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Die folgende Woche kam Lady Lucia's ältester Sohn Harry mit einem seiner Bekannten, Sir Launcelot Trevor von London zum Besuch aufs Schloß.
Harry Davenant schien mir der gebildetste Edelmann, den ich je gesehen. Er war der erste, der mich Fräulein Olivia nannte und mit einer Ehrerbietung behandelte, als ob ich schon eine Dame gewesen wäre. Seine Stimme, obgleich tief und voll, hatte denselben sanften Wohlklang wie Lady Lucia's.
Er sah stets, was Jedem fehlte, ehe man es selbst bemerkt hatte. Er hörte Einem so aufmerksam zu, als ob er von Jedem etwas zu lernen hätte. Seine ganze Seele schien bei dem zu sein, was er sprach, oder was man zu ihm sagte; und doch schien er noch eine andere Art von dienstthuender Seele, ganz unabhängig von der innern, zu besitzen, welche immer bereit war, Allen, die ihn umgaben, kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Ich vermuthete, daß diese höfliche Aufmerksamkeit ihm zur andern Natur geworden war, so daß er sie beobachten und zugleich sich mit etwas Anderm beschäftigen konnte, so wie wir sprechen und zugleich essen oder gehen können.
Er war der vertrauteste Freund seiner Mutter. Dies war Sir Walter nie. So stürmisch und soldatisch sein Wesen sonst war, gegen seine Gattin benahm er sich stets mit der Ehrerbietung und Zärtlichkeit eines Liebhabers. Allein ihm lag so wenig daran, in ihre Gedanken einzudringen, wie in ihr Betzimmer. Sie hatten einen Theil ihrer Welt gemeinsam, aber bei Weitem den größeren Theil besaßen sie getrennt. Und die jüngern Knaben waren alle, mehr oder weniger, wie er. Allein was Lady Lucia an ihm vermißt haben mochte, ersetzte ihr der älteste Sohn.
Er war ein Cavalier nach ihrem Herzen; – ernst, fromm, gebildet; ein Soldat aus Pflicht, – aber ein Freund von Poesie und Musik und allem Schönen, was Gott und die Menschen gemacht haben. Mit lebhaftem Interesse lauschte ich, zu Lady Lucia's Füßen sitzend, ihren Gesprächen über Musik und Malerei, – über den berühmten flämischen Maler Rubens, welcher den Plafond in dem Banketthause des Königs zu Whitehall gemalt hat, jenem großen, nach Herrn Inigo Jones' Plane ausgeführten Gebäude; und von den Gemälden, welche der König für seine prachtvolle Gallerie gekauft hatte. Er und Lady Lucia sprachen von dem Ankaufe der Cartons von Raphael und der Bilder dieses und anderer großer Meister, wie Titian, Corregio und Giulio Romano, mit solchem Triumph, als ob jedes Bild eine für die Krone gewonnene Provinz gewesen wäre. Auch von dem Maler Vandyke, der die Bildnisse der königlichen Familie und vieler vornehmen Herren und Damen des Hofes malte, sprach er mit dem größten Enthusiasmus. Er brachte ihr sein eigenes, von Vandyke gemaltes Porträt zum Geschenke mit, nur, wie er sagte, um sie zu bestechen, sich für ihn von derselben Künstlerhand malen zu lassen; und mir schien es, Herr Vandyke müsse ein eben so feiner Edelmann sein, wie Harry Davenant, weil er sonst unmöglich die edeln Züge, den ernsten – fast traurigen – Blick der Augen, die langen kastanienbraunen Schmachtlocken, den vornehmen Anstand und das bequeme und doch kostbare Kleid so ähnlich und so edel hätte darstellen können.
Dies Alles war für mich eine ganz neue Art der Unterhaltung; denn Gemälde, besonders religiöse, wie die heilige Familie und die Kreuzigung von den fremden Meistern, welche Harry Davenant beschrieb, waren in unserm Hause nie sehr begünstigt worden.
Besser bewandert war ich, wenn er von Musik und Poesie redete; und als er mit Bewunderung die Maske des Comus von Herrn John Milton erwähnte, erröthete ich wie über das Lob eines Freundes.
Denn in Schloß Davenant wurden meist ganz andere Namen werth gehalten, als in Netherby. So zum Beispiel betrachteten Lady Lucia und ihr Sohn den Erzbischof Laud und Herrn Wentworth (später Lord Strafford) als die beiden Pfeiler des Staates, und ich hatte sie nur nennen hören als Herrn Prynne's Verfolger und die Zerstörer der nationalen Freiheit.
Aber freilich schien die Nation in Harry Davenants Augen von sehr geringer Bedeutung zu sein; er betrachtete sie blos als eine königliche Besitzung mit äußerst lästigen Pächtern, welche man in gehörigem Respekt halten müsse; und die Freiheit, in unserm Hause ein heiliges Wort, klang in seinem Munde, als ob sie nichts Anderes wäre, als ein Vorwand für jede Art von Unordnung.
Mir schien es höchst seltsam, wie Harry Davenant bei seinem verfeinerten Geschmacke mit anscheinendem Vergnügen an der Stier- und Bärenhetze und dem Hahnenkampfe, welche die folgende Woche stattfinden sollten, Antheil nehmen konnte. Allein er sagte, dies seien schöne, altenglische Belustigungen, und man müsse dem Volke zeigen, daß die Politur des Hofes die Höflinge nicht geziert und weibisch mache, oder sie abhalte, sich an diesen männlichen Spielen zu ergötzen.
Sir Launcelot Trevor war ein Mann von ganz anderem Gepräge. Er hatte schöne, kühne Züge, schwarzes Haar, schwarze Augen, eine niedere Stirne und ein Gesicht, dessen scharf contrastirende Farben manche Leute schön finden. Allein es war etwas an ihm, wovor ich schon als Kind zurückbebte, obgleich er Lady Lucien, Lätitia und mir die ausgezeichnetsten Schmeicheleien sagte und Alles bewunderte, was wir sprachen oder thaten. Seine Komplimente klangen mir immer wie Beleidigungen. Wenn Harry Davenant von der Schönheit an Frauen oder Bildern oder der Natur sprach, so fühlte man, daß er sie als etwas mit Gott und der Wahrheit Verwandtes betrachtete, und daß man sie ehren und Gott dafür danken müsse. Sir Launcelot dagegen sprach von der Schönheit wie von etwas dem Staube Verwandtem, das bestimmt ist, betastet, gerochen und gekostet zu werden, um hernach zu welken und zu verderben.
Harry Davenants Bildung war eine Politur, welche, wie bei schönem, altem Eichenholz, die Masern erst recht hervorhebt. Sir Launcelots war dagegen wie eine glänzende Eiskruste über einem stehenden Pfuhl, in dessen schwarze Tiefe man hin und wieder durch einen Riß hinab schauen kann.
Allein ich glaube, sein Benehmen gegen Roger war es vorzüglich, was mir die Augen über sein Wesen öffnete, so daß ich hinter dem sanften Lächeln, welches er uns gegenüber annahm, das höhnische Lächeln zu sehen meinte, womit er Roger so oft anredete. Schon bei der ersten Begegnung schien Jeder von diesen Beiden in dem Andern seinen Gegner zu erkennen.
Zwei Tage nach seiner Ankunft sollte Sir Walters Stier auf einem Felde in der Nähe des Dorfes gehetzt werden.
Lätitia und ich standen eben unter dem Schloßthore, rathschlagend, ob wir gleich zu Lady Lucia gehen und ihr ein gefährliches Abenteuer, dem wir so eben glücklich entkommen, erzählen sollten, oder ob es sie zu sehr erschrecken würde, als wir Stimmen in eifrigem, etwas zornigem Gespräch sich nähern hörten. Zuerst vernahmen wir, wie Sir Walter in etwas spöttischem Tone sagte:
»Laßt den Knaben in Ruhe! Wenn es seinem Vater beliebt, ihn zu einem Mönch oder Krämer zu erziehen, so geht das mich und die Meinigen nichts an.«
Hierauf erwiderte Sir Launcelot in schmeichelndem Tone:
»Behüte der Himmel! Hat nicht dieses Mitleid, welches Herr Roger für Ihren Stier an den Tag legt, etwas höchst Liebenswürdiges? An einem Frauenzimmer wäre es ganz unwiderstehlich. Sollte man nicht fast beklagen, daß die verhärtenden Jahre dieses reizende Zartgefühl nur zu sicher zerstören werden?«
Nun ließ sich Rogers Stimme eintönig und leise, wie immer, wenn er sehr erregt war, vernehmen:
»Ich kann nicht einsehen, daß es männlicher sein soll, einen Stier als einen Maikäfer zu quälen, wenn keiner von Beiden entfliehen kann. Mein Vater sagt, er wolle mit Hahnenkämpfen, Bären- und Stierhetzen nichts zu thun haben, nicht sowohl, weil es rohe, als weil es feige Belustigungen seien.«
Gegen diese Vergleichung protestirten die Knaben mit großer Entrüstung. Einer rief:
»Wenn Du zu zärtlich bist zu einer Stierhetze, wie würde Dir eine Schlacht gefallen?«
In diesem Augenblicke stellte sich die kleine Lätitia, meine süße, edelmüthige Lätitia, wenn sie allein mit ihm war, selbst Rogers ärgster Quälgeist, der ganzen Gesellschaft – ihren fünf Brüdern und Sir Launcelot – entgegen und rief, ihres Vaters Hand ergreifend und in der ihrigen festhaltend:
»Pfui! Schämt Euch, Ihr Alle! Robert, Georg, Roland, Dick und Walter! (Harry war nicht zugegen und Sir Launcelot hatte sie keiner Erwähnung gewürdigt); Ihr alle hetzet Roger. Und das ist schlimmer, als ein Dutzend Stiere zu hetzen. Leide es nicht, Vater! Er hat erst heute, um uns zu beschützen, eine kühnere That vollbracht, als wenn er hundert Stiere mitgehetzt hätte. Er hat sich kaum vor einer Stunde demselben Stier auf der Klosterwiese entgegengestellt. Olivia und ich gingen gerade über die Wiese, da rannte der Stier auf uns zu; Roger sah es, sprang über die Hecke, bot ihm die Spitze, indem er mein Scharlachtuch, das ich hatte fallen lassen, ihm vorhielt und sich so langsam zurückzog, ohne sich umzuwenden, bis wir sicher über dem Zaune außer dem Bereiche des zornigen Thieres waren.«
Mit flammenden Blicken drehte sich Sir Walter gegen Roger und rief, ihm die Hand darbietend:
»Warum hast Du mir das nicht gesagt, mein Junge?«
»Ich dachte nicht, daß es in irgend einer Beziehung zu dieser Sache stünde,« erwiderte Roger ruhig. »Ich wußte nicht, daß mich Jemand für einen Feigling hielt.«
Sir Launcelot zog seinen Federhut ab und verbeugte sich gegen Lätitia.
»Der Himmel sende mir eine so schöne Beschützerin, wenn ich angegriffen werde!«
Sie blickte ihm mit ihren großen, ausdrucksvollen Augen in's Gesicht und sagte unwillig:
»Ich bin nicht Rogers Beschützerin, sondern er war der meine.«
Er lachte, aber nicht auf angenehme Weise.
»Wer würde eine solche Gefahr anschlagen für solchen Lohn!« sagte er.
Nach dieser Scene behandelte er Roger anscheinend mit der tiefsten Ehrerbietung.
»Ein Held und ein Heiliger; ein Don Quixotte und einer von den Frommen, alles in einer Person,« sagte er; »und solch ein Vorbild mit sechzehn Jahren! Was darf England nicht von einem solchen Sohne erwarten!«
Ueberdies legte er Roger beständig Gewissensfragen vor; ob es mit der christlichen Liebe vereinbar sei, Ball zu spielen, da man gehört habe, daß ein Ball einen Mann in's Auge getroffen habe, und zu fürchten sei, ein solcher Fall könnte sich wiederholen? Oder ob er ernstlich glaube, daß es barmherzig sei, Pferden scharfes Gebiß anzulegen, da man beinahe gewiß sein könne, daß es ihnen unangenehm sei; oder ob er gewisse Reiterkünste nicht für unheilig halte, da die Mauren sie nach Europa gebracht hätten; oder ob nicht ein Bibelspruch das Reiten auf Pferden überhaupt verbiete?
In Harry Davenants Gegenwart wagte er nicht, solche Spöttereien zu sagen. Allein gewöhnlich wußte er dieselben mit einer so verschmitzten, gutlaunigen Miene vorzubringen, daß die Knaben mitlachen mußten, und Roger, dem kein so schneller, geübter Witz zu Gebote stand, nur vor Entrüstung erröthete und sich dann über sich selbst ärgerte, daß er das rasch in die Wangen steigende Blut nicht bemeistern konnte, welches immer verrieth, daß er sich getroffen fühlte.
Sir Launcelot besaß viele Eigenschaften, welche ihm bei den Knaben Ansehen verschafften; seine große Gleichgültigkeit gegen Ausgaben, unterstützt durch Fortunens Beutel, das heißt eine unbegrenzte Leichtigkeit, Schulden zu machen, galt für Freigebigkeit. (»Wenn es zum Schlimmsten kommt,« pflegte er zu sagen, »so brauche ich mir nur vom König ein Monopol geben zu lassen«). Sein Witz war nie zu schwer geladen, um sich nicht rasch gegen jeden Angreifer drehen zu können. Große Fertigkeit in allen Talenten eines Cavaliers, vom Anführen einer Reiterschwadron bis zum Stimmen einer Laute; eine Tollkühnheit, die vor keiner körperlichen Gefahr zurückwich, (muthig könnte ich ihn nicht nennen, denn der Muth ist eine Eigenschaft des Geistes, und Geist konnte man in Sir Launcelot keinen bemerken, außer etwa so viel als in einem feurigen Pferde); eine gewisse instinktmäßige Gutmüthigkeit, in Folge deren er für seine Pferde und Hunde sorgte, etwa einem weinenden Kinde ein Geldstück zuwerfen oder im Kriege seine Ration mit einem hungrigen Soldaten theilen konnte (wofür er sich durch Plünderung der nächsten puritanischen Hütte entschädigte). Denn grausam war er nicht, wenigstens nicht absichtlich; wenn seine Vergnügungen, Stier- oder Bärenhetzen, oder andere noch niedrigerer Art, sich als Grausamkeiten gegen Andere erwiesen, so war dies nicht seine Absicht, sondern bloßer damit verbundener Unfall, der (»natürlich«) nicht vermieden werden konnte, da ihm das Leben kurz und Genuß nothwendig dünkte, mochte daraus entstehen, was da wollte.
Allein von Allem, was auf dem Ballspielhofe und der Reitbahn vorging, erfuhr ich fast nichts, ausgenommen die wenigen Blicke, die ich mitgetheilt, bis lange nachher Lätitia, die es von ihren Brüdern gehört hatte, mir Alles erzählte; denn Roger hatte es verschmäht, weder so lange wir im Schlosse weilten, noch nachdem wir wieder zurückgekehrt waren, ein Wort der Klage laut werden zu lassen.
Aber ach, welche Freude, als mein Vater eines Morgens mit zwei Handpferden hinter ihm auf das Schloß zu geritten kam! Mit welch sprachloser Freude ich aus Lady Lucia's Zimmer stürzte, ihm an das große Schloßthor entgegeneilte und mich in seine Arme warf, sobald er vom Pferde gestiegen war!
»Nun, Olivia,« sagte er, »Du bist ja wie ein kleiner Wirbelwind.«
Und doch vergoß ich viele Thränen, als der Moment der Trennung kam. Wenn Lady Lucia mir auch nicht mehr als eine glänzende, heitere Göttin, als das Urbild weiblicher Vollkommenheit erschien, so war sie mir in gewissem Sinne gerade darum noch mehr. Ich liebte sie als eine theure, liebevolle, mütterliche Frau. Die zärtlichen Worte, welche sie jene Nacht an meinem Bette gesprochen hatte: »Olivia, ich bin nicht halb so fromm und gut, als ich sein möchte; aber Dein Mißtrauen könnte ich nicht ertragen!« und ihr ganzes offenes, freundliches, rücksichtsvolles, selbstvergessendes Wesen hatte mein Herz mit aufrichtiger, ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit an sie gefesselt, die weit tiefer gewurzelt war, als meine frühere Abgötterei.
Und Lätitia, großmüthig, lebhaft, eigenwillig wie der Wind, wahrhaft wie das Licht, bald gebieterisch wie eine Kaiserin, bald demüthig und vertrauensvoll wie ein Kind; – ihre süße, wechselnde Schönheit schien mir nur die nothwendige Hülle ihres immer wechselnden und doch so treuen Herzens, das in der lebhaften Röthe ihrer Wangen glühte und aus ihren dunkeln Augen strahlte oder blitzte.
Lätitia und ich waren Freundinnen wegen unserer Verschiedenheit sowohl als wegen unserer Sympathieen, wegen unserer gemeinsamen Abneigung gegen Sir Launcelot Trevor so gut als wegen unserer gemeinsamen Ueberzeugung, daß jede von uns an Harry Davenant und Roger den besten Bruder von der Welt besitze. Lätitia und Harry Royalisten, Roger und ich im tiefsten Herzensgrunde Patrioten; sie treue Anhänger des Königs und der Königin Maria, wir Englands und seiner Rechte; sie überzeugt, daß der Erzbischof Laud ein neuer Apostel, wir daß er ein zweiter Diocletian sei.
Nie werde ich meine Freude vergessen, als ich am folgenden Morgen in meinem eigenen Zimmer erwachte, und den Glanz des Morgenlichts sich im See spiegeln und Tante Gretchen in dem Bette neben dem meinigen schlafen sah; als ich den ersten vereinzelten Ruf des Königs der Hähne vernahm, dann das Gegacker seiner Familie, wie Eins um's Andere erwachte; das Blöcken der Schafe auf der Wiese, das Brüllen der Kühe in den Schuppen; Blässe und Stern, mein eigenes verwaistes Kalb und Blümchen; und dann die fröhliche Stimme Tibs, unserer Melkerin, welche von ihrer Krankheit genesen, ihren Pflegebefohlenen ihre Ungeduld verwies, und der Zuruf Bobs, ihres Gatten, an seine Ochsen, während er sie in's Joch spannte, um sie auf's Feld hinauszuführen, und dazwischen hinein das tiefe kriegerische Bellen des alten Leo, unseres Hofhundes, vermischt mit dem gellenden, pflichtmäßigen Gekläffe der Schäferhunde, welche die Heerden auf neue Weideplätze trieben. Welche Wonne, wieder bei all diesen lebendigen Geschöpfen zu sein! Mir war zu Muthe, als ob ich aus einem verzauberten Schlosse, wo ich von Wohlgerüchen und schmelzender Musik in Schlaf gewiegt worden, heraus in die frische, freie Gottesluft der wirklichen Welt käme – einer Welt des Tageslichts und der Wahrheit, des Urtheils, der Gerechtigkeit und der Pflicht.
Noch ehe Tante Gretchen völlig erwachte, war ich schon angekleidet und drunten unter den Thieren, begierig von Tib mir das Neueste über alle meine Freunde in Feld und Hühnerhof erzählen zu lassen.
Allein Roger war noch vor mir draußen. Und noch vor dem Frühstücke hatten wir fast alle unsere Lieblingsplätzchen besucht – den Reiherstand am See, die Bucht, wo die Wasservögel so gern ihre Nester zwischen die Binsen bauten, das Schwannest auf der Schilfinsel, die schattigen Fischteiche im Obstgarten, den kleinen Bach unter der Stelle, wo wir das Wehr gemacht hatten, das Stückchen unbebautes Tiefland, welches der Bach zu überschwemmen pflegte, wir aber mit Bobs Hülfe eingedämmt hatten, um Korn für Rogers Tauben darauf zu bauen.
Sogar meine Aufgabe im Spinnen bei Tante Dorothea war ein Genuß. Ich konnte mich kaum enthalten mit lauter Stimme bei meiner Arbeit zu singen; mein Herz hüpfte und sang den ganzen Tag. Die Lektionen für meinen Vater waren eine Wonne, wie ein Wettlauf auf den Dämmen in frischem Winde; die lateinische Grammatik war mir wie Poesie. Es war solche Befreiung, wieder in eine emsige, alltägliche Arbeitswelt zurückgekehrt zu sein – eine Welt der Gesetze und mithin der Freiheit, wo jeder seine Aufgabe und jede Aufgabe ihre Zeit hat, und wo die Freistunden so geschäftig sind wie die Arbeitsstunden, und Kopf und Hände gestärkt werden durch ernstliche, nothwendige Arbeit.
So wurde die ganze Welt aufs Neue unser Spielplatz und alle Geschöpfe unsere Spielgenossen einzig aus dem Grunde, weil wir, war es nicht Spielzeit, ihre Arbeitsgefährten waren und auf unsere Weise so emsig arbeiteten wie Ameisen, oder Bienen oder glückliche Nester bauende Vögel oder reinigende Winde, oder wie die herrlichen, wohlthuenden Sonnenstrahlen selbst, deren Arbeit nichts als fröhliches Spiel, und deren Spiel nichts als der ganzen Welt nützende Arbeit ist.
Und dann war es auch erhebend, die berühmten schon von Kindheit auf verehrten Namen wieder nennen zu hören – den in seinem schmachvollen Grabe verehrten Sir John Eliot, und Hampden und Pym und den seinem Lande und seinem König, und später, wie er glaubte, dem König um des Vaterlandes willen treu ergebenen Sir Bevill Grenvil, und Herrn Cromwell, welcher sowohl im Parlament als in den Mooren oder im Gerichtsbezirk von Somersham unter Freiheit das Recht verstand, den Mächtigen an der Unterdrückung des Schwachen zu hindern, das Recht, die Wahrheit so laut zu sagen, daß die ganze Welt sie hören kann.
Nun begann ich zu verstehen, was unter den Worten: »Du stellest meine Füße auf weiten Raum« gemeint ist. Denn mir schien es, als ob wir aus dem Vorzimmer eines königlichen Audienzsaales, mit leisem Geflüster, einer Luft, voll künstlicher Wohlgerüche, die nothdürftig sanft bewegt ist, in unser theures, freies Alt-England hinaus getreten wären, wo wir nach Herzenslust laufen und singen und jede Fähigkeit gebrauchen konnten, unter dem herrlichen freien Himmel, dem Audienzsaale des Königs aller Könige.