Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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IV.

Die herzogliche Orangerie zu Ludwigsburg galt, jetzt verschwunden, zur Zeit des Glanzes dieser Stadt für eins der schönsten oder gar für das schönste Werk dieser Art in Europa. Herzog Karl hatte einen lebhaften Sinn für reizende Gartenanlagen, und soweit der französische Geschmack, welcher den des Fürsten vollständig bestimmte und beherrschte, es zuließ, wurde bei Anlegung der Gärten, womit er seine Schlösser umgab, alles getan, um die Reize der Natur ins rechte Licht zu stellen. Das dürfte der passende Ausdruck sein, denn der Triumph der Hortikultur der Rokokozeit bestand bekanntlich darin, daß sie bei »Verschönerung« der Natur dieselbe zu einer mit hoher Frisur, mit Schönpflästerchen, Poschen und Reifrock ausstaffierten Ballschönen machte oder, mit andern Worten, der französischen Regelrichtigkeit chinesisch-barockes Schnörkelwesen zugesellte. Eine freiere und naturgemäßere Auffassung der Gartenkunst hatte zwar zu jener Zeit in England Platz gegriffen und war zugleich mit dem durch die Bodmer-Klopstocksche Dichterschule propagierten Geschmack an englischer Literatur auch nach Deutschland herübergekommen, aber Herzog Karl wäre wahrlich der letzte gewesen, welcher sich es hätte einfallen lassen, die französischen Begriffe von Naturschönheit mit englischen zu vertauschen. Er war wie ein standhafter Verehrer von Boileau so ein nicht weniger standhafter von Le Notre.

In der Ludwigsburger Orangerie konnte man sich plötzlich nach Italien versetzt glauben. Wenigstens hatte man da alles aufgeboten, um eine solche Täuschung hervorzubringen. Die ganze Anlage war das, was man heutzutage einen Wintergarten nennt, aber sie war ein Wintergarten im größten Stile. Der Besucher schritt durch Alleen von Orangenbäumen und wandelte zwischen Hecken von Myrten und Jasmin. In weiten Bassins entfalteten exotische Wasserpflanzen ihre Blütenkelche, in riesigen Volieren flatterten und kletterten farbenglühende Vögel der Tropenzone, und in bizarr phantastischen Grotten spielten allerhand neckische Wasserkünste. Die torhohen, bis zur Erde herabreichenden Fenster sahen auf einen freien Platz von bedeutender Ausdehnung und dieser, nicht das Innere der Orangerie, nimmt jetzt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.

Als Schubart und sein Begleiter auf dem Platze ankamen, fanden sie denselben sehr belebt. Die eleganten Besucher der venezianischen Messe hatten sich ebenfalls hierher begeben und unter den Fenstern der Orangerie gesammelt. Eins derselben war geöffnet, und man erblickte in der weiten Öffnung den Herzog, umgeben von einer Gruppe von Hofherren, die mit abgezogenen Hüten im Halbkreise hinter dem Gebieter standen. Gerade der Orangerie gegenüber war ein Regiment Infanterie aufgestellt, mit ängstlicher Genauigkeit nach dem preußischen Reglement uniformiert: in knappanschließenden Röcken mit zurückgehalten breiten Schößen, Sturmhauben von Blech, Halskrausen und Manschetten, langen, weißgepuderten Zöpfen und schwarzgefärbten Schnurrbärten, mit Sack und Pack, wie zu augenblicklichem Ausmarsch bereit. Der Kommandant, Oberst von Hügel, hielt mit seinem Stabe zu Pferde vor der Front. Der Raum zwischen dem Regiment und der Orangerie war von Zuschauern gesäubert, um den Blick des Fürsten auf seine Soldaten nicht zu hindern, dagegen drängte sich eine neugierige Menge an beiden Seiten des Platzes.

Etwas abseits, an der Ecke der Straße, aus welcher die beiden Männer kamen, trafen sie den jungen Schiller wieder, welcher mit der ganzen Schaulust seines Alters auf die Szene blickte und die bedrohliche Begegnung mit dem Herrn Spezial wahrscheinlich einstweilen vergessen hatte.

»So, bist du auch da?« redete ihn Schubart an. »Hat dich die Angst vor dem Spezial nicht nach Hause gejagt?«

Der Knabe versuchte zu lächeln, aber man konnte ihm wohl ansehen, daß der Titel Zillings gewisse mißliche Ideenverbindungen in ihm anregte.

»Was gibt's denn da, Fritz?« fragte ihn Herr Bechtold.

»Das Kapregiment marschiert aus, Herr.«

»Das Kapregiment? Was ist denn das für ein sonderbarer Name?«

»Oh, gar nicht so sonderbar, werter Freund und Gönner,« bemerkte Schubart. »Das Regiment, eintausend tüchtige Bursche, geht nach Holland und von da nach dem Kap der guten Hoffnung, um dort gegen Hottentotten und Buschmänner und Kaffern zu fechten. Der Herzog, unser gnädigster Herr, hat es an die Holländer verkauft um gute vollwichtige Dukaten.«

»Wie?«

»Ich sagte Ihnen ja, der Herzog sei ein merkwürdiger Münzkünstler. Er liefert tausend Stück Untertanen in die holländische Münze und erhält dafür ganze Säcke voll Dukaten zurück, ein zugleich sehr einfaches und sehr einträgliches Geschäft.«

»Und lassen sich diese Leute freiwillig also verschachern?«

»Die Minderzahl vielleicht, die Mehrzahl gewiß nicht; aber man hat hierzulande allerlei Mittelchen bei der Hand, auch der starrsten Widerwilligkeit den Anstrich von Freiwilligkeit zu geben. – Aber bemerken Sie, wie sinnreich man die Ware gestempelt hat? Die Soldaten tragen zwar das württembergische Wappen auf den Schilden ihres Kaskets, über demselben jedoch das holländische, wie es auch unter solchen Umständen nur recht und billig ist. – Na, Fritz,« fuhr der Poet zu dem Knaben gewendet fort, »hast du in deinem Plutarch auch schon so etwas gefunden?«

»Nein,« entgegnete der Gefragte. »Griechen und Römer würden sich auch nicht haben verschachern lassen.«

»Hast recht, Junge, aber sag's nicht laut! Wahrheit ist ein guter Hund, aber man schlägt ihn auf den Kopf, wenn er zu laut hinter dem Irrtum und dem Unrecht herbellt.«

Der junge Schiller war vielleicht erst durch die Äußerungen Schubarts und die Erinnerung an seinen geliebten Plutarch auf die eigentliche Bedeutung der Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, aufmerksam gemacht worden. Tausend Menschen in die Fremde verhandelt wie eine Herde Schafe! Die Empörung, welche diese Vorstellung in seinem Innern wachrief, warf einen finsteren Schatten auf die blassen, kühngeschnittenen Züge des Knaben.

Es wurde »Gewehr bei Fuß!« kommandiert und »Ruht!«, worauf die steifgezirkelte Haltung des Regiments einer lässigeren wich. Die Offiziere traten zusammen, die Musikbande begann zu spielen und der Herzog ließ den Soldaten den Abschiedstrunk reichen. Lakaien und flinke Schenkmädchen glitten mit mächtigen Weinkrügen und vollen Gläsern durch die Glieder. Es gab da nicht wenige Soldaten, welche mit dem ganzen Leichtsinn ihres Wesens das Glas an den Mund setzten, den Kredenzerinnen einen derben Scherz zurufend; es gab aber auch andere, welche finster vor sich niederblickten und den Trunk verschmähten.

Schubart und Bechtold traten näher hinzu, und der junge Schiller folgte ihnen.

Die Musik hatte eine lustige Tanzweise gespielt. Jetzt stimmte sie eine ernstere Melodie an. »Aha,« sagte Schubart selbstgefällig, »nun kommt mein Anteil an der Szene.«

Und als ihn Herr Bechtold fragend ansah, setzte er achselzuckend hinzu:

»Herzog Karl liebt es, den Dingen einen künstlerischen Anstrich zu geben. Ich habe zum Abzuge des Kapregiments Verse und Musik geliefert – auf Bestellung. Da sehen Sie, werter Freund und Gönner, zu was allem ein deutscher Poet und Musiker sich brauchen lassen muß.«

Die Musik präludierte kräftig, auf ein Kommandowort des Obersten fiel ein starker Chor von Männerstimmen ein, und über den Platz hin scholl das schöne »Kaplied«:

»Auf, auf! ihr Brüder, und seid stark,
Der Abschiedstag ist da!
Schwer liegt er auf der Seele, schwer!
Wir sollen über Land und Meer
Ins heiße Afrika.«

Die haltungslose Sanguinität Schubarts gab sich dabei in auffallendster Weise an den Tag. Für einen Moment durchzuckte ihn der Gedanke, daß es eine bittere Schmach, sein Talent zur Verherrlichung einer solchen Sache hergegeben zu haben; jedoch im nächsten Augenblick schon überwog die Freude des Künstlers an seinem Werk jedes Bedenken, und er sang sein berühmtes Lied herzhaft mit.

Dieses war bis zu der Strophe gediehen:

»An Deutschlands Grenze füllen wir
Mit Erde unsre Hand
Und küssen sie – das sei der Dank
Für deine Pflege, Speis' und Trank,
Du liebes Vaterland!«

als eine furchtbare Unterbrechung stattfand.

Plötzlich krachte in einem der hinteren Glieder des Regiments ein Schuß. Ein wildes, wirres Aufschreien – ein Auseinanderstäuben der Linie – allgemeine Verwirrung. Die Offiziere eilten herbei, die Musik schnappte mit einem grellen Mißton ab. Dann löste sich der Knäuel von Soldaten und Zuschauern, welcher sich an der Stelle, wo der Schuß gefallen, augenblicklich gebildet hatte, und man sah einen der Kapkrieger mit gräßlich zerschmettertem Haupte tot auf dem Pflaster liegen, ganz nahe bei dem Orte, wo unsere drei Bekannten standen.

Der Unglückliche mußte sich die Mündung seiner Muskete in den Mund gesteckt und Mittel gefunden haben, das selbstmörderische Gewehr in dieser Stellung zu entladen. Ein Opfer, vielleicht der Verführung, vielleicht der Gewalt, hatte er diese Stunde gewählt, um mit Wegwerfung seines Lebens gegen jenen Menschenschacher zu protestieren, der, wie jedermann weiß, einer der größten Schandflecken der Geschichte Deutschlands im achtzehnten Jahrhundert war, wenn nicht der größte überhaupt.

»Strick ist entzwei und du bist frei!« sagte Schubart tief ergriffen und mit dem vollen Ausdruck seines leidenschaftlichen Gemütes »Der Sklave hat seine Fesseln für immer gesprengt, aber Wehe über die, welche ihn dazu getrieben.«

Sein Blick schweifte zu dem Fenster der Orangerie hinüber, wo der Herzog stand. Man sah den Fürsten lebhaft mit den Herren seines Gefolges verhandeln, als ob er Erkundigungen einzöge, Befehle erteilte.

Bechtold seinerseits betrachtete mit Erstaunen den jungen Sohn seines Jugendfreundes.

Der Knabe stand da, wie vom Donner gerührt. Totblassen Antlitzes und mit weitgeöffneten Augen starrte er dem Leichnam des Soldaten nach, welcher jetzt von einigen seiner Kameraden rasch weggeschafft wurde. Eine furchtbare Bewegung hatte sich offenbar seiner bemächtigt und machte seine Stirne von großen Schweißtropfen perlen.

War über diese junge Seele einer jener feierlichen Momente gekommen, die, voll bittersten Schmerzes und höchster Weihe zugleich, ein Menschengeschick bestimmen? War in des Knaben Herz einer jener Blitze gefahren, wie die Offenbarungen Gottes zuweilen auf jeden niederzucken, aber nur in auserwählten Seelen eine unauslöschliche Flamme entzünden, eine unzerstörbare Begeisterung entfachen? Hatte zu dieser Stunde vor seinem inneren Auge zum erstenmal die ungeheure Kluft sich geöffnet, welche zwischen Freiheit und Sklaverei, Ideal und Wirklichkeit klafft? Oder durchbebte ihn gar eine dunkle Ahnung von jener befreienden Mission, zu deren Träger das Schicksal ihn auserkoren?

Die Stellung und Gebärde des Knaben erregte jetzt auch Schubarts Aufmerksamkeit.

»Was hast du, Junge?« fragte er. »Was ist dir? Was sinnest du?«

Der junge Schiller blickte auf und verstört um sich. Der Paroxysmus war aber noch nicht vorüber. Der Sturm, welcher in seiner Seele wühlte, machte seine Lippen beben, seine Hände ballten sich krampfhaft, und mit dem Blitz, welcher seinen Augen entfunkelte, brach zugleich aus seinem Munde der Aufschrei:

»In tyrannos!«

Dann wie erschreckt durch die Kühnheit seines Wortes und durch das verwunderte Aufschauen der Leute, schlug er, außer sich, die Hände über den Kopf und stürzte hinweg.

Schubart blickte ihm voll reger Teilnahme nach. Dann sagte er sinnend:

»Haben Sie das Gebaren des Jungen bemerkt, werter Freund?«

»Freilich, der Schrecken über das Gräßliche muß ihn furchtbar erschüttert haben. Er sah drein wie ein Wahnsinniger.«

»Ha, ich meine, ich habe in seinem Auge etwas anderes leuchten sehen als Wahnsinn, etwas wie der göttliche Funke, welcher in der Seele von Sehern und Propheten glüht. – In tyrannos! Armer Junge, du hast da ein Wort gesprochen, welches dich sehr groß, aber auch sehr unglücklich machen kann. Sonderbar, daß mir gerade jetzt einfallen muß, wo gelesen zu haben, das Blut der Opfer der Tyrannei treibe Riesen aus der Erde –«

Kommandoworte tönten über den Platz. Das Regiment ordnete sich, die Musik begann wieder zu spielen, als wäre nichts geschehen. Die Truppen sollten vor dem Herzog defilieren und setzten sich sofort in Marsch. Glied für Glied, Kompagnie für Kompagnie schritt über die kleine Blutlache weg, welche der Selbstmörder auf dem Pflaster zurückgelassen hatte. Dann schwenkte das Regiment, um unter den Fenstern der Orangerie vorüberzumarschieren. Der Kommandant salutierte im Vorüberziehen mit Degenschwenken den Fürsten und rief: »Hoch Se. Durchlaucht!« und »Hoch Se. Durchlaucht!« riefen ihm die Offiziere und »Hoch Se. Durchlaucht!« schrien ihnen die Soldaten nach. Die Musik blies einen schallenden Tusch, dann fiel sie in eine muntere Marschweise, und die Ziehenden stimmten Schubarts Lied »Für den Trupp« an:

»Hell auf, Kameraden! Der krieg'rische Ton
Der Trommeln und Pfeifen ermuntert uns schon.
Frisch, schnallt den Tornister den Rücken herum
Und schickt euch zum Marsche, nur seht euch nicht um.

Denn Abschied von Freunden und Mädchen fällt schwer,
Und weinen ziemt braven Soldaten nicht sehr;
Sie folgen gehorsam des Führers Gebot
Und rüsten sich freudig zum Abschied und Tod.

Scheint nicht auch die Sonn' und der Mond auf dem Kap
Und leuchten die Sterne nicht dorten herab?
Und wehen nicht Winde im blühenden Hain?
Gibt's dorten nicht Wildbret, nicht Fische, nicht Wein?

Auch sagt man, es gebe von rosiger Laun'
Dort Mädels hübsch schwärzlich, hübsch weißlich und braun:
Und haben Soldaten Gold, Mädchen und Wein,
So können die Fürsten nicht glücklicher sein.«


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