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Der leidenschaftlich bewegte Dichter durchrannte mehrere Straßen, unbekümmert, wohin seine Füße ihn trügen. Er befand sich in einem Zustande qualvoller Erregung, und da suchte und fand er in heftiger körperlicher Bewegung einige Linderung. So war er auf die von der großen Allee eingefaßte Straße gekommen, als er plötzlich auf den würdigen Herrn Bechtold stieß, welcher bei einem Bekannten zu Nacht gespeist hatte und jetzt nach seinem Quartier im Gasthause zum Waldhorn hinunter wollte. Schubart schloß sich dem Deutsch-Amerikaner nach flüchtiger Begrüßung an, und die beiden gingen schweigend mitsammen den stillen, mondhellen Weg hin.
Bechtold merkte zwar bald und unschwer, daß sein Begleiter die Beute einer außerordentlichen Bewegung sei. Schon der hastige, unstete Gang des Poeten und sein wildes Hin- und Herwerfen der Arme verriet das. Aber Bechtold hatte von den Yankees, wenn auch sonst vielleicht manches, jedenfalls nicht ihre zudringliche Neugierde gelernt. Und im übrigen hatte er auch gar nicht nötig, Fragen zu tun. Der Tumult in Schubarts Innerem mußte sich einen Ausweg brechen.
»Herr und Freund,« hob der Dichter an, wild, fast schreiend, »ich sage Ihnen, es ist mehr, als Fleisch und Blut erträgt, ich kann es nicht mehr aushalten! Mein Kopf schwindelt, mein Herz zittert, und unter mir brennt der Boden. Ich bin ein Taugenichts, ein Narr, ein schlechter Kerl, ja, ein ganz schlechter Kerl! – O, mein armes gutes Weib! Meine armen Kinder! – Alle Kraft dahin, aller Wille verbraucht! – O, ewiger Gott, erbarme dich meiner! – Ja, ich sagte es: der Boden brennt mir unter den Füßen, ich muß fort von hier, weit fort – muß mich der berauschenden und verzehrenden Atmosphäre dieser Zauberin entreißen, deren Blick mein Herz zu Asche glüht, vielleicht ohne daß sie es weiß, ohne daß sie es ahnt. – Ach, die Weiber, die Weiber! Fluch über sie und dreimal Fluch! – Bin ich nicht der elendeste der Sterblichen? Sagt, Herr, bin ich es nicht? – Ich habe unsägliche Torheiten begangen, bin in beständigem Rausch durch das Labyrinth der Sünde geirrt. Und nun zeigt mir der Engel der Reue mit seinem flammenden Schwert ein Paradies, welches ich nie betreten soll. O, bitter, bitter! – Aber meine hiesige Stellung ist unhaltbar geworden, ich muß weit weg, fort, fort! Wohin soll ich meine Schritte lenken, um in Elend zu sterben? Wo wird der ewige Richter meinen Ruf erhören: Ihr Berge fallet über mich, und ihr Hügel decket mich zu!«
Der unglückliche Mann hatte diese Klage und Selbstanklage unbeschreiblich rasch und heftig hervorgesprudelt. Jetzt lehnte er sich erschöpft an einen Baum und schluchzte wie ein Kind.
Herr Bechtold hatte während seiner kurzen Bekanntschaft mit Schubart schon mehr als einmal Gelegenheit gehabt, Zeuge leidenschaftlicher Ausbrüche desselben zu sein. Allerdings so ganz aus Rand und Band, wie heute, hatte er ihn noch nicht gesehen; allein er hielt es auch jetzt für das Rätlichste, den Anfall einigermaßen vertoben zu lassen, bevor er sich einmischte. So blieb er denn eine Weile schweigend neben dem Dichter stehen. Dann nahm er ihn teilnehmend bei der Hand und führte ihn weiter, indem er sagte:
»Beruhigen Sie sich, lieber Schubart. Ihre lebhafte Phantasie malt Ihnen die Dinge zu grell. Freilich kann und will ich Ihnen nicht verschweigen, daß auch ich glaube, Ihre Situation am hiesigen Orte sei eine bedenkliche und unhaltbare; aber ich meine, gerade dieser Umstand müsse eine heilsame Wendung Ihres Geschickes herbeiführen.«
Schubart legte seinen Arm in den des Freundes und gewann im Weitergehen allmählich seine Fassung wieder. Die ruhige, aber herzliche Teilnahme, welche aus den Worten des würdigen Mannes sprach, tat ihm wohl.
Bechtold fuhr fort:
»Wenn ich offen sein soll, so muß ich sagen: ich beklage nicht so fast die Unhaltbarkeit Ihrer äußerlichen Stellung als vielmehr Ihre innerliche Zerfahrenheit. Ich beklage diese um Ihrer selbst und um unseres Landes willen, welchem Ihre reiche Begabung zugute kommen sollte. Sie verzetteln Ihre schönen Talente hier unter den Hofleuten, Künstlern und Komödianten, ohne am Ende höhere Anforderungen zu befriedigen. Mir scheint, Sie haben Ihre wahre Bestimmung noch gar nicht begriffen und erfaßt, und wenn Sie es gestatten, möchte ich Ihnen einen hierauf bezüglichen Vorschlag machen.«
»Heraus damit! Ich fühle, daß Sie eine wahrhaft freundschaftliche Gesinnung für mich hegen.«
»Gewiß, das tue ich, und so lassen Sie mich denn sagen, daß mir scheint, die ganze Anlage Ihres Wesens und Ihrer Talente bestimme Sie zum Publizisten. Blicken Sie nur nach England und hinüber nach Amerika, und Sie werden erkennen, welche große und wohltätige Macht die publizistische Presse üben kann und wirklich übt. Reißen Sie sich aus Ihren verwilderten hiesigen Verhältnissen heraus und unternehmen Sie es, unseren Landsleuten, welche besonders in politischer Beziehung noch geradezu auf der Bildungsstufe der Kindheit stehen, eine Zeitschrift zu geben, welche dieselben einmal die Stimme der Wahrheit und Vernunft vernehmen läßt.«
»Ein Publizist, ein Zeitungsschreiber soll ich werden? Kein Gewerbe kann gefährlicher sein zu dieser Zeit, wo ein feuriger Kopf wie der meinige am wenigsten geduldet wird. Vor Mächtigen, auch wenn sie Bösewichter sind, den Fuchsschwanz streichen, jedes gnädige Kopfnicken und etwaige matte Zeichen des Menschengefühls mit einer Doppelzunge austrompeten, jedem Geldsack einen Bückling machen, den Parteigeist desjenigen Ortes, wo man schreibt, nie beleidigen, den Kaffeehäusern was zu lachen und dem Pöbel was zu räsonnieren geben; auf der andern Seite die Parteien des Parnassus genau kennen und da entweder im trägen Gleichgewichte bleiben oder mutig mitkämpfen: das sind Gesetze, die für mich zu hoch und rund und für die ich weder Geduld noch Klugheit genug besitze.«
»Sachte, sachte, lieber Freund. Das Amt eines Publizisten ist kein Rosenbett, es ist von Anfechtungen aller Art umlagert, darüber bin ich mit Ihnen einverstanden. Aber meine Ansicht von der Pflicht eines Publizisten ist eine etwas andere als die von Ihnen vorgebrachte, und welche bedeutende Wirksamkeit aus der tüchtigen Erfüllung dieser Pflicht hervorgehe, habe ich anderwärts zu sehen sattsam Gelegenheit gehabt. Deutschland und unser Süddeutschland insbesondere hat eine zugleich unumwundene und populäre Kritik der politischen, literarischen und religiösen Zustände dringend nötig, und Sie sind ganz der Mann dazu, diese Kritik publizistisch zu üben.«
»Deutschland? Was sollte Sie dieses Land noch kümmern?«
»Welche Frage! Der müßte doch ein herzloser Tropf sein, ein ganz roher und schlechter Mensch, der je aufhören könnte, das Land zu lieben, wo seine Vorfahren gelebt haben und in dessen Sprache er zuerst seine Empfindungen ausdrücken lernte. Freilich finde ich, daß die Vaterlandsliebe in Deutschland dermalen, wo sie sich äußert, wunderliche Formen anwendet. Der Klopstocksche Teutonismus, wie ich ihn im deutschen Norden grassieren fand, kann meinem Urteil nicht zusagen; er ist mir viel zu inhaltslos und unreal und kommt mir sogar geradezu läppisch vor. Unsere Zeit verlangt andere Kost als Tacitussche Eichelmast und hirnloses Bardengebrüll, wie es dermalen da und dort angeschlagen wird. Das rein menschliche, das humane, wofür mir unser Volk vorzugsweise begabt zu sein scheint, ringt nach Licht und Berechtigung auf allen Gebieten. Wohlan, wirken Sie nach Ihren Kräften dazu mit, ihm jenes und diese zu verschaffen.«
»Ihre Aufforderung ist fürwahr eine große Lockung. – Aber, entschuldigen Sie, Sie scheinen mir gegen unseren herrlichen Klopstock ungerecht zu sein. Der Mann hat doch einen gewaltigen Anstoß gegeben; er hat ja die Literatur, welche tief in Gemeinheit versunken war, wieder zu ihrer Würde erhoben, er hat zuerst wieder aus deutscher Brust vom deutschen Vaterland gesungen und gesagt.«
»Fern sei es von mir, die Verdienste des gewiß groß und patriotisch denkenden Mannes antasten zu wollen. Wollte ich auch, so könnte ich nicht, weil ich mir gar nicht die Befähigung zutrauen darf, über spezifisch literarische Fragen abzuurteilen. Wenn ich sagte, der Klopstocksche Teutonismus gefiele mir nicht, so wollte ich damit nur andeuten, daß meines Erachtens die Vaterlandsfreunde, statt nach den altdeutschen Wäldern zurückzusehen, mit klarem Auge in die Gegenwart blicken sollten. Sofern nicht alle Symptome trügen, schickt die Zeit dermalen sich an, wieder einmal einen tüchtigen Schritt vorwärts zu tun. Muß es für einen Mann von Ihren mannigfaltigen Gaben nicht ein Anreiz, ja eine Notwendigkeit sein, an der allerwärts sich kundgebenden Bewegung teilzunehmen, mit an ihre Spitze zu treten, sie zu fördern nach allen Seiten hin? Ist es nicht ein schönerer Beruf, gleichsam ein Lehrer und Anwalt eines ganzen Volkes zu sein, als einer versumpften Gemeinde Psalmen oder auch Opernarien vorzuorgeln und den Gelegenheitsdichter für Hofleute zu machen, die Sie im Grunde doch nur als einen zeitvertreibenden Lückenbüßer in der Langeweile ihrer nichtigen Existenz ansehen? Noch einmal, Schubart, sag' ich: Lassen Sie den Ludwigsburger Quark und schreiben Sie ein Zeitblatt, das unseren Landsleuten ein Licht aufsteckt.«
»Beim Himmel, Freund, Ihr Vorschlag mutet mich außerordentlich an!« rief der Poet aus, dessen bewegliches und entzündliches Naturell an der Idee des Deutsch-Amerikaners Feuer fing.
»Nun wohl, so halten Sie diesen günstigen Eindruck fest, mein Freund, und gehen wir sogleich daran, den Vorsatz zur Tat zu gestalten. Was meinen Sie, was für einen Titel wollen Sie Ihrer Zeitschrift geben?«
»Warten Sie, warten Sie! – Ha, ich hab's! Deutsche Chronik soll sie heißen, zum Zeichen, daß ein deutscher Patriot sie schreibt, dessen Blick und Gefühl über alle die armseligen Grenzpfähle, womit sie unser teures Vaterland verschändet haben, hinausreicht und die ganze große Heimat deutscher Nation umfaßt. Ja, und gegen die Tyrannen groß und klein, gegen die ledernen Philister und Kotseelen, gegen die verräterische Rotte der Dunkelmänner, gegen welche schon der Ulrich von Hutten vorzeiten so mannhaft gefochten hat, soll die Deutsche Chronik angehen, daß es eine Art hat.«
»Gut, so gefallen Sie mir. Aber vergessen Sie nur nicht, der Begeisterung die Ausdauer, dem Eifer die Besonnenheit zu gesellen. Tun Sie das, so prophezeie ich Ihrem Unternehmen eine Wirkung, welche Ihnen den Dank der Zeitgenossen und die Achtung der Nachwelt sichert.«
»Bester Freund, wie haben Sie mich getröstet und aufgerichtet! Ach, ich war heute abend der Verzweiflung nahe! Und nun tun Sie mir, ich bitte, noch den Gefallen, auf das Gelingen des Vorsatzes, für dessen Anregung ich Ihnen ewig dankbar bin, ein Glas mit mir zu leeren. Es ist noch gar nicht spät, und gleich da drüben steht das Wirtshaus zur Kanne, wo man einen Extra-Guten schenkt.«
Als Bechtold zögerte, dieser echt Schubartisch leichtsinnigen Laune nachzugeben, setzte der Poet hinzu:
»Ich kann wahrhaftig nach einem an Erlebnissen und Gemütserschütterungen so reichen Tage nicht zu Bette gehen, ohne mir vorher das Herz mit Wein zu kühlen. Und wissen Sie, wir wollen es machen wie unsere Altvordern, welche nichts Wichtiges unternahmen, ohne einen guten Trunk vorausgehen zu lassen, gleichsam als Vorweihe.«
»Wohl!« versetzte Herr Bechtold nachgebend, »Sie sollen für heute Ihren Willen haben. Indessen muß ich Ihnen doch bemerken, daß ich glaube, unsere Altvordern würden für sich selbst und ihre Nachkommen besser gesorgt haben, wenn sie weniger getrunken und mehr gehandelt hätten.«