche mit dem gesunden Menschenverstand, mit unsern Sinnen und der Heil. Schrift sei und wenn Kinder, wie Roger und ich, schon in solch falsche Philosophie eingeweiht würden, wohin sollte es erst mit uns kommen, bis wir ihr Alter erreicht hätten.«

»Nicht viel weiter, Schwester Dorothea,« sagte mein Vater, »und wenn sie so alt würden, wie Methusalah. Nicht viel weiter in der Frage, und nicht viel näher der Antwort.«

»Ich finde die Frage gar nicht schwer zu beantworten,« entgegnete Tante Dorothea. »Der Allmächtige thut Alles, weil es Sein Wille ist. Und wir können nichts thun, als was Er uns will thun lassen. Dies beantwortet zugleich Olivia's und Roger's Fragen. Alle Zweifel sind Sünde und sollten gleich im Entstehen unterdrückt werden.«

»Wie wolltest Du dies anfangen, Schwester?« fragte mein Vater. »Schon Viele haben es versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen.«

»Wie! Das ist die allereinfachste Sache von der Welt,« behauptete Tante Dorothea. »Vor allen Dingen gebt den Leuten zu arbeiten, so daß sie keine Zeit haben, an solch thörichte Fragen, Geschlechtsregister und Streitigkeiten zu denken.«

»Ein vortrefflicher Plan, der bei der ganzen Menschheit allgemein angewendet zu sein scheint,« erwiderte Vater. »Es ist gnädig dafür gesorgt, daß nur Wenige Zeit für solche Fragen haben. Was würdest Du weiter thun?«

»Für Kinder ist die Ruthe ein gutes Mittel,« sagte Tante Dorothea. »Wenn sie zur Vernunft gekommen, würden sie es Einem danken.«

»Das ist ganz die Ansicht des Papstes und des Erzbischofs Laud,« versetzte mein Vater; »darum haben sie die Inquisition und die Sternkammer eingeführt.«

»Ich hätte nichts, weder gegen die Inquisition noch gegen die Sternkammer,« sagte Tante Dorothea, »wenn sie nur die rechten Leute bestrafen wollten.«

»Aber zuweilen lernen wir einsehen, daß wir im Irrthum waren,« sagte Vater, »wie können wir wissen, daß wir in Allem vollkommen Recht haben?«

» Ich weiß es,« erwiderte Tante Dorothea mit Nachdruck. »Dem Himmel sei Dank; ich habe gar keine Zweifel. Ketzerei ist schlimmer als Verrath; denn sie ist Verrath gegen Gott, und ärger als Mord, denn sie mordet unsterbliche Seelen. Der Fehler besteht darin, daß der Papst und der Erzbischof Laud selbst Ketzer sind und die unrechten Leute bestrafen.«

Dies war ein sehr häufiger Gegenstand des Streites zwischen meinem Vater und Tante Dorothea; allein heute wurden sie glücklicher Weise durch das Stampfen eines Pferdes auf dem Pflaster im Hofe unterbrochen.

Das Gesicht meines Vaters erheiterte sich; er stand rasch auf, indem er ausrief: »Ein willkommener Gast, Schwester, der Herr von dem Marschland! Decke den Tisch in der getäfelten Wohnstube.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und wir Kinder sahen einen uns sehr wohl bekannten, großen, kräftigen Herrn, mit gesundem, sonnverbranntem Gesichte vom Pferde steigen.

»Ein rechter Herr vom Marschland!« murmelte Tante Dorothea enttäuscht, als sie zum Fenster hinaussah. »Weiter Niemand als Herr Oliver Cromwell von Ely, wie gewöhnlich in einem schmutzigen Rock und einem Hut ohne Band. Ich bin gewiß so sehr wie nur irgend Einer gegen allen Tand. Wenn es nach meinem Kopfe ging, würde im ganzen Königreich kein Wamms mit geschlitzten Aermeln, keine beränderte Hose, keine Feder noch Spitze zu sehen sein. Aber Alles mit Vernunft. Ein Edelmann sollte aussehen wie ein Edelmann und ein Hut ohne Band geht bei aller Gewissenhaftigkeit denn doch zu weit. Das getäfelte Wohnzimmer, wahrhaftig! Dabei sind seine Stiefel mit Koth überzogen, und ich wette darauf, daß es ihm nicht einfallen wird, sie auf dem Strohboden in der Halle abzuputzen. Und dann werden sie, wer weiß wie lange, von dem ewigen Entwässern der Moore reden. Ich begreife nicht, warum sie nicht die Moore Moore sein lassen wollen. Sie waren, so wie sie immer waren, für unsere Väter gut genug, und die waren bessere Leute, als man heutzutage sieht; und wenn der Allmächtige die Moore naß schuf, so wollte er sie vermutlich naß haben, und man sollte sich hüten, sich Seinem Willen zu widersetzen. Auch heißt es, der König sei dagegen, oder gegen Jemand, der dabei betheiligt ist, daher ist gar nicht abzusehen, wohin dieß noch führen kann. Ganz Schottland ist in Aufruhr, die Gottesfürchtigen schmachten im Gefängniß und unser Pfarrer wirft jeden Sabath einen neuen bunten Mantel über und fängt neuen Firlefanz an, während ein gottseliger Herr wie Oliver Cromwell (denn daß er dies ist, will ich gar nicht läugnen), nichts Besseres zu thun weiß, als ein Paar Morgen trockenes Land aus den Sümpfen zu pressen!«

Allein Roger flüsterte mir zu:

»Herr Hampden sagt, wenn es zum Schlimmsten und mit dem König zum Bruch käme, würde Herr Oliver Cromwell der bedeutendste Mann im Königreiche sein!«

In diesem Augenblicke wurde Roger von meinem Vater gerufen und durfte, zu seiner großen Freude, ihn und seinen Gast durch das Gut begleiten.

Hierüber steht in meinem Tagebuche:

»Herr Oliver Cromwell von Ely war gestern bei uns. Roger ging mit ihm und Vater auf dem Gute herum. Ihr Gespräch drehte sich um zwanzig Schillinge, welche der König Herrn Hampden von Groß-Hampden zwingen möchte, ihm zu leihen, was dieser nicht thun will; nicht daß er es nicht vermöchte, sondern weil der König alsdann Jeden zwingen könnte, ihm Geld zu leihen, ob er wollte und die Mittel dazu hätte oder nicht. Man nennt dies das Schiffs- oder Tonnengeld. Auch von einigen frommen Männern, Predigern oder Vorlesern war die Rede, die Herr Cromwell anzustellen wünschte, damit sie dem Volke an solchen Stellen, wo Niemand predigt, das Evangelium verkünden, die aber der Erzbischof Laud durch Geldbußen und Drohungen zum Schweigen gebracht hat. Tante Dorothea findet, es sei schade, daß gottesfürchtige Leute wie Herr Hampden und Herr Cromwell sich um solch elende weltliche Dinge wie Schillinge und Pfenninge bekümmern. In Bezug auf die Prediger gibt sie ihnen mehr Recht. Nur findet sie es wunderlich, wie sie sagt, daß dieselben mit so geringfügigen Dingen anfangen wollen. Wenn sie sich mit aller Macht dem Papstthum unter falschem Namen und an hoher Stelle widersetzten, so würden die unbedeutendern Dinge sich schon von selbst ordnen. Allein Vater sagt, ärmliche weltliche Dinge seien es gerade, worin wir versucht und erprobt werden, ob wir in dem höhern himmlischen Berufe uns treu beweisen oder nicht. Und alles Große und Dauernde, von der britischen Eiche an bis zum Himmelreiche, habe einen kleinen, unscheinbaren Anfang.«


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