Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel.

Autor erspart seinen zarten Leserinnen eine unangenehme Überraschung. – Die »Höhle« auf dem kleinen Graben. – Ein Dichterporträt. – Der Furierschütz Kronenbitter. – Die Geschichte von der ausgeronnenen Flasche. – Dichterstolz. – Vorbereitungen zu einem lukullischen Mahl. – Shakespeare und kein Ende. – Vom Kaiser Josef und vom Wolfgang Goethe.

»So, jetzt wäre der Sklave für den Rest des Tages sein eigener Herr!« sagte der Dichter, während er mit seinem Freunde Raleigh – der junge Zuccato hatte sich entfernt – die Stiftskirche entlang dem Marktplatze zuging.

Und er richtete sich hoch auf und machte große Schritte, als dränge es ihn, möglichst schnell aus der Stadtgegend wegzukommen, wo er so oft einen Figuranten bei einem in seinen Augen unnützen Schauspiel abgeben mußte.

Der Deutsch-Amerikaner blickte ihn mit großer Teilnahme an und sagte lächelnd:

»Lieber Schiller, wenn ich dich so den Kopf aufwerfen und der Muttererde oder vielmehr dem Pflaster dieser Residenz die Fußtritte souveräner Verachtung geben sehe, fällt mir ein, daß eine hiesige Dame dieser Tage zu mir gesagt, der Regimentsmedikus Schiller trete einher, als wäre der Herzog von Württemberg der geringste seiner Untertanen.«

»Dummes Zeug!« brummte der Dichter und fuhr fort, mit langen Beinen vorwärts zu streben.

Sie gingen über den Markt, und bei der Brücke über Stuttgarts Hauptstrom, den nicht im besten Geruche stehenden Nesenbach, wollte sich Raleigh verabschieden, um linkshin nach dem damals sehr fashionablen Gasthofe zum Bären sich zu wenden, wo er sein Quartier hatte. Schiller war jedoch anderer Meinung.

»Lieber William,« sagte er, »ich habe dir nun schon so oft die Ehre angetan, im Bären dein Gast zu sein, daß du mir Revanche schuldig bist. Komm mit in meine Höhle. Mein Stubenbursche Kapff ist auf Wache und wir können also nach Herzenslust plaudern, wozu wenigstens ich sehr aufgelegt bin. Ein sybaritisches Mahl kann ich dir allerdings nicht versprechen, wohl aber ein spartanisches. Auch muß, vermut' ich, noch 'ne Bouteille von dem halben Dutzend da sein, welches mir der Hoven vorgestern aus Ludwigsburg schickte.«

Die Einladung wurde ohne weiteres angenommen, und die beiden Freunde gingen, statt die Brücke zu passieren, rechts hinauf nach dem kleinen Graben, welcher heutzutage in die Eberhardsstraße umgewandelt ist. Dort besaß damals der Professor Haug zwei Häuser, in deren einem er die meisten Räume an die Frau Hauptmännin Vischer vermietet hatte. Diese wiederum hatte die vorrätigen Zimmer an Aftermieter abgegeben, und eins derselben hatte der Regimentsmedikus Schiller inne, gemeinschaftlich mit seinem früheren Akademiegenossen und jetzigen Freunde Kapff, Leutnant im Gablenzischen Infanterieregiment.

Nun aber sage uns der kategorische Imperativ, daß wir verpflichtet seien, unsere zarten Leserinnen vor einer mißlichen Ueberraschung möglichst zu bewahren. Bevor wir sie nämlich in die Dichterklause führen, halten wir ihnen folgende kurze Rede:

Sie, meine Zarten und Zartesten, verbinden mit dem Namen Schiller stets die Vorstellung des Idealischen und zwar mit vollstem Recht. Denn kein Dichter gebietet in dem Grade wie er über jenen Zauber, welcher die Seele über das Werkeltägige und Gemeine hoch emporträgt in die Ätherregionen der Ideale. Daher kommt es, daß Sie es lieben, Ihren Lieblingsdichter – daß er das den deutschen Frauen noch immer sei, setze ich kühn voraus – in idealischen Umgebungen zu denken. Aber, meine Verehrtesten, im Jahre 1782 war Schiller noch der geniale Unband, welcher soeben das wildflammende Meteor »Die Räuber« in die Welt geschleudert hatte. Allerdings brach die ihm angeborene vornehme Natur, jener einzige echte Aristokratismus, der des Geistes, schon jetzt vielfach bei ihm durch, aber daneben war der junge Dichter doch ein armer Teufel von Regimentsfeldscherer, welcher darauf angewiesen war, mit einem monatlichen Einkommen von achtzehn Gulden sein Auskommen zu bestreiten. Da nun das Einmaleins unwiderlegbar dartut, daß mit einer solchen Einnahme sich schlechterdings nicht so en grand train leben ließ, wie in unseren Tagen, allenfalls ein literarischer Fabrikant und Spekulant in Paris oder ein versemachender Lord in London tun kann, so werden Sie, meine Zartesten, es vielleicht unterlassen, über die »Höhle« unseres Dichters die Naschen zu rümpfen. Ich mache Sie ferner darauf aufmerksam, daß der Kreis, in welchem unser Dichter zu der in Rede stehenden Zeit sich bewegte, ein kraftgenialischer war, das heißt ein Kreis von jungen Männern, in welchem der subjektive Befreiungsdrang stürmisch nach Ausdruck in adäquater Form rang. Diese Kraftgenies, welche die siebziger und teilweise noch die achtziger Jahre des vorvorigen Jahrhunderts oder wenigstens die deutsche Literatur jener Zeit mit dem Tumult ihres Ansturms auf alle die Zwinguris des Unsinns und der verrotteten Philisterei erfüllten, waren keine Glanzhandschuhemenschen, keine fühlsamlichen Goldschnittsdichterlein. Sie waren nicht salonfähig, im heutigen Sinne des Wortes, diese »Stürmer und Dränger«. Sie waren wie brausender Most, der in wilder Gärung nach Klärung rang. Wir würden uns daher einer ebenso schweren als albernen Sünde gegen die Geschichte schuldig machen, wollten wir unserem Dichter hier das Gebaren und die Redeweise anlügen, wie sie in Büchern daheim, die in unsern Mädchenpensionen von heute besonders beliebt sind. Wir können nichts dafür, daß jene Zeit keine so naturverlassene, verbildete und verlogene war wie unsere eigene.

Der Dichter stieß die Türe auf und ließ den Freund in ein Gemach treten, dessen burschikose Unordnung mit der gesucht eleganten in den Behausungen unserer heutigen Genies durchaus keine Ähnlichkeit hatte. Ein großer Tisch, zwei plumpe Bänke, an der Wand ein kleines ärmliches Stehpult, worauf ein sehr zerlesenes Exemplar von Klopstocks »Oden« lag, darüber ein schmales Bücherbrett mit wenigen Bänden, in einer alkovenartigen Vertiefung hinter einer sehr defekten spanischen Wand zwei sogenannte Feldbetten, das war so ziemlich das ganze Mobiliar der »Höhle«. Ein Kleiderhaken an der Wand zeigte eine sehr fragmentarische Garderobe. In einem Winkel des Zimmers lag allerlei Schuh- und Gamaschenwerk aufgehäuft, in einem andern machte sich eine sehr verwickelte Sammlung von leeren Bouteillen, Gläsern, Tellern, Kartoffeln, Tabakspfeifen und dergleichen mehr breit, in einem dritten brütete ein Ballen Druckpapier, zurückgebliebene Exemplare der »Räuber«, welche ja der Verfasser auf eigene Kosten hatte drucken lassen müssen. Über allen diesen schönen Sachen lastete die schwere Atmosphäre von Tabaksrauch, der keineswegs nach einer feinen Sorte roch.

Und doch war in diesem Zimmer, wo Armut und Sorglosigkeit mitsammen wirtschafteten, wieder etwas, das, nicht in bestimmte Worte zu fassen, dem für solche Wahrnehmungen Empfänglichen verriet, es hause hier ein nicht gewöhnlicher Mensch. Nicht allein Jugend und Schönheit lassen überall, wo sie weilen, Spuren ihres Zaubers zurück, auch der Genius adelt durch seine Berührung selbst das Gemeinste.

Mit seinem Gast eingetreten, fuhr Schiller hinter die erwähnte spanische Wand, und man hörte von dorther ein Geräusch wie von einem Menschen, welcher seine Kleider hastig von sich schleudert.

Raleigh öffnete inzwischen eins der zwei niedrigen Fenster, um den Tabaksdunst hinaus und die Frühlingssonne herein zu lassen. Dann sagte er, das Zimmer überblickend:

»Meiner Treu, lieber Freund, ich glaube, die liebenswürdige und eindringliche Predigt, welche ich dir deine treffliche Mutter über den Text Ordnung und Sauberkeit unlängst an dieser Stelle halten hörte, hat noch nicht sehr angeschlagen.«

Schiller brummte hinter der spanischen Wand etwas von einer verwünschten Degenkoppel, welche dann mitsamt dem Degen zu Boden klirrte. Hierauf ließ' er sich verlauten:

»Ich glaube fast, du hast recht. Es war immer ein schweres Kreuz für meine gute Mutter, daß ich sozusagen gar kein Organ für die Reinlichkeit habe. Ich vermute, diesem Mangel wurde nicht dadurch abgeholfen, daß der konfiszierte Kerl, der Inspektor Rieß, unser Quälgeist in der Akademie, weißt du? mich meiner Unsauberkeit wegen jahrelang hudelte. Hol ihn der Teufel! – Ich nahm zwar mal einen Anlauf, mich auf die Eleganz zu verlegen, damals als die Turbinella – doch das gehört nicht hierher. Seither ist's wieder den alten Weg gegangen, um so mehr, da mein Stubenbursch, der Kapff, auch kein Ordnungsgenie ist. – So, jetzt bin ich endlich aus dem steifen Malefizzeug herausgeschält, und nun wollen wir sehen, was Küche und Keller der edlen Sozietät Kapff und Schiller aufzubringen vermögen.«

Er kam hinter der spanischen Wand hervor, sehr zu seinem Vorteil verändert, denn er hatte mit dem Ordonnanzhut zugleich auch die Vergipsung seines Kopfes abgelegt. An die Stelle der Uniform war eine Art weiten Hausrocks getreten, welcher, wenn auch an verschiedenen Stellen schadhaft, den Gliedern seines Trägers eine freiere Bewegung gestattete. Er war freilich kein Adonis, der junge Dichter der »Räuber«, aber jetzt, nach Entfernung der feldschererlichen Vermummung, auch in seinem Äußeren eine interessante Erscheinung, ungelenk zwar noch immer, aber nicht mehr barock. Ein Zeitgenosse von ihm, der ihn damals täglich sah, hat mit liebevoller und doch nicht schmeichelnder Hand dieses Porträt von ihm entworfen:

Schiller war von langer, gerader Statur, lang gespalten, langatmig, seine Brust heraus und gewölbt, sein Hals sehr lang. Sein Gebaren hatte etwas Steifes, seine Tournüre nicht die mindeste Eleganz. Seine Stirne war breit, die Nase dünn und knorpelig, weiß von Farbe, in einem merklich scharfen Winkel vorspringend, sehr gebogen und spitzig. Die roten Augenbrauen über den tiefliegenden dunkelgrauen Augen neigten sich bei der Nasenwurzel zusammen. Diese Partie des Gesichts hatte sehr viel Ausdruck und etwas Pathetisches. Der Mund war ebenfalls voll Ausdruck, die Lippen waren dünn, die untere ragte von Natur etwas hervor; es schien aber, wenn Schiller mit Gefühl sprach, als wenn die Begeisterung ihr diese Richtung gegeben hätte, und sie drückte dann sehr viel Energie aus. Das Kinn war stark, die Wangen waren blaß, eher eingefallen als voll und ziemlich mit Sommersprossen besäet. Der Kopf, mit buschigem Haar von dunkelroter Farbe besetzt, war eher geistermäßig als männlich, hatte aber viel Bedeutendes und Energisches, auch in der Ruhe, und war ganz affektvolle Sprache, wenn Schiller einer erhöhten Stimmung Worte gab.

Der Freund blickte den Dichter voll Teilnahme an und sagte:

»Was ihr Leute in der alten Welt euch doch Mühe gebt, euch zu verkleiden! Mir ist oft, als wäre das ganze, Leben hier nur eine Verkleidung. Und das nennen sie Geschmack, Ordonnanz, Reglement und dergleichen mehr. Man erkennt erst, wie und was ihr eigentlich seid, wenn ihr die ewige Uniform ausgezogen habt.«

»Die ewige Uniform – ja, das ist der Jammer! Seit zehn Jahren preßt mich nun das verdammte Monturzeug! Erst wurde ich von dem Herzog in der Akademie in die Uniform eines Juristen in spe kommandiert, dann in die eines Mediziners, endlich in die eines armseligen Feldscherers. Aber ich habe das Kommandiertwerden herzlich satt, schon lange.«

»Das bezeugen deine ›Räuber‹ laut genug.«

»Wie sollten sie nicht? Das Stück mußte ein wilder Protest werden gegen den verhaßten Zwang, den ich soviele Jahre hindurch erduldet. Glaub' mir, William, was auch die Narren über meinen Dichterstolz faseln, ich täusche mich keineswegs über den Wert meines Erstlings. Damals, als der Beifall der Menge im Mannheimer Theater mich umtobte, tat ich es einen Augenblick; aber seither hab' ich das Ding mit parteiloseren Augen geprüft und ich weiß jetzt, es ist nur ein roher Bastard, gezeugt in der wilden Ehe des Genius mit der Subordination.«

»In dieser Selbstkritik ist Wahrheit, scheint mir; aber trotzdem, lieber Freund, wollen wir nicht vergessen, daß man sagt, Bastarde seien meist tüchtigere Bursche als die legitimen Kinder. Du hast das Zeug in dir, Besseres zu schaffen, aber die ›Räuber‹ werden bleiben.«

»Sie werden bleiben, ja. Ich habe Selbstgefühl genug, mir zu sagen: es ist etwas Dauerndes in dem Stück, die Signatur der Zeit, die ihm das Leben gab. Sie werden bleiben, als eine Kuriosität der deutschen Literatur. Doch da stehen wir und schwatzen, während Wichtigeres zu tun ist.«

Er ging zur Türe, öffnete sie und rief hinaus:

»Kronenbitter, heda, Kronenbitter! – Schwerenot! – Wo hat der Teufel wieder mal den Kerl?«

»Hier, Herr Doktor, hier!« ließ sich eine dünne, schrillende Stimme vom Hausflur her vernehmen, und allsogleich fuhr der Besitzer dieser Stimme in das Zimmer herein, was auszuführen er unter der Türe sich gewaltig bücken mußte.

Es war eine wunderliche Figur.

Des Mannes unmäßig lange, hagere, hölzerne Gliedmaßen schienen vor den verschiedenen Stücken seiner Grenadiermontur überall auf der Flucht zu sein, und zwar nicht ohne Grund, denn diese Montur war trauriges Flickwerk. Auf schmalen Schultern saß dem Furierschützen Kronenbitter, welchen sich der Regimentsarzt Schiller aus den zweihundertvierzig Grenadieren des Regiments Augé zum Aufwärter auserwählt hatte, ein enorm großer Kopf, auf welchen der Vers im Volkslied:

Es stand eine Linde im tiefen Tal,
        War unten breit und oben schmal –

ganz genau paßte, denn die Form desselben war die eines Zuckerhutes. Stirne, Augen, Nase, Wangen und Kinn waren rein nur Nebensachen in dem Gesicht, sozusagen gar nicht der Rede wert. Sie hatten nämlich keine Gelegenheit gehabt, zu naturgemäßer Entwickelung zu gelangen, weil ein Ungeheuer von Mund ihnen allen Platz wegnahm. Dieser Mund reichte fast von einem Ohr zum andern und war mit einem Gebisse versehen, welches Stein und Bein zermalmen zu können schien und recht lebensgefährlich aussah. Mit der ungeschlachten Riesenhaftigkeit der ganzen Erscheinung kontrastierte das feine, dünne, weinerliche Stimmchen des Burschen, dessen Gesichtsausdruck im übrigen den echt nationalschwäbischen Typus verriet. Furierschütz Kronenbitter, dazumal in Stuttgart ein berühmter öffentlicher Charakter, wenigstens soweit das Territorium der Schillerschen »Bande« reichte, war in der Tat ein Urschwabe, halb Schalk, halb »Latsche«.Dieser Provinzialismus ist im Hochdeutschen nicht wiederzugeben. Es gibt ohne Zweifel auch außerhalb Schwabens »Latsche«. Aber um zu wissen, was ein echter und gerechter Latsche ist, muß man schlechterdings in Schwaben gelebt haben.

Der Kronenbitter stand gerade und steif wie ein Bolz vor seinem zeitweiligen Gebieter.

»Mein Freund ist bei mir zu Gast,« sagte Schiller kurz. »Wir müssen ein Mittagessen haben.«

»Sehr wohl, Herr Doktor.«

»Auch eine Flasche Wein.«

»Sehr wohl.«

»Schaff' alles herbei!«

»Sehr wohl.«

»Marsch!«

Der Kronenbitter rührte sich nicht von der Stelle.

»Nun, was soll's, du Kaliban? Wurst, Kartoffelsalat und Brot holst du im Ochsen. 's ist ja nur ein paar Schritte hin. Eine Flasche Wein muß noch da sein.«

Der Kronenbitter schüttelte so kummervoll das Zuckerhuthaupt, daß Raleigh nur mit Mühe das Lachen verhielt.

»Donner und Doria!« fuhr der Dichter auf, »hat der Kapff rücksichtsloserweise die letzte der Hovenschen Flaschen ausgetrunken.«

Der Furierschütz schüttelte abermals das Haupt und versetzte bedächtig:

»Der Herr Leutnant mußte, wie der Herr Doktor wissen, heute sehr früh heraus. War wild, der Herr Leutnant, als er Licht machen wollte und keinen Leuchter nicht fand. Suchte ich da nach einem. Dort ist er.«

Er streckte einen seiner unendlichen Arme aus und wies mit einem unendlich langen Zeigefinger nach dem Tisch, worauf eine leere Flasche stand, die einer halb herabgebrannten Talgkerze zum Halter diente.

»Die Flasche ist leer, du Halunk!«

»Ja,« entgegnete der Kronenbitter mit großer Gemütsruhe, »in der Dunkelheit hab' ich statt einer leeren die volle Bouteille erwischt, und weil der Herr Leutnant so gar pressiert war und nach einem Leuchter schrie, ließ ich sie in der Geschwindigkeit ausrinnen.«

»Ausrinnen, du Schurke?«

»Ja,« fuhr der Furierschütz mit der dummpfiffigsten Miene fort, die er aufzuwenden hatte. »Hab' sie ausrinnen lassen, die Bouteille, und weil ich hab' gedacht, daß es Sünde wäre, so 'ne Gottesgabe auf den Boden laufen zu lassen, und weil mein Maul gerad' in der Nähe war, so –«

»So ließest du den Wein in dein Eselsmaul rinnen. Hat man je einen solchen Schuft gesehen? Der Kerl ärgert mich noch zu Tode. Ich sag' dir, du Behemoth, ich werde Sorge tragen, daß du dafür auf die Latten gelegt wirst.«

Raleigh lachte, denn es gewährte einen komischen Anblick, wie der Dichter wild gestikulierend im Zimmer umherfuhr und der Kronenbitter mit unzerstörbarer Ruhe und Steifheit seinen Platz behauptete. Der Mann, welcher dem Stubenburschen seines Herrn auf so sinnreiche Weise zu einem Leuchter verholfen hatte, wußte ganz gut, daß die Drohung mit den Latten auch diesmal nicht in Erfüllung gehen werde.

»Nun, was stehst du noch da, als wärest du angenagelt?« fuhr ihn der Dichter an. »Mach, daß du fortkommst und Essen und Trinken herbeischaffst. Sag dem Meister Dickbauch, dem Ochsenwirt, ich müsse eine Bouteille von seinem Uhlbacher haben, und der Ochsenwirtin, sie solle auch tüchtig Eier an den Salat tun.«

»Sehr wohl, Herr Doktor, aber –-«

»Was aber?«

»Der Meister Dickbauch Ochsenwirt ein gar so arliger Kerl – hm, nun – wissen Sie –«

Und er machte mit Daumen und Zeigefinger die Gebärde des Geldzählens.

»Schwerenot!« brummte Schiller. »Ich hab' jetzt keins. – Er soll's zum übrigen schreiben.«

»Sehr wohl, aber der Meister Dickbauch meinte schon vergangene Woche, es hätte auf der Tafel nichts mehr Platz.«

Raleigh näherte sich dem Riesen, um ihm verstohlenerweise Geld in die Hand zu stecken, welche sehr bereitwillig sich auftat. Aber der Dichter bemerkte es und sagte mit Entschiedenheit:

»Nichts da! Tu die Hand weg, du ewiger Schwerenöter und Saufaus! – Ich habe mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß du heute mein Gast sein sollst, lieber William. Also keine Großmut! Sie würde mich beleidigen. – Marsch, Kronenbitter! Will der Ochsenjörgle Umstände machen, so meld' ihm von mir, die Bande werde ihm den roten Hahn aufs Dach schicken. Oder noch besser, geh zur Ochsenwirtin. Sie ist eine gescheite Frau und hält was auf uns Leute von Geist.«

Der Furierschütz salutierte und witschte mit einem Schritt seines beispiellosen Gangwerkes zur Türe hinaus.

»Lieber Schiller,« sagte Raleigh, »es ist unfreundlich von dir, mich nicht für deine Bedürfnisse sorgen zu lassen. Hat dich nicht mein armer Bruder Georg, für den du so viel getan, den du mit so großer Aufopferung während seiner Krankheit gepflegt, in jenem Brief, den er mit schon halb vom Tode erstarrter Hand schrieb, meiner Dankbarkeit und Liebe empfohlen? Du hast neulich mein gewiß von Herzen gekommenes Anerbieten, einen Teil, meines Überflusses von mir anzunehmen, barsch zurückgewiesen. Du hast hierfür Gründe angegeben, die ich ehre; aber –«

»Aber, bester William, du meinst, es wäre schicklicher, dir etwas schuldig zu sein, als dem Ochsenwirt? Das bestreite ich. Der Ochsenjörgle wird dafür sorgen, daß ich ihm nie mehr schuldig werde, als ich zu bezahlen imstande bin. Mit dir wäre es etwas ganz anderes. Ließ ich mich einmal darauf ein, von deiner brüderlichen Freigebigkeit Gebrauch zu machen, so würde ich dir bald mehr englische Pfunde abgepumpt haben, als ich dir deutsche Batzen zurückzahlen könnte. Laß daher, ich bitte dich, diesen Punkt ein für allemal zwischen uns abgetan sein. Gewiß, käme ich einmal in wirkliche Not, du wärest der Mann, welchem verpflichtet zu sein meinen Stolz am wenigsten demütigen würde. Aber von so einem dringlichen Fall ist ja noch überall keine Rede. Nein, rede mir nicht mehr davon! Ich weiß, du meinst es herzlich gut; du würdest, was du mir heute gäbest, morgen schon vergessen haben. Aber wahre Freundschaft muß Gleichheit zur Grundlage haben; nicht, die des Besitzes, aber die der Gesinnung. Ich achte deine Großmut, du laß mir den Stolz der Unabhängigkeit. Es ist nun einmal mein Schicksal, auf die eigene Kraft angewiesen zu sein, und ich will es tragen wie ein Mann.«

Das war nun so ein Sonnenblick angeborener Vornehmheit und lauteren Seelenadels, wie sie den Gewitterhimmel von Schillers Sturm- und Drangperiode oft durchbrachen. Raleigh war zu zartfühlend, als daß er, wenigstens für jetzt, weiter in den Freund gedrungen wäre, von seinen großmütigen Anerbietungen Gebrauch zu machen. Überdies kehrte der groteske Furierschütz bald zurück, und das vergnügliche Feixen seines ungeheuerlichen Mundes verriet sogleich, daß seine Mission wider Erwarten erfolgreich gewesen:

Schiller räumte die »ausgeronnene« Flasche und den improvisierten Leuchter vom Tisch und besetzte diesen, mit einer sehr fragmentarischen Sammlung von Speisegeräten. Es gab viel Gesuche, bis endlich eine Art Serviette auf den Tisch gebreitet war und auf diesem Tafeltuch zwei Teller, etliche Gabeln und Messer, ein wackeliges Salzfaß, eine leere Pfefferbüchse, ein großes Paßglas und ein kleines Trinkkrüglein aus Steingut prangten.

Nun packte der Kronenbitter den mitgebrachten Handkorb mit nicht geringem Selbstgefühl aus und brachte Schätze zum Vorschein, welche in der »Höhle« nicht, alle Tage zu sehen waren. Da war nicht nur die obligate Knackwurst, sondern auch der Teller mit verführerisch duftenden Schinkenschnitten und gar ein weiterer mit kaltem Braten. Der Salat war königlich bereitet, denn seinem gemeinen Kartoffelstoff waren vornehmere Bestandteile, Rapunzelnblätter, Eier und Heringsstückchen beigemischt. Es fehlte auch nicht an ein paar appetitlichen Brötchen, und endlich erschienen statt der begehrten Flasche rotem Uhlbacher gar deren zwei. Ein Mythus will sogar wissen, es sei den beiden Flaschen ursprünglich eine dritte gesellt gewesen, die habe aber der unglückliche Kronenbitter unterwegs geschwind »ausrinnen« lassen; ja, es sei dem Träger des Speisekorbs dabei außerdem noch begegnet, daß er in seiner Zerstreutheit auch einen erklecklichen Teil von dem Braten, der doch nicht wohl ausrinnen konnte, auf irgend eine andere Weise verlor.

Wie dem auch sei, der Dichter war über die prächtige Mahlzeit, welche er seinem Gaste anbieten konnte, höchlich erfreut.

»Bei allen Göttern des Olymps!« sagte er, »mit dem Meister Dickbauch muß eine wunderbare Metamorphose vorgegangen sein. Der Mann hat wahrscheinlich die Ehre der schwäbischen Gastfreiheit retten wollen und deshalb ein übriges getan«

»Sehr wohl,« mischte sich der Furierschütz ein. »Aber der Ochsenwirt ist über Feld, herrentgegen ist die Ochsenwirtin ein Weibsbild, das'ne Gattig hat.

»Aha, von der Seite kommt unser Überfluß?«

»Sehr wohl.«

»Ich werde sie verewigen!« rief der Dichter aus. »Ja, das werd' ich! Sie ist das Ideal einer Wirtin. Brauch' ich mal ein solches, weiß ich, wo ich es zu suchen habe. – Aber nun komm, lieber William. Das lange Warten wird deinen Appetit gehörig geschärft haben. ›Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle‹, heißt es im Homer, weißt du? Der wackere Voß! Ich schlage vor, unser Festmahl mit einem feierlichen Trinkspruch auf den Mann anzuheben, welcher uns eine deutsche Odyssee gegeben hat.«

Das Tischgespräch drehte sich eine Weile um den Kronenbitter, denn Raleigh fand an einem Burschen Gefallen, welcher ihn an einen der Shakespeareschen Clowns erinnern mochte. Schiller sprach das aus, und so kam die Rede auf den großen »Herzenskündiger«.

»Die Bekanntschaft mit Shakespeare,« sagte der Dichter, »war ohne Zweifel das bedeutsamste meiner Erlebnisse in den Räumen der Karls-Akademie. Ich tastete zwischen aufgezwungenen und selbstgewählten Studien unsicher hin und her. Die letzteren mußten, wie ich dir schon früher mitgeteilt, verstohlen betrieben werden, und wahrscheinlich würden sie gerade deshalb mit einigem Eifer betrieben. Die neuere deutsche Literatur war eigentlich ein geradezu verpönter Artikel, wahrend man es mit dem Einschmuggeln französischer Autoren, auch wenn sie keineswegs zum Studierreglement gehörten, ziemlich leicht nahm. Voltaire hat mich nie sehr gereizt. Ich vermochte sein Talent, und war es auch ein so außerordentliches, nicht sehr hoch anzuschlagen, ein Talent, das überall von der Ansicht ausging, Himmel und Erde seien nur dazu da, um zu einem Fangballspiel des Witzes Raum zu gewähren, welches den Unterschied von Heiligem und Unheiligem nicht kannte oder wenigstens nicht anerkannte. Viel tiefere Wirkung empfing ich von Rousseau, aus dessen Schriften überall der Schrei nach Natur und Befreiung tönt. Wie mußte dieser Ruf auf uns arme Akademiker wirken, die wir alles, aber auch gar alles auf Kommando tun sollten. Später war mir freilich manchmal, Rousseaus Wahrheitsliebe sei keineswegs ohne Koketterie und selbst in seinen glühendsten Aufschwüngen von Aufrichtigkeit laufe etwas Komödiantisches mit unter.«

»Ganz recht,« bemerkte Raleigh. »Wie könnte es auch anders sein? Rousseau war ein Franzos', also ein geborener Komödiant. Ich will damit nicht gerade einen Tadel aussprechen. Mir, dem Amerikaner, der recht wohl weiß, daß ohne den hochherzigen Beistand Frankreichs Amerika keine Aussicht hätte, seinen Unabhängigkeitskampf siegreich zu beendigen, stände es wahrlich schlecht an, gering von der französischen Nation zu denken und zu sprechen. Wenn ich die Franzosen geborene Komödianten nenne, so will ich damit nur sagen, daß es in ihrer Natur liegt, allem und jedem einen theatralischen Anstrich zu geben. Ich habe Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaft selbst an Lafayette wahrzunehmen, der doch sonst vielfach an die besten Charaktere des Altertums erinnert.«

»O, erzähle mir von ihm, und vom großen Washington und von Franklin und von allen den Helden und Weisen eurer großen Sache. Ich habe dich schon lange darum angehen wollen. Ich liebe sonst den leidigen Mischmasch von Irrtum und Gewalt, welchen die Leute Politik nennen, nicht sehr, weißt du? Aber seit ich die herrliche Erklärung der Menschenrechte kenne, wie euer Kongreß sie erließ, habe ich angefangen zu ahnen, daß jener Mischmasch auch edlere Elemente in sich bergen könnte.«

»Wirklich? Was doch ihr Deutschen für wunderliche Menschen seid! Manchmal, wenn ich von dir und deinen Freunden solche Äußerungen über das staatliche Leben höre, kommt mir das so fremd vor, daß ich meine, ich müßte keinen Tropfen deutschen Blutes in den Adern haben. Und doch heimeln mich dann auch wieder die idealischen Regionen, in welchen ihr euch umtreibt, wunderbar an. Laß uns heute in diesen Regionen bleiben; ich erzähle dir bei gelegener Zeit von unserer amerikanischen Wirklichkeit. – Du wolltest von deiner ersten Bekanntschaft mit Shakespeare sprechen, der ja sozusagen mein Namenspatron ist. Mein armer Vater, dem es nicht vergönnt war, den Ruhm seines Landes zu erleben, schöpfte mir, dem von ihm hochverehrten Dichter des ›Lear‹ zu Ehren, den Namen William.«

»Möge er von guter Vorbedeutung sein! – Du kennst Goethes Erstlingswerke, du liebst und bewunderst sie und kannst dir also vorstellen, welchen Tumult Götz und Werther unter uns Insassen der Akademie veranlassen mußten. Wie Großes auch Klopstock, Wieland und Lessing jeder in seiner Art geleistet, wie sehr des ersteren lyrisches Feuer, des andern graziöse Schalkhaftigkeit, des dritten dramatische Energie zu bewundern ist, immer noch waren die hemmenden Schranken, welche jahrhundertlange Ausländerei um den deutschen Genius gezogen, nicht hinweggeräumt. Da warf Goethe mit seinem Götz und Werther diese Schranken in unaufhaltsamem Sturmschritt nieder. Wir waren trunken von dieser frohen Botschaft der Natur, der Freiheit, der Originalität und stimmten jubelnd ein in diesen Feldruf gegen alle Philisterei. Unser guter Professor Abel, welcher dem Reglement der Akademie zum Trotz die neue Richtung begünstigte, wo und wie er nur immer konnte, teilte unsern Enthusiasmus für Goethe, aber zugleich ließ er geheimnisvoll etwas fallen von einer Sonne, an deren Strahlen Goethes Genie sich entzündet haben dürfte. Er nannte Shakespeare, von welchem ich nur wußte, daß Voltaire ihn sehr wegwerfend beurteilt habe. Der Name machte daher weiter keinen Eindruck auf mich. Abel hatte aber die löbliche Gewohnheit, die Lehrsätze der Psychologie, welche er uns vortrug, durch passende Stellen aus Dichtern zu erläutern. Als er daran kam, uns den Kampf der Pflicht mit der Leidenschaft und der Konflikte der Leidenschaften untereinander zu veranschaulichen, zog er Stellen aus Shakespeares ›Othello‹ an. Ich horchte hoch auf: mir war, als sähe ich wunderbare Blitze fern in der Nacht und hörte Donner rollen, die meine Seele erbeben machten. Nach beendigter Vorlesung bat ich den verehrten Lehrer um das Buch. Es war die Wielandsche Übersetzung. Jetzt studierte ich Tag und Nacht den großen Briten und so ganz nahm er mich gefangen, daß ich lange Zeit von gar nichts anderem wußte. Mehrere meiner Freunde teilten mein Studium, und dein guter Bruder Georg, der von Hause aus den Dichter kannte, ruhte nicht, bis er sich durch einen Antiquar einige der Shakespeareschen Stücke im Original verschafft hatte. Unter seiner Anleitung ist mir gelungen, von dem Dichter in seiner eigenen Sprache wenigstens eine notdürftige Kenntnis zu erlangen. Aber ich gestehe, der erste Eindruck, den mir Shakespeare gab, war, wenn auch ein höchst gewaltiger, doch kein erhebender. Ich mußte den unermeßlichen Genius wohl bewundern, aber ich konnte ihn anfangs nicht lieben. Ich verstand ihn noch nicht. Mich empörte die Kälte und Unempfindlichkeit, die ihm erlaube, mitten im höchsten Pathos zu scherzen, und aus höchster Ätherhöhe plötzlich mitten in die Gemeinheit des Lebens herabzufallen. Nur langsam lernte ich begreifen, daß man bei Shakespeare die Natur stets aus erster Hand erhält, und nur allmählich ging mir das Verständnis dieser wunderbaren Unmittelbarkeit der Wahrheit auf, von welcher seine Werke voll sind. Nun verstand ich auch seine scheinbare Kälte: es ist die göttliche Ruhe des Meisters, der das Dasein in allen seinen Höhen und Tiefen kannte und die wechselnden Erscheinungen desselben stets in den passendsten Formen auszuprägen verstand. – Als ich so die Shakespearesche Poesie mir angeeignet hatte oder vielmehr angeeignet zu haben glaubte – denn wer kann sagen, daß er mit diesem Studium überhaupt fertig geworden sei? – da meinte ich, etwas von der Kraft, einen Funken von Shakespeares Geist in mir glimmen zu fühlen, und ich tat das Gelübde, dem Gewaltigen nachzueifern mit aller Macht. Es überkam mich, ich weiß nicht wie, daß auch ich ein Dichter sei. In Knabenjahren war es mein Ideal gewesen, als Prediger zum Volke zu reden. Meine geliebte Mutter hatte es auch so sehnlich gewünscht. Aber da ich, wie mein guter Vater mir bei jeder Gelegenheit einzuprägen nicht müde wird, nicht zu den wenigen gehöre, die zu befehlen, sondern zu den vielen, die zu gehorchen haben, so mußte ich jenem Ideal entsagen und mich durch eine Fürstenlaune erst zum Juristen und dann zum Mediziner machen lassen. Shakespeare zeigte mir aber, daß man nicht nur von der Kanzel, sondern auch von der Bühne herab zum Volke reden könne, machtvoll, herzerschütternd.

Eine Stimme schrie in mir: Werde deinem Volke etwas, was Shakespeare der Welt ist: – du kannst es! Da faßte ich mir einen kühnen Mut, und alles, was ich geträumt und geschaut, gehofft und beklagt, beseufzt und verflucht hatte, zusammenraffend, schleuderte ich die »Räuber« aufs Papier! Hat die innere Stimme wahr gesprochen oder hat sie gelogen?«

Bewegt sprang der Dichter auf und ging mit großen Schritten in dem kleinen Gemache hm und her.

»Sie hat wahr gesprochen, teurer Freund,« sagte Raleigh, »und du weißt, ich spreche nicht so, um dir zu schmeicheln, sondern aus innerster Überzeugung. Die ›Räuber‹ sind ein kühner Wurf. Er hat noch nicht das höchste Ziel erreicht, aber vertraue nur der inneren Stimme und deinem hohen Vorbild. Auch Shakespeare hat sicherlich nicht im ersten Anlauf einen ›Julius Cäsar‹, einen ›Hamlet‹ oder ›Macbeth‹ geschaffen. Sei du ein Strebender wie er, und nun komm, wir wollen den Manen des Unsterblichen eine Libation bringen.«

Die beiden Freunde taten das mit einer gewissen Feierlichkeit. Zu jener Zeit gab es einen Kultus des Genius, denn es gab noch einen Glauben an das Ideal.

Schiller, dem Freunde wieder gegenüber sitzend, fuhr fort:

»Ich bin eigentlich undankbar gegen den Herzog Karl. In seiner Weise hat er es gut mit mir gemeint, und was kann er dafür, daß ich nicht aus dem Stoffe gemacht bin, der sich von der Willkür des Despotismus widerstandslos in jede beliebige Form pressen läßt? Er weiß, daß ich nicht aus solchem Stoffe bin, und ich habe Grund, zu glauben, daß er entschlossen ist, seine pädagogischen Experimente mit mir fortzusetzen. Eins aber weiß ich, daß ich nämlich entschlossen bin, das Asperg-Experiment, welches der arme Schubart jetzt schon fünf lange Jahre ausgestanden hat und wer weiß wie lange noch auszustehen haben wird, nicht mit mir vornehmen lassen werde, um keinen Preis! – Im übrigen darf ich doch nicht vergessen, daß ich mein bißchen Wissen in der Akademie geholt, wenn auch nicht gerade auf dem reglementarischen Wege. Vielleicht hat auch nur der Druck, der auf mir lastete, die Kraft meines Geistes geweckt. Und dann hab' ich auch schöne Stunden in jenem verwünschten Gefängnisse gelebt, Stunden der Freundschaft, der kühnsten Schwärmerei. Mit je mehr Prosa man uns quälte, desto idealistischer wurden wir. In Kerkerluft gedeihen oft die blühendsten Freiheitsträume, Und dann habe ich in jenen Kerkermauern doch auch Begegnungen gehabt, welche unauslöschliche Eindrücke in mir zurückließen. Wäre mir dort auch kein anderes Glück zuteil geworden als das, daß mir vergönnt war, Kaiser Josef und Goethe von Angesicht zu Angesicht zu sehen, es müßte genügen.«

»Kaiser Josef und Goethe haben die Akademie besucht? Du hast sie gesehen? Erzähle mir doch davon.«

»Ich weiß eben nicht viel davon zu erzählen, ich weiß nur, daß die Erscheinung dieser beiden bedeutenden Menschen mich in höchst wohltuender Weise bewegte. Der junge Kaiser kam im Jahre 1777 hierher nach Stuttgart. Er wollte nur einen Tag bleiben, aber ein Besuch in der Akademie gewann ihm solches Interesse ab, daß er denselben am folgenden Tag wiederholte. Wir hatten uns des heiligen römischen Reiches deutscher Nation kaiserliches Oberhaupt freilich majestätischer vorgestellt. Da war keine Spur von Pomp und Pracht. Der Imperator trug sich wie der schlichteste Kavalier oder vielmehr ganz bürgerlich und hatte sich alles Zeremoniell entschieden verbeten. Er wohnte mehreren Vorlesungen in der Akademie an. Seine Persönlichkeit erschien neben unserem stattlichen Herzog anfangs geradezu unbedeutend. Aber der Zauber der Humanität, der an ihm haftete, verwischte diesen Eindruck bald. Sein einfaches, freundliches Benehmen, seine leutseligen Fragen, seine geistvollen Bemerkungen gewannen ihm alle Herzen. In seinem ganzen Wesen sprach sich der rastlose Trieb aus, sich und andere zu bilden und zu veredeln. Wir sahen in ihm das Ideal eines Fürsten, und wahrlich, er hat unsere Hoffnungen nicht getäuscht. Kaum ein Jahr ist es her, seit er zwei unsterbliche Regententaten getan: durch sein Zensuredikt gewährte er die bisher gänzlich niedergehaltene Denk-, Rede- und Preßfreiheit seinen Völkern, und durch sein Toleranzedikt machte er der Unterdrückung der Nichtkatholiken ein Ende. Ich verstehe zu wenig von den Staatssachen, um beurteilen zu können, wie weit es begründet ist, wenn Kaiser Josefs Tadler meinen, er gehe bei seinen Reformen mit Übereilung vorwärts; ich weiß auch nicht, ob Friedrich der Große berechtigt war zu sagen, Josef mache immer den zweiten Schritt vor dem ersten: das aber sagt mir mein Herz, daß die Muse der Geschichte den Kaiser als einen der ersten unter den wenigen Herrschern nennen wird, welche mit Ernst daran gearbeitet haben, daß die Menschen menschlich zu leben imstande seien.«

»Und Goethe?«

»Er kam etwas vor der Weihnacht 1779 mit seinem Herzog, der ihn überall nicht wie einen Diener, sondern wie einen vertrauten Freund behandelte. Es wurde gerade der Stiftungstag der Akademie gefeiert. In dem großen Saale fand abends die Preisverteilung an die Zöglinge statt. Wir wußten, daß Goethe mit seinem Herzog der Feierlichkeit anwohnen würde: er hatte im Schlosse mit den Herrschaften gespeist. Du kannst dir denken, mit welcher Spannung wir älteren Akademiker, die wir frisch von der Lektüre des Götz und Werther herkamen, der Erscheinung des in so jungen Jahren schon so berühmten Gastes entgegensahen. Er kam, eine gewinnende nicht nur, sondern eine siegreiche Persönlichkeit. Wie hingen meine, aller Blicke an ihm! Professor Konsbruch hielt die übliche Festrede. Er sprach über den Einfluß der physischen Erziehung auf die psychische. Aber ich achtete nicht darauf. Mein Freund Hoven, der es tat, hat nachher behauptet, der Professor habe ein Zitat aus ›Werthers Leiden‹ in seinen Vortrag verwoben, und darob sei Goethe rot geworden und habe die Augen niedergeschlagen wie ein Mädchen. Während der Preisverteilung ist der Herzog von Weimar dem Herzog Karl zur Rechten, Goethe zur Linken gestanden, und wir haben uns herzinnig gefreut, zu sehen, wie unser Fürst den Dichter auszeichnete. Ach, wie gern hätte ich für einen Augenblick die Blicke desselben auf mich gezogen! Ich weiß, es war kindisch, und doch tat es mir wohl, daß ich vor den Augen des bewunderten Mannes mehrere Preise zugeteilt erhielt. Was hätte ich für ein Wort aus seinem Munde gegeben, selbst für das gleichgültigste. Mit ist, als sähe ich ihn noch vor mir, den schlank- und hochgewachsenen Dreißiger mit den geistvoll schonen Zügen, wie er mit ruhiger Sicherheit unter den vornehmen Leuten sich bewegte und mit genialisch feurigen Augen umherblickte. Man sah ihm an, er fühlte sich den Fürsten gegenüber nicht nur als ein Ebenbürtiger, sondern wohl auch als ein Höherer. Diese imponierende persönliche Erscheinung des Genius wird mir unvergeßlich sein.«

Nach einer Pause setzte der Dichter hinzu: »Ich darf sagen, der Neid ist ein Laster, welchem ich nicht zugänglich bin. Und doch ist mir oft, als hätte Goethes damalige Erscheinung einen bitteren Stachel in meiner Brust zurückgelassen. Wie hat die Natur ihn bevorzugt, schon in seinem Äußeren! Welch ein günstiger Stern hat von Kindheit auf über ihm geleuchtet! Wie leicht wurde sein Genie von seinem Glücke getragen! Auf wie fröhlichen Pfaden ist er zu des Lebens Höhen hinaufgelangt, wahrend andere –«

Er brach rasch ab. Mit unmutigen Blicken sah er in der kümmerlichen Stube umher und dann düster vor sich nieder.


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