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Aber keine Dazwischenkunft, weder von oben noch von unten, sollte die langsame, aber stete Entwicklung des großen Trauerspiels aufhalten, auf welches die Augen der ganzen Nation gerichtet waren.
Wie in einigen jener alten, gräßlichen Schicksalstragödien, ging der König seinem Geschick entgegen, indem er ängstlich den Ausbruch des Sturmes von der Seite erwartete, wo am wenigsten Gefahr war, aber mit blinder Furchtlosigkeit sich dem Blitzstrahl näherte, der ihn zerschmettern sollte.
In den meerumspülten einsamen Mauern von Hurt-Castle lauschte er ängstlich auf den leise heranschleichenden Mörder. Und als am 17. Dezember um Mitternacht zwischen dem Geplätscher der Wogen die Zugbrücke knarrte und das Getrappel bewaffneter Reiter am Schloßthore erschallte, stand er auf und brachte eine Stunde allein im Gebete zu. Man hatte ihm den Oberst Harrison, welcher diese Soldaten befehligte, als einen Mann genannt, der am ehesten damit beauftragt werden könnte, ihn zu ermorden. »Ich traue auf Gott, der mein Helfer ist,« sagte der König zu seinem treuen Diener Herbert, »aber ich möchte nicht überrascht werden; der Ort hier ist ganz geeignet zu einem solchen Plane;« und dabei war er zu Thränen gerührt; es waren keine unmännlichen Thränen, keine ungegründete Befürchtung. Wäre er doch nicht der erste seines unglücklichen Geschlechts gewesen, der mitternächtlichem verrätherischem Morde zum Opfer fiel! Als jedoch der König am andern Morgen aus dem ehrlichen Gesichte Oberst Harrisons und aus seinen freimüthigen Reden erkannte, daß er einer solchen Schlechtigkeit unfähig wäre, faßte er neuen Muth und ritt beinahe fröhlich mit seiner Eskorte stattlicher, wohlberittener Soldaten fort, die ein artiges Benehmen gegen ihn beobachteten.
Beim Tageslicht und in den königlichen Hallen von Windsor, wohin sie ihn brachten, fühlte er sich wieder stark in der Heiligkeit seiner königlichen Würde, und leider hielt er sich auch für stark durch jene falschen Ränke der Politik, die allein in den Herzen seines Volkes die heilige Ehrfurcht vor seiner königlichen Person zerstört hatten. Er habe jetzt noch drei Züge zu spielen, schrieb er, von denen der geringste ihm Hoffnung gebe, Alles wieder zu gewinnen.
Zu Windsor, sagt man auch, habe er den gefangenen Herzog von Hamilton getroffen, der sich Seiner Majestät zu Füßen geworfen, und ohne Zweifel durch den Anblick des ergrauten und der Krone beraubten Hauptes gerührt, mit tiefer Ehrfurcht ausgerufen habe: »Mein theurer Herr!« »Freilich ein theurer Herr für Dich,« erwiderte der König.
Den 5. Januar gab er den Befehl, in Wimbledon Melonenkerne zu stecken; er erwartete hoffnungsvoll, was Lord Ormond in Irland für ihn ausrichten werde. Er scherzte über die Drohung, ihn öffentlich vor Gericht zu fordern. Könige seien in der Schlacht gefallen, oder hinter stummen Kerkermauern verrätherisch zu Tode gemartert, oder um Mitternacht heimlich erdolcht worden. Aber die Rebellen wären, dies schien offenbar, keine Feinde dieses Schlages. Selbst das Beispiel, welches drei seiner Cavaliere ihnen unlängst gegeben hatten, indem sie zu Doncaster-Rainsborough einen der tapfersten Offiziere Cromwells meuchlings ermordeten, hatte in den fanatischen Rundköpfen keine Nacheiferung, sondern nur Entrüstung und Verachtung erweckt. Außer dem Schlachtschwert oder dem Dolch war keine Waffe bekannt, womit ein König getödtet werden konnte. Die Rundköpfe zählten den Mord nicht unter ihre »Werkzeuge der Gerechtigkeit«. Der Krieg war vorüber. Was hatte Seine Majestät also zu fürchten?
Strafford war freilich bis zuletzt eben so vertrauensvoll gewesen. Und weder seine grauen Haare noch die Priesterweihe hatte das Haupt des Erzbischofs vor dem Schaffot beschützt. Allein nach dem Glauben des Königs und seiner Anhänger war der gesalbte König nicht nur von höherem Stande, sondern ein Wesen höherer Art als selbst die stolzesten seiner Unterthanen.
Ueberdies würden alle Höfe Europa's sich erheben und Einsprache thun, ehe ein König vor ein Gericht seiner Vasallen, welche seinem Odem Ehre und Leben verdankten, gestellt werden könnte.
Und nicht allein irdische Höfe. Würde der Eine Gerichtshof, vor den allein ein Herrscher gefordert werden kann, solchen Eingriff in seine Rechte dulden?
So scherzte der König über die Idee, daß seine Unterthanen ihn vor Gericht ziehen könnten, spielte seine »drei Züge,« und streute Samen für mehr als eine Ernte aus.
Mittlerweile zog Cromwell langsam aus Schottland nach London zurück. Die Bittschriften um Gerechtigkeit an dem Hauptdelinquenten lagen nicht unbeachtet auf dem Tische des Unterhauses.
Den 6. Januar bewachte Oberst Pride mit seinen Soldaten die Thüre des Unterhauses und sandte jedes Mitglied hinweg, das noch geneigt war, die Unterhandlungen mit dem Könige fortzusetzen; am Nachmittage des nämlichen 6. Januars dankte dieses so »gereinigte« Haus, Rumpfparlament genannt, das aus fünfzig Mitgliedern bestand, dem General Cromwell für seine Dienste und setzte den Hohen Gerichtshof ein um die Sache »Carl Stuarts« zu untersuchen, welcher »verrätherischer und tyrannischer Versuche zum Umsturz der Rechte und Freiheiten des Volkes« angeklagt war. Und den 19. Januar, noch nicht drei Wochen nachdem er zu Windsor ruhig Pläne für seine Gartenernte gemacht und Samen zu einer andern Ernte in Irland ausgestreut hatte, saß der König im Saal zu Westminster vor diesem Gerichtshofe, angeklagt als »Tyrann, Verräther und Mörder.«
Nicht nur der Himmel war ungerührt geblieben, nein, auch nicht Ein gekröntes Haupt in Europa hatte Einsprache gethan oder Fürbitte eingelegt.
Indessen aber schwebte über unserer kleinen Welt von Netherby jene furchtbare Gewalt, gegen welche alle äußern Schrecken, die sie umringen können oder nicht, – der mitternächtliche Dolch, das Beil des Scharfrichters, das Gedränge neugieriger Zuschauer um das Schaffot – nichts sind, als der Schmuck des Kriegers zu seinem Schwerte, oder als der Glanz des Beils zu seiner Schneide. Der Tod zehrte langsam Lady Lucia Davenants wenige noch übrig gebliebenen Kräfte auf.
Eine unter uns stand dem Beginne des neuen Lebens näher als wir Alle ahnten, so nahe, daß das Getöse des politischen Sturmes erstarb, ehe es ihr Zimmer erreichte; und sie lag an der Schwelle einer andern Welt fast so wenig ahnend von den Stürmen hier unten, als unsere kleine Magdalene, deren Wiege sie so gern an ihrer Seite stehen hatte. Der liebende Heiligenschein, womit sie meine kindliche Phantasie einst umgeben, kehrte auf ihrem Sterbebette zurück; und zwar gewiß nicht weil beides eine Täuschung war, sondern weil Liebe und wahre Phantasie stets durch alle Täuschung hindurch allen Schein bis zur wahren innern Schönheit durchdringt, welche der Tod wieder enthüllt.
Noch immer sehe ich, als ob es gestern gewesen wäre, das matte, freundliche Lächeln, womit sie das schlafende Kind an ihrer Seite zu betrachten pflegte.
Einst sagte sie zu mir:
»Der Platz dieses Lieblings und der meinige scheint mir, bei aller äußern Verschiedenheit, eine wundervolle Aehnlichkeit zu haben. Wenn ich so da liege und sie anschaue, denke ich an die Engel in der Kapelle der Percy im Münster von Beverley, wie sie Jesu auf ihren Armen eine kleine, hülflose Seele zutragen, während Er die Hände nach ihr ausstreckt, um sie an Sein Herz zu legen – eine vom Tode zu unsterblichem Leben mit Ihm wiedergeborne Seele.
»Zuweilen scheint mir gerade dies die Umwandlung zu sein, die mir bevorsteht, Olivia, so groß, so vollkommen; zuweilen auch wiederum so leicht, so einfach; mehr wie das Ablegen der Kleider, die wir die Nacht hindurch getragen, ein Baden in dem Wasser des Lebens, aus dem wir, – erfrischt und gestärkt – ›angethan mit reinen weißen Kleidern‹ in das nächste Zimmer gehen, um Ihm zu nahen, der dort unser wartet. Solch eine kleine Veränderung! denn wir haben den Schatz in uns, den wir mit uns nehmen müssen. In dem Herrn liegt das neue, ewige Leben, nicht in irgend einem Zustand oder einer Zeit; und da wir Ihn hier und dort bei uns haben, so scheint der Tod nichts mehr als ein Schritt weiter in das Vaterhaus hinein, von der Schwelle in die innern Gemächer, wo wir Ihn mehr in der Nähe hören und deutlicher schauen. Theile Lätitien diese tröstlichen Gedanken, die ich habe, mit, Olivia,« sagte sie wohl manchmal; »ich kann nicht mit Ihr darüber sprechen; es rührt sie zu sehr; und sie wollte, daß ich sage, ich möchte noch länger auf der Erde bleiben, und das kann ich nicht, Olivia. Seit mein Harry fort ist, fühle ich mich nicht mehr heimisch hier unten. Und ich bin so schwach und sündhaft, daß mein längeres Verweilen hier eben so viel schaden als nützen kann, selbst Lätitien, dem armen, liebevollen Kinde. Die Welt, wenigstens die Welt hier in England scheint mir sehr dunkel. Und manchmal denke ich, bald werde Alles ein Ende nehmen, nicht dieser Krieg allein, sondern alle Kriege, und das Reich werde kommen, um das die Kirche schon so lange gebetet hat; der Herr werde auf Erden erscheinen in Seiner großen Macht und Herrlichkeit.«
Eines fiel mir an Lady Lucia auf, das ich auch an Andern bemerkt habe, von deren Uebergang aus dieser Welt der Schatten in die Welt der Wirklichkeit ich Zeuge war. Alle unwichtigern Glaubensartikel, welche Christen von einander trennen, schienen vergessen, in weite Ferne und in Schatten gerückt, Angesichts der großen Lebenswahrheiten, welche das eigentliche Christenthum ausmachen. Nie habe ich von den sterbenden Christen, an deren Todtenbette ich gestanden, ein Wort über Partei-Politik, und fast nie eines über Parteiglauben vernommen. So sagte Lady Lucia einmal:
»Ach! wenn doch Alle Ihn sehen könnten, wie Er ist! Wir sind getrennt, weil wir nur Bruchstücke sind. Aber in Ihm, in Christo, werden alle Bruchstücke wieder zu einem Ganzen vereinigt und werden leben. Wahrheit ist nicht ein schöner, idealer Traum, Christus selbst ist die Wahrheit.«
Und dann sprach sie auch oft von Seinem Tode mit unendlichem Troste. »Er ist wirklich gestorben; so gewiß als ich sterben muß,« sagte sie; »das Fleisch ermattete, das Herz brach; aber Er überwand. Er hat sich selbst als fleckenloses Opfer Gott dargebracht und mich, so befleckt mit Sünde ich auch bin, in Ihm, dem Sohn, dem Erlöser und Herrn. Der Vater war in Ihm und versöhnte die Welt mit Ihm selber. Und wir sind in Ihm auf ewig versöhnt.«
Hin und wieder fragte sie, ob wir etwas über den König gehört hätten. Und dann gaben wir ihr so allgemeine und unbestimmte Berichte als möglich, da wir es für unpassend hielten, sie über Dinge zu betrüben, welche so bald ihr nicht mehr lange unerklärlich scheinen konnten. Auch wurde dies gar nicht schwer, da ihre Aufmerksamkeit selten lange auf einen Gegenstand geheftet war.
Den 6. Januar besuchte uns Roger, der aus dem Norden kommend, auf dem Wege nach London war; es war am Erscheinungsfeste, das Lady Lucia noch immer zu feiern pflegte.
Am Morgen hatte Lätitia ihr das Evangelium von diesem Tag vorgelesen.
Als sie Nachmittags Roger sah, fragte sie ihn, den sie in ihren Gedanken mit der Armee und dem König in Verbindung brachte, sogleich nach Seiner Majestät.
»Der König ist in Windsor,« erwiderte Roger.
»Zu Hause!« sagte sie mit frohem Lächeln. »Wieder zu Hause über Weihnachten! Das ist recht!«
Roger antwortete nichts, und zu unser Aller Erleichterung ging ihr Geist bald zufrieden auf andere Gegenstände über. Sie hielt Lätitiens und Rogers Hände in den ihrigen, drückte sie an ihre Lippen und murmelte: »Mein Gott, ich danke Dir.« Dann, da eine Schwäche sie überfiel, verließen wir Alle, außer Lätitia, das Gemach.
Roger und ich blieben im Vorzimmer. Er wartete auf Lätitia, um ihr Lebewohl zu sagen. Als sie aus dem Zimmer ihrer Mutter trat, setzte sie sich an das Fenster mit niedergeschlagenen Augen und ihre zitternden stummen Lippen waren fast so bleich wie ihre Wangen.
Roger ging ihr entgegen und stand vor ihr; aber sie rührte sich nicht und schlug nicht einmal ihre von vielem Weinen geschwollenen Augenlider auf.
»Lätitia,« sagte er, »erlauben Sie mir ein Wort zu sagen, ehe ich abreise. Lassen Sie mich ein Wort zu Ihrem Troste sagen; denn ist Ihr Kummer nicht auch der meinige?«
»Was hilft es?« entgegnete sie. »Sie sind im Begriff den König nach London zu führen, damit er dort sterbe. Die Nation wird sich des größten Verbrechens schuldig machen und mit dem fürchterlichsten Fluche belasten, und Sie wollen hingehen und daran theilnehmen, die That gutheißen und so zu der Ihrigen machen. Meine Worte vermögen nichts über Sie. Wie können die Ihrigen mich trösten? Wenn derjenige es Ihnen befiehlt, den Sie zu Ihrem Priester und König erwählt haben, werden Sie bei dem Schaffot Wache halten, während der König ermordet wird. Haben Sie mir dies nicht vor zwei Stunden erst gesagt? Habe ich Sie nicht angefleht und Ihnen gesagt, daß Sie dadurch nicht nur zwischen uns beiden, sondern auch zwischen sich und dem Himmel eine Kluft graben?«
Er stand unbeweglich, das Beben seiner Lippen ausgenommen. »Und habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich als Soldat nicht anders könne, außer wenn ich meinen Anführer verlasse; noch als Patriot, wenn ich nicht mein Vaterland verrathen wolle. Der König ist es, der uns verrathen hat, Lätitia, der uns verweigert hat, ihn zu retten und ihm zu trauen. Die Hand, welche von Anbeginn alle Ungerechtigkeit und Bedrückung im Entstehen hätte unterdrücken können, und es nicht gethan hat, muß von allen die schuldigste sein. Weder das Land, noch das Parlament, noch General Cromwell ist es, der dem König ein solches Ende bereitet, sondern seine eigene Falschheit.«
Nun blickte sie auf.
»Suchen Sie nicht mich zu überzeugen, Roger,« sagte sie; »Gott weiß, daß ich nur zu sehr geneigt bin, mich überzeugen zu lassen. Ich kann so wenig darüber streiten als über die Liebe zu meiner Mutter oder den Gehorsam gegen meinen Vater. Allein das zu thun, worauf Sie beharren, ist ein Verbrechen. Ich wage es nicht, Sie anzuhören. Ich bin unwahr,« setzte sie, endlich in leidenschaftliche Thränen ausbrechend, hinzu; »ich bin eine Verrätherin gewesen, indem ich meine Mutter täuschen – sie Gott für etwas danken ließ, was niemals geschehen wird!«
»Lätitia,« sagte er mit beklommenem Tone, »wenn Sie sich Vorwürfe machen, wenn Sie sich Verrätherin nennen, was bin dann ich?«
»Sie sind so wahr wie das Evangelium, Roger,« sagte sie, ruhiger weinend, »so wahr wie der Himmel selbst. Sie würden nie gethan haben, was ich that. Eher würden Sie Ihr eigenes Herz und das eines Jeden gebrochen haben, als eine Lüge zu sagen oder zu thun oder etwas zu versäumen, das Sie für Ihre Pflicht halten. Das ist's gerade, was es so schrecklich macht.«
Mit zitternder Stimme entgegnete er:
»Sie trauen mir, und doch halten Sie mich eines großen Verbrechens fähig.«
»Ich weiß, daß es ein furchtbares Verbrechen ist, frevelhafte Hand an den König zu legen,« sagte sie; »aber Ihnen zu trauen ist nicht meine eigene Wahl. Ich kann das Vertrauen meines Herzens Ihnen nicht entreißen, selbst wenn ich es wollte, Roger, und Gott weiß, daß ich nicht wollte, wenn ich es könnte!«
Ein Schimmer triumphirender Freude überflog sein Antlitz, als er mit gefalteten Armen vor ihr stehend, in ihr niedergeschlagenes Gesicht schaute.
»Dann muß auch die Zeit kommen, wo ein Wahn, der unsere Herzen nicht zu trennen vermochte, uns auch nicht länger im Leben trennen wird,« sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Ihre Mutter sprach die Wahrheit, Lätitia, indem sie unsere Hände vereinigte. Solche Worte von ihren Lippen, in einem solchen Augenblick, sind sicher prophetisch.«
Lätitia schüttelte den Kopf.
»Meine Mutter sah über diese Welt hinaus,« versetzte sie traurig; dorthin, wo es keinen Wahn, keine Spaltungen und keine Trennung mehr gibt.«
Einen Augenblick beugte er sich zu ihr hinab und drückte ihre Hand an seine Lippen. Dann trennten sie sich.
In der folgenden Nacht wachten Lätitia und ich an Lady Lucia's Bett. Und Alles, was beunruhigen und trennen konnte, schien für eine Weile in dem Frieden ihrer Nähe aufgelöst.
Ein oder zwei Mal erwachte, sie und sprach, aber mehr wie in Entzückung zu sich selbst, als für sterbliche Ohren.
»Jetzt wird mir Alles klar,« sagte sie einmal; »Alles was ich am meisten einzusehen wünschte. Die Spaltungen und Verwirrungen, welche uns hier ängstigen, sind nur die Farben, worein das Licht sich kleidet, wenn es sich auf die Erde herabläßt. Auf Erden ist es Scharlach und Purpur und Stickerei; im Himmel ist es feines weißes Linnen, rein und weiß.«
Oft flüsterte sie schnell und deutlich, daß es in der nächtlichen Stille des Krankenzimmers ganz schauerlich klang, die Worte:
»Der König, der König!«
Lätitia und ich wagten nicht, uns ihr zu nahen, um zu fragen, was sie meine, aus Furcht eine Frage zu vernehmen, die wir nicht den Muth hatten zu beantworten. Auch hielten wir es für wahrscheinlich, daß sie phantasirte, da sie sich nicht an uns zu wenden, noch eine Antwort zu erwarten schien.
Allein allmälig wurden die Worte deutlicher, obgleich noch immer abgebrochen und leise, und nun verstanden wir ihren Sinn:
»Der König! König der Könige! Treu und wahr! Meine Augen werden den König sehen in seiner Schöne. Er wird den Bedürftigen erlösen, wenn er zu Ihm schreit, der König der Armen. Ich lasse die Schatten hinter mir zurück. Ich fange an die Lichter zu sehen, welche die Schatten werfen. Die Stürme sind dahinten geblieben – ich sehe die Engel der Winde. Die Donner sind dahinten – von oben herab sind sie Musik. Die Wolken sind dahinten – es sind die goldenen Straßen von oben herab gesehen. Meine Augen werden den König schauen wie Er ist, wie Er ist. Bei Dir ist kein Wechsel, sondern in mir ist er. Ich sehe Deine Herrlichkeit, wie Du bist!«
Den ganzen folgenden Tag hindurch entschwand immer mehr alles Irdische vor ihren Augen, nur ihre Freundlichkeit schien ihre Kräfte zu überleben. Kein noch so kleiner Dienst wurde ihr geleistet, wofür sie nicht gedankt hätte, und selbst wenn die Stimme nicht mehr vernehmbar war, bewegte sie noch dankend und betend die brennenden Lippen.
Früh Morgens den 21. Januar schied sie von uns, ihre Hand in Lätitiens gelegt, indem eine selige Freude aus ihren Augen strahlte über einen Anblick, den wir nicht sehen konnten.
Am Abend desselben Tages kam die Nachricht, daß der König am 19. Januar wie ein Verbrecher vor den höchsten Gerichtshof in Westminster gestellt und auf Tod und Leben angeklagt worden sei, als der Haupturheber des Unglücks der Nation.
Als Lätitia dies vernahm, löste der erste Thränenstrom die Erstarrung ihres Kummers, und sie schluchzte auf meiner Schulter: »Gott sei Dank, daß sie gerettet ist vor den Stürmen dieser schrecklichen, verstörten Welt! Sie ist dort, wo kein Zweifel sie mehr beunruhigt, was sie glauben oder thun soll.«
»Sie ist dahin gegangen,« sagte mein Vater, liebevoll ihre Hand ergreifend, »wo Loyalität und Vaterlandsliebe, wo Freiheit und Gesetz nie mit einander im Widerspruche stehen, wo die edelsten Gefühle und die edelsten Herzen nie einander feindlich gegenüber gestellt werden. Und wir hoffen, ihr dorthin zu folgen!«
»Aber ach!« schluchzte Lätitia, »welch ein schrecklicher Zwischenraum noch!«
»Blicke empor und schreite muthig vorwärts, mein Kind,« versetzte er, »so wird Dir der Weg klar werden. Schritt für Schritt, Tag für Tag; der Zwischenraum ist der Weg dorthin.«
Druck von Felix Schneider.