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Zwanzigstes Kapitel.
Die Krönungsinsel.

Aber erst am nächsten Morgen gegen zehn Uhr bekamen wir, nachdem wir genau einen Monat unterwegs gewesen waren, Land in Sicht. Es war ein klarer, sonniger Tag; große, milchweiße Wolken segelten, von einem frischen Westwind getrieben, eilig am Himmel dahin. Die See war lebhaft bewegt, ging aber nicht hohl, so daß unsere Brigg ruhig und stetig die Wogen durchschnitt. Wir hatten nur wenig Segel bei, da es von größeren und kleineren Eisbergen um uns her förmlich wimmelte. In geringer Entfernung vom Albatroß starrten uns schroffe Eisklippen entgegen, während darüber eine fast senkrechte mit ewigem Schnee bedeckte Felswand bis zu schwindelnder Höhe emporstieg.

Ich war außer mir vor Aufregung. Furcht und Hoffnung stritten sich um die Oberhand. Die steilen Felsmassen, deren Unzugänglichkeit noch durch einen flimmernden, nur an wenigen Stellen von schwärzlichen Lücken unterbrochenen Eisüberzug erhöht wurde, waren ja die Krönungsinsel!

Alle Mann waren auf dem Posten, um das Schiff sicher durch die schmale gewundene Fahrrinne zu bringen, die zwischen den Eisbergen sichtbar wurde. Die Anker hingen unter den Kranbalken klar zum Werfen für den Notfall, und die Mannschaft war an den Brassen, Fallen und Geitauen verteilt, um auf das Kommando des Kapitäns sofort die häufig wechselnden Segelmanöver auszuführen.

Unverwandt beobachtete ich die immer deutlicher vor uns auftauchende Küstenlinie und ließ das Fernrohr nur ab und zu sinken, um einen vergleichenden Blick auf die Karte der antarktischen Inselgruppen zu werfen, die auf dem Oberlicht der Kajüte ausgebreitet lag. Nach den Angaben des Walfischfängers mußte das Wrack auf einem Abhang in der Palmerbai liegen, und Kapitän Cliffe war der Ansicht, daß diese der langgestreckte Einschnitt zwischen jenen beiden bläulich schimmernden Felsen sein müsse, die ein Blick durch das Fernglas uns zeigte.

Die Eisberge hinderten die Beobachtung ungemein; die ganze Küstenlinie war voll von ihnen. Mir blieb einstweilen nichts übrig, als eifrig durch jede Lücke zu spähen, die sich zwischen ihnen auftat.

Der Albatroß näherte sich mit einer Geschwindigkeit von viereinhalb Knoten langsam der Küste, deren Umrisse jetzt immer bestimmter hervortraten. Ich ließ das Glas kaum mehr vom Auge und durchforschte in fieberhafter Spannung jedes neu auftauchende Fleckchen Land. Bei einer Wendung des Schiffes sah ich zwischen den Eismassen eine gerundete Felsenküste. Das mußte die Palmerbai sein. Und dort, am Fuße einer jäh abstürzenden Klippe, sah ich einen schwarzen Fleck, ein –

Mein Herzschlag setzte fast aus. Schärfer sah ich hin. Nun war kein Zweifel mehr möglich.

»Cliffe!« schrie ich. »Mein Gott, Cliffe! Ich habe das Wrack. Dort –«

Der Kapitän stürzte an meine Seite und riß mir das Fernglas aus der Hand:

»Ja, ich sehe es. Ich habe es auch! Gerade, wie der Quäker gesagt hat – hoch über der Brandung auf dem Felsen, im Herzen der Bai!«

»Können wir herankommen, Cliffe?«

»Das weiß ich noch nicht. Mit unseren Booten vielleicht.«

Er gab mir das Fernrohr zurück, das ich sofort wieder ans Auge führte. Doch schob sich in diesem Moment ein Eisberg in das Gesichtsfeld und versperrte mir den Blick in das Innere der Bucht.

Erst nach einer vollen Stunde vorsichtigen Kreuzens bekamen wir das Wrack wieder zu Gesicht. Jetzt konnte ich durch das Glas sogar Einzelheiten unterscheiden. Wie ein riesengroßer schwarzer Schatten lag es auf einem eisbedeckten Felsenvorsprung, mindestens dreißig Fuß über dem Meere. Ich sah das Bugspriet und den Stumpf des Fockmastes. Hinter dem Wrack ragten die Felsen jäh in die Höhe. Eine erdbebenartige Verschiebung der Eismassen mußte die Lady Emma nach der Strandung auf diesen Abhang hinaufgeschoben haben, wo sie jetzt bei klarem Wetter meilenweit sichtbar war.

Ich zitterte vor Aufregung. Die Mannschaft des Albatroß hatte sich am Bug zusammengedrängt und lauschte, an der Reeling liegend, den eifrigen Erklärungen Bodkins, der ein über das andere Mal auf das Wrack deutete. Barsch rief der Steuermann den Leuten zu, sich an ihre Arbeit zu scheren, worauf sie schleunigst auseinanderstoben; bald aber machte die allgemeine Spannung und Erregung, die das Auftauchen des Wracks hervorgerufen hatte, sich von neuem geltend, und wie in einem Bienenschwarm summte es von Meinungen und Vermutungen durcheinander.

Immer wieder starrte ich durch das Fernrohr. Wir waren nun etwa eine halbe Meile von dem Wrack entfernt, und ich konnte genau erkennen, daß ein großer Teil der Steuerbordverschanzung auf der Lady Emma fehlte. Sie lag fast gerade auf ebenem Kiel und der Schiffsrumpf war mit einem durchsichtigen Eispanzer überzogen. Unter ihrem Heck türmten sich riesige Eismassen auf.

Mit brennenden Augen sah ich hin. Aber ich konnte nicht das geringste Anzeichen entdecken, daß Menschen an Bord waren. Nichts bewegte sich; keine Flagge war gehißt, kein Rauch war zu sehen. Auch der Kapitän konnte keine Spur von Leben auf dem Wrack finden.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich kann nichts sehen,« sagte er. »Wir müssen herausbekommen, ob lebendige Menschen dort sind.«

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, Cliffe,« preßte ich mit zusammengebissenen Zähnen heraus.

Der Kapitän winkte dem Steuermann und zwei Mann, die eine Anzahl Platzpatronen herbeischafften. Das Laden der Kanone übertrug Cliffe dem Steuermann, da das Schiff seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. In der Palmerbai wimmelte es von Treibeis, und in kurzen Zwischenräumen erinnerte vom Vorderkastell her ein warnendes: »Eis voraus an Backbord!« an die beständig drohende Gefahr.

Das Geschütz wurde abgefeuert und weckte in den Eis- und Felsenwänden ein vielstimmiges Echo. Dann dröhnte ein zweiter Schuß durch die Luft und gleich darauf ein dritter.

Ich ließ das Wrack keine Sekunde aus den Augen. Da – als der dritte Schuß aufblitzte, sah ich vom Deck der Lady Emma ein dünnes, rasch zerflatterndes Rauchwölkchen aufsteigen.

Mir war, als preßte mir eine unsichtbare Hand die Kehle zusammen ...

»Rauch auf dem Wrack!« schrie ein Matrose.

Ich muß weiß wie Kalk gewesen sein, als ich auf den Kapitän zuging und ihm das Fernrohr reichte.

»Es ist noch Leben drüben,« stammelte ich.

»Hurra!« schrie der kleine Kapitän und schnitt in seiner Aufregung eine fürchterliche Grimasse, das Fernrohr im Triumph schwenkend.

Jetzt konnte man den Rauch schon mit bloßen Augen erkennen. Die dünnen dunkeln Rauchwölkchen zeichneten sich scharf gegen den weißen Eishintergrund ab. Jetzt sah ich auch die Gestalt eines Mannes, der rasch auf den Fockmaststumpf zueilte. In wenigen Sekunden stieg an dem verstümmelten Mast eine Flagge empor und flatterte lustig im Winde, eine englische Flagge, umgekehrt, als Zeichen der Not.

In diesem Augenblick feuerte der Steuermann den vierten Schuß.

»Halt!« schrie der Kapitän. »Man hat uns drüben gesehen! Hiß' die Flagge und hol' sie dreimal auf und nieder.«

Blitzschnell sauste die Flagge an der Gaffel empor. Der Mann auf dem Wrack mußte sie unfehlbar bemerken.

Jetzt sah ich auf dem Wrack eine zweite Person und mir war, als sollte mir das Herz zerspringen. Sie stand auf dem Quarterdeck. Die Schanzverkleidung deckte sie so, daß ich nicht erkennen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war.

Cliffe sah durch das Fernrohr. Plötzlich schrie er begeistert:

»Bei Gott, Mr. Moore, es ist eine Frau!«

Ich nahm das Glas wieder. Meine Hände zitterten so, daß ich es mehrere Male ansetzen mußte, ehe ich es ruhig genug halten konnte. Ich konnte noch immer nicht sehen, ob die zweite Gestalt wirklich eine Frau war. Und wenn – war es Mrs. Burke oder – – drei Personen mußten auf dem Wrack sein. Wo war die dritte?

Mit verzweifelter Anstrengung drückte ich mein Auge an das Fernrohr, als ob ich es hineinpressen wollte. Vergeblich! Ich sah immer nur zwei Gestalten. Jetzt standen sie nebeneinander, auf die Reeling gelehnt und schauten zu uns herüber ...

Ehe wir in die Palmerbai einbogen, hatte Kapitän Cliffe verschiedene Segel einholen lassen, denn es wehte eine frische Brise; nur die beiden Marssegel standen, die Fock hing aufgeholt in den Geitauen und Gordingen, sodaß die Brigg sich nur mit mäßiger Fahrt ihren Weg durch das Treibeis bahnte, das vor dem scharfen Bug knirschend und krachend zur Seite wich. Glücklicherweise bedeckte das Eis, das uns von weitem wie eine kompakte Masse vorgekommen war, die Wasseroberfläche nur in zerstreuten Schollen. Auch die Gruppen der Eisberge zeigten beim Näherkommen breite Lücken, durch die wir unser Schiff steuern konnten. Warm und hell schien die Sonne auf die dunkelblaue See, als wir langsam vorwärts segelten.

Jetzt wurde das Großmarssegel backgebraßt und das Schiff an den Wind gelegt. Cliffe ließ die Kanone noch einmal abfeuern und die Flagge senken. Es war zwölf Uhr mittags. Jetzt sah ich deutlich, daß die eine der beiden Personen auf dem Wrack wirklich eine Frau war, aber ihre Gesichtszüge ließen sich auch bei größter Anstrengung noch nicht unterscheiden. Und keine dritte Person war an Deck der Lady Emma! Wer war die Frau?

Als die Brigg beigedreht hatte, versammelte der Kapitän uns zur Beratung. Gefahr für unser Schiff war augenblicklich nicht zu befürchten, denn der nächste größere Eisberg lag backbordachter ungefähr eine halbe Meile entfernt, und die kleineren Blöcke in unserer Nähe waren weder groß noch zahlreich genug, um uns ernstlich zu gefährden.

Nun suchten Cliffe, Steuermann Bland, Bootsmann Bodkin und ich mit dem Glas sorgfältig die Küstenlinie ab, aber wir konnten keinen Landungsplatz ausfindig machen. Ueberall starrten uns schaumumbrandete Eisklippen entgegen. Nur über eine einzige Stelle auf dem linken Ufer der Palmerbai waren wir im Zweifel, da eine vorspringende Felsecke den dahinter liegenden Meeresteil unseren Blicken verbarg.

»Wir werden ein Boot aussetzen müssen,« sagte Kapitän Cliffe, »um herauszufinden, ob dort eine Landung möglich ist.«

»Es scheint der einzige geschützte Winkel zu sein,« meinte Bland.

»Das Wrack liegt vierzig Fuß hoch über der Brandung,« sagte der Bootsmann. »Unten von der Klippe ist ihm nicht beizukommen, selbst wenn wir mit dem Boot dort landen können. Aber über dem Eis, an der Ostseite der Klippe könnten wir vielleicht zu dem Wrack emporklettern. Von hier sieht es ja aus, als hätte das Wasser ganze Stufen hineingewaschen. Ob wir aber mit dem Boot hinkommen? Jedenfalls können wir nichts Bestimmtes sagen, bis wir an Ort und Stelle gewesen sind.«

»Dann je schneller, je besser, Bland!« sagte der Kapitän. »Lassen Sie sofort ein Boot – nehmen Sie das ganz neue – klarmachen. Wir müssen wissen, was wir zu tun haben, ehe es dunkel wird.«

In wenigen Minuten schaukelte das Boot längsseit des Albatroß, und als Erster sprang ich hinein. Mein Fernrohr hatte ich mitgenommen. Der Steuermann kommandierte das Boot, und ein alter Matrose stand vorne im Bug, um uns vor treibenden Eisschollen zu warnen. Das Boot wurde von vier Matrosen gerudert und schoß pfeilschnell vorwärts. Mehrere Male wollte ich aufstehen, um weiteren Blick zu haben und das Wrack mit dem Teleskop zu untersuchen, aber Bland zog mich wieder auf meinen Sitz zurück; zuerst mit einem Lächeln der Entschuldigung, dann, als ich es wieder versuchte, mit einem energischen Ruck.

»Bleiben Sie sitzen, Mr. Moore! Auf die paar Minuten kommt's auch nicht mehr an. Entweder Sie fallen ins Wasser oder Sie bringen gar noch das Boot zum Kentern. Außerdem versperren Sie mir die Aussicht – von Ihrem Rücken kann ich nicht ablesen, wie ich steuern soll. Ich dulde nicht, daß Sie aufstehen.«

Der Steuermann hatte ganz recht, aber es wurde mir ganz unsäglich schwer, in der furchtbaren Erregung dieser letzten entscheidenden Minuten untätig still zu sitzen.

Immer näher kamen wir den wilden Eismassen. Die Kliffwand hinter dem Wrack stieg in fast senkrechter Steilheit zweihundert Fuß empor; von dem Felsgestein selbst konnte man gar nichts sehen, so völlig überzogen von einem dicken Eispanzer war es. Wie ein einziger riesiger Eisberg sah die Felseninsel aus.

Auf einem breiten Vorsprung, einem gigantischen Felsenblock, lag das Wrack.

»Das kann man sehen, daß es da nicht von selber hingekommen ist,« sagte der Steuermann. »Was es da hinaufgeschoben hat, möcht' ich wissen!«

Der Block, auf dem die Lady Emma lag, fiel nach dem Meere zu so steil, so glatt ab, als habe eine Titanenfaust ihn mit Hammer und Meißel gespalten. Und hinter dem Schiff tauchten drohend in riesigen blauen Schatten die eisigen Felsenkolosse der Insel auf. Ich ließ keinen Blick von dem Wrack. Von neuem versuchte ich das Fernrohr auf die beiden Menschengestalten zu richten, die an der Schanzverkleidung lehnten, aber bei den starken Schwankungen des Bootes war es unmöglich, das Glas ruhig genug zu halten.

Unverwandt starrte ich die beiden Menschen an. Noch immer konnte ich ihre Gesichtszüge nicht unterscheiden. Noch immer wußte ich nicht, ob Eveline an Bord war.

Bland mußte jetzt sehr vorsichtig steuern, weil wir inmitten von Eisschollen fuhren, und wir kamen nur sehr langsam vorwärts. Für mich waren es qualvolle Minuten!

Da sprang mit einem Male eine der Gestalten auf dem Wrack auf die Reeling und deutete mit heftigen Armbewegungen hinter den Felsenvorsprung hin, auf die Stelle der Bucht, die durch den Block und das Eis verdeckt war.

Ich schüttelte in meiner Aufregung den Steuermann bei den Schultern:

»Mein Gott, rufen Sie ihn an! Vielleicht kann er Sie hören! Schreien Sie, so laut Sie können, Bland!«

Der Steuermann stand auf und wartete, bis eine Welle unser Boot hoch emporhob. Dann brüllte er mit seiner starken Stimme aus Leibeskräften:

»Wie viele seid Ihr?«

Wir lauschten in atemloser Spannung.

»Zwei!« kam endlich die Antwort, kaum hörbar im Tosen der Brandung.

»Wie – viele?« schrie Bland noch einmal.

»Zwei –« klang es jetzt deutlich zurück.

Wie rasend sprang ich auf, aber der Steuermann schleuderte mich auf die Bank zurück.

»Herr – bleiben Sie sitzen!«

Dann hielt er seine beiden Hände wie ein Schallrohr vor den Mund und weithin hallend donnerte seine Stimme über das Wasser:

»Wer – ist – die – Frau?«


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