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Zu den vielen Beinamen, mit welchen man das verflossene glorreiche Jahrhundert, eines der merkwürdigsten in bezug auf den Galopprhythmus des Fortschritts in Fragen der Naturerkenntnis und Entwicklung der äußeren Kultur, bedacht hat, gehört auch der des »nervenmordenden«. Wurde doch erst um die siebziger Jahre herum der Begriff der typischen Nervenschwäche (der Neurasthenie) von dem höchst geistvollen, fast vergessenen Greifswalder Irrenarzt R. Arndt geprägt. Darunter verstand man von jeher keine scharf umschriebene Nervenkrankheit, eine weder infektiöse, durch Bakterien übermittelte, noch durch bestimmte Giftstoffe hervorgerufene Schädigung der Nervensubstanz, sondern eine gleichsam betriebstechnische Störung im Ablauf der nervösen Leitungen. Jedermann ist heutzutage das Bild des Neurasthenikers geläufig, nur daß schon lange der Mann des Volkes den Gelehrtennamen hat fallen lassen und dafür alle hierher und nicht hierher gehörigen Erscheinungen in den großen Sammeltopf der »Nervosität« geworfen hat. Bei betriebstechnischen Störungen aller elektrischen Einrichtungen, zu denen auch Gehirn und Nervensystem gehören, wenn auch die sogenannte Nervenströmung sicher nicht elektrisch, sondern nur der elektrischen vergleichbar sein dürfte, handelt es sich nicht um schwere, unausgleichbare Zerstörungen, sondern um gleichsam launische Abweichungen von der normalen Funktion. Ein Nervöser gleicht in vielen Dingen einer unregelmäßig flackernden, zuckenden, störrischen Glühlampe, ohne das Gleichmaß einer geräuschlosen, geduldigen und ausharrenden Licht- oder Lebensquelle. Die Ähnlichkeit des Seelenstroms mit dem der Elektrizität ist ja nirgends offenbarer als in der Launenhaftigkeit ihrer Betriebe. Ja, es ist nicht so unsinnig, daß man die Einführung der Elektrizität als Licht- und Kraftquelle direkt als Ursache für die Nervosität unseres Geschlechtes verantwortlich gemacht hat. Ist doch über uns ein Hasten nach Schnelligkeit, ein Bewegungswahnsinn, ein Prozeß der Verachtung von Raum und Zeit, eine Verschiebung von Tag und Nacht durch gestohlene Sonnenkraft und erheucheltes Sonnenlicht gekommen, denen unser langsamer sich veränderndes Nervensystem nicht immer gewachsen war. Hier steckt nun die Kernfrage der nicht zu leugnenden Nervosität unseres Zeitalters. Der Erdball ist eigentlich erst durch die Elektrizität zu einer wirklichen Heimat des Menschen geworden: er hat ihn mit gleichsam verlängerten Nerven, den elektrischen Drähten, umsponnen, er hat die Erde selbst zu einem großen Nerventräger umgestaltet. Fließen doch von den großen Nervenknoten, den Zentralen der Kultur, überallhin diese Ströme des nervösen Willens der Menschheit. Der einzelne ist, er mag wollen oder nicht, mit eingespannt in diesen gigantischen Betrieb menschlicher Willensausbreitung. In Stunden erhalten wir Kunde von Vorgängen entferntester Schauplätze, die vor hundert Jahren noch Monate gebrauchten, um zu uns zu gelangen, und Amerika war von uns in Berlin, d. h. vor diesem die internationalen Wege sperrenden Kriege, z. B. nicht weiter entfernt als in den Zeiten der Postkutsche München oder Paris. Raum und Zeit, diese alten Fesseln des Menschengeistes, schrumpfen zu überspringbaren Widerständen, und es ist, als hätte die Menschheit sich in den Kopf gesetzt, den alten Kant zu blamieren, der Raum und Zeit dem Geiste für absolut unüberwindbare Dinge mit allzu vorschneller Prinzipienreiterei stabilisiert hatte wie zwei philosophische »Rochers de bronze«.. Dieses Auswachsen unseres Nervensystems ins Gigantische hat sich nun der kleine, wunderreiche, mysteriöse Nervenapparat der menschlichen Seele nicht gefallen lassen. Er hat darauf reagiert. Nun ist eben die große Frage, ob er darunter krank geworden ist oder nicht. Ob das, was wir Neurasthenie, Nervenschwäche, Nervosität nennen, ein Entartungsvorgang ist oder nicht. Die Mehrzahl unserer Nervenärzte bejahen diese Frage ohne weiteres. Aber man kann darunter auch etwas anderes, für uns Tröstlicheres verstehen. Die Nervosität, unter der wir fast alle, mit den wenigen Ausnahmen derer, die statt Nervensträngen von der gütigen Natur Kabeldrähte und Taustrippen mitbekommen haben, an deren Hemmungen die Strudel der Zeit verrinnen wie die Wellen am Wehr, ein gut Teil zu leiden haben, kann der Ausdruck eines ganz natürlichen Anpassungsvorganges sein. Das Leben ist dehnbar, anschmiegsam, elastisch, knetbar wie Kautschuk! Es quillt in jede Form und hat unerschöpfbare Möglichkeiten, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Degeneration, Entartung ist ein Schwindel. Das Leben kann nicht degenerieren, es ist ebenso ewig und konstant wie jede andere Kraft! Das, was wir Entartung nennen, ist oft nur Umwandlung, Abänderung und für die Gesamtheit der Menschheit Verbesserung. So ist auch die berüchtigte Neurasthenie ein Übergangsprozeß, ein erfolgreicher Versuch des Ausgleiches, der Einfügung in die unendlich gesteigerten Anforderungen der Lebensbedingungen. Erhöhte Sprungbereitschaft der Nervenkräfte, gesteigerte Gefühlsfähigkeit für Gefahren, schnellere Entwicklung der Widerstands- und Abwehrvorgänge, das ist Nervosität. Ja, ich behaupte, daß der Nichtneurastheniker vielfach den heutigen enormen Anforderungen an die Sprungbereitschaft in jedem Sinne gar nicht gewachsen wäre. Nicht nur, daß unsere Urgroßväter vor dem Betrieb eines Potsdamer Platzes in einen Nervenchok fallen würden, die Neurasthenie scheint auch physisch Schutzvorrichtungen gegen viele schwere Erkrankungen im Nervensystem etabliert zu haben, die eine nicht zu verachtende Sicherheit gegen Krankheiten schwerer Art zu garantieren imstande sind. Es ist unter uns Ärzten eine immer deutlicher hervortretende Gewißheit, daß die echten Neurastheniker zwar sehr viel – ach, allzuviel! – über Krankheitsempfindungen klagen, aber seltener wirklich schwerkrank werden als der robuste Phlegmatiker und das Kind der Scholle. Die Sprungbereitschaft der Nerven und die viel schnellere Mobilisierung der Abwehrvorrichtungen mag es mit sich bringen, daß im ersten Anprall selbst die vielgefürchteten Bakterien bei ihnen schneller an die Luft befördert werden als bei dem behäbigen, langsam leitenden Nervensystem derer, die nichts aus ihrer Ruhe zu bringen vermag. Es ist ein ärztliches Scherzwort, das aber einen Kern wahrer Erkenntnis birgt: Neurastheniker kriegen wohl einen Schnupfen, einen Durchfall, aber niemals eine Lungenentzündung und keinen Typhus!
Das mag übertrieben und nur die Bekundung eines oberflächlichen, statistisch schwer stützbaren Eindruckes sein, aber auch die allgemeinen Erfahrungen der Laien würden bestätigen müssen, daß gerade die am häufigsten scheinbar »schwer leidenden«, »viel quengelnden«, »wehleidigen« Familienmitglieder nach den ersten, glücklich verhallten Schreckschüssen mit ihrer prophetischen Ankündigung einer herannahenden schweren Erkrankung bald nicht mehr ganz ernst genommen werden. Ist die Neurasthenie doch eine Krankheit, an der die Angehörigen oft schwerer zu leiden haben als der immer »krächzende« und »verpimpelte« Patient selbst! Woher sollten die vielen Wunderheilungen der medizinischen Außenseiter stammen, wenn nicht aus der vielfach glücklichen Behandlung eigentlich gesunder Kranker, für welche die Neurastheniker mit ihren Herz-, Lungen-, Unterleibs- und Bewegungsstörungen, inklusive der Hysterischen, ein solches Riesenkontingent liefern! Hier drängt sich die Frage auf, was ist denn nun eigentlich der Unterschied zwischen all diesen Formen nervöser Betriebsstörungen, die wir mit dem Namen Neurasthenie, Nervosität, Hysterie, Hypochondrie, Melancholie belegen? Da alle diese Zustände keine anatomisch nachweisbaren oder im Mikroskop als eine gegebene Veränderung der Zellbeschaffenheit erkennbaren materiellen Merkmale haben, da es eben Störungen im Betrieb, nicht in der Beschaffenheit der Körperelemente sind, wir wenigstens zurzeit außerstande sind, diese Krankheitsbegriffe mit entsprechenden Bildern aus der Zellgewebskunde zu belegen, so ist eigentlich die Medizin hier auf Vermutung, Analogie und Phantasie angewiesen, und so kommt es, daß fast jeder denkende Arzt hier eine andere, eigene Vorstellung von der Natur dieser gestörten Nervenarbeit hat. Wir haben uns, da die gewissermaßen maschinellen Einrichtungen des Nervenapparates am zwingendsten noch mit der Elektrizitätslehre in Parallele gestellt werden können, dazu entschlossen, allen diesen Dingen mit der Vorstellung einer der elektrischen ähnlichen Kraft und einer sie leitenden Hemmung nahezutreten. Das gibt vielleicht die einzige Möglichkeit, dem Laien ein einigermaßen zutreffendes Verständnis für diese Angelegenheit der Lehre vom Nervenleid zu verschaffen. Da wir über das Wesen der elektrischen Kraft ebensowenig wie über das der Nervenströmung wie übrigens auch über die elementarsten Kräfte Schwerkraft, Elastizität, Beharrung auszusagen vermögen, so sind wir angewiesen auf die Lehre von den Hemmungen. Alle Nerven sind gegenseitig, wie der Elektrotechniker sagt, gut isoliert, auch im Gehirn und Rückenmark sind die zugeführten Nervenreize durch Hemmungen in gewisse konstante Bahnen geleitet. Da gibt es nun auch Anschlüsse, Verbindungen und Verschlüsse, Isolierungen, die zeitweise defekt und locker werden können. Dann würde die Neurasthenie oder der nervöse Zustand eine gewisse leichte Durchbrechbarkeit der Hemmungen sein, eine gesteigerte Strahlungserleichterung gegenüber dem geregelten Zu- und Abstrom des normalen Nervenbetriebes: funktionell und reparabel, weil der Apparat zwar locker und klapprig, aber nirgends an bestimmter Stelle defekt geworden ist, während z. B. bei der Hysterie sich schon tatsächlich dauernd falsche Kurzschlüsse gebildet haben, so daß Reize abnormerweise in seelische und organische Gebiete einschlagen, von denen sie ein nicht defekter Apparat fernhält. Da der Blutsaft für diese Hemmungen eine große Rolle spielt, muß natürlich auch seine Beschaffenheit, seine Verdünnung und Veränderung durch Stoffwechselprodukte einen erheblichen Einfluß auf die Leistungsfähigkeit der eigentlich nervösen Apparate ausüben. So erklärt es sich, daß das Herz und die Blutgefäße eine so große Rolle bei nervösen Leiden spielten, und die moderne Forschung unter Rosenbachs und A. Smiths Führung hat erwiesen, daß viele Menschen nicht herzkrank sich dünken, weil sie nervös sind, sondern daß eine abnorme Herztätigkeit und Blutbeschaffenheit auch ohne direkte Herzfehler diese erst nervös machen. Dauernde Veränderungen der Blutmischung aber, Ernährungsstörungen und Drüsensaftveränderungen führen dann zu jener allgemeinen seelischen Depression, die sich in hypochondrischer und melancholischer Gemütsverfassung äußert. Der Zustand des nervenstromhemmenden Gewebes mit dem zirkulierenden, normalerweise gleichfalls hemmenden Gewebssaft auf der einen Seite und der Zustand der vom Leben immer heftiger gereizten und aufgewühlten Nervenflut – die beiden Faktoren sind es, welche die Formen der nervösen Störungen insgesamt ausmachen.
Die enormen Anforderungen, die das technische Jahrhundert mit seinem Beleuchtungshunger und seiner Schnelligkeitsmanie an unser Orientierungs- und Zentralorgan für geistige und körperliche Bewegungen stellte, haben dazu geführt, daß unsre Nerven gleichsam mit hochgespannten Strömen arbeiten, die eine erhöhte Reizbarkeit aller Systeme nach sich ziehen. Die organische Umbildung der einbettenden, einhüllenden, stromhemmenden und -regulierenden natürlichen Widerstände, die tatsächlich wie ein Dämpfer am Klavier, ein Sordino bei Streichinstrumenten oder wie ein Stopfer bei Trompeten wirkt, brauchen, scheint es, längere Zeit, um dieser gesteigerten Funktion, d. h. der Verarbeitung unendlich schnell sich folgender Außenreize, den Ausgleich zu garantieren. Wir wissen auch, warum die Blutbildung und die Gewebssaftbereitung (Lymphe) einen solchen Einfluß auf die Harmonie oder Disharmonie unseres seelischen und Nervengleichgewichts hat, nämlich weil die Hemmungskraft des Blutes, wie Geheimrat Bier und seine Schüler in schönen Untersuchungen festgestellt haben, für manche gestörten Nerventätigkeiten eine große, bisher wenig gewürdigte Rolle spielt.
Wir wollen nun untersuchen, ob dem zweiten Faktor, dem der stromhemmenden Funktion, nicht in irgendeiner Weise zu Hilfe zu kommen sei. Denn es muß eingesehen werden, daß man bis Nerven direkt nicht so leicht wird widerstandsfähiger gestalten können, man kann sich, wie mit schmerzlicher Selbstironie die Neurastheniker sagen, doch keine neuen Nerven einsetzen! Da wir die spezifische Kraft nicht kennen, die wunderwirkend durch unsere Nervenröhrchen rollt und um unsere seelischen Phosphorkugeln (die Ganglien) geistert, ist es wohl nur ein Spiel mit Worten, wenn man von gesteigerter, neuerzeugter, wiedergegebener Nervenenergie durch allerhand chemische und physikalische Prozeduren spricht. Hier soll durchaus nicht in Abrede gestellt werden, daß die Elektrizität, die Massage, die rätselhaften Einflüsse starker Persönlichkeiten solche Möglichkeiten enthalten, wir müssen nur ehrlich eingestehen, daß von einer theoretischen Erkenntnis der Wege und Arten, wie das geschieht, nicht die Rede sein kann.
Was haben aufgelegte Hände, Glaubenszuversicht, Zuspruch und die Macht eines großen Herzens nicht schon für Wunder gewirkt und wirken sie täglich! Suggestion, Hypnose, diese neuen Wortschätze für einen uralten Sinn, welche Rolle spielen sie auf und hinter der Bühne des Lebens! Aber die Wellenwege, die sie von Seele zu Seele nehmen, die geistigen Empfänger und Resonatoren, die sie aussenden und aufnehmen, sind nur der Phantasie, nicht dem methodischen Denken zugänglich. Darum sind sie natürlich nicht weniger mächtig, aber die gradweise Dosierung und ihre Erkennbarkeit und Erhaltbarkeit zur rechten Stunde, an rechter Stelle – das hat seine erheblichen Schwierigkeiten.
Das ist das große Gebiet der Wunderkuren an Nervösen, bei denen heute ein saurer Hering, morgen ein Reibebad auf Ziegelsteinen (alles dagewesen!), übermorgen eine heilige Quelle das ärztliche Können in tiefen Schatten stellt! Nicht viel besser steht es um die spezifischen Nahrungsmittel, die jetzt auf den Markt geworfen werden mit der ausgesprochenen Absicht, durch Einführung neuer Bausteine der geschundenen Architektur der nervösen Substanz zu Hilfe zu kommen. Man kennt jetzt besser als früher die chemischen Grundsubstanzen der Eiweißkörper, die unsere Nerven zusammensetzen.
Nun, so denkt man, der Zusatz solcher Gemenge von »Nervensalzen« müsse die Nervenkraft steigern. Leider ist dem nicht so: ebensowenig wie tausend graue Felle einen Schimmel machen, ebensowenig kann aus noch so viel Phosphor-Lecithin ein Nervenbündel und eine Nervenenergie entstehen. Virchow hat einmal treffend gesagt: Die Zelle, der letzte Baustein des Organischen, wird nicht ernährt, sie ernährt sich selbst. Sie hat ihren eigenen wählerischen Appetit und ihren eigenen Magen und eigenen Willen. Was nutzt einem nicht Hungernden Kaviar oder Austern, wenn sie nicht verdaut werden? So nutzen auch dem Neurastheniker keine Nervennährstoffe, wenn sie nicht angebildet werden. Gerade diese Unfähigkeit der Nervensubstanz, sich den gesteigerten Lebensbedingungen durch gesteigerte Bildung von vermehrter Nervenmasse und Nervenenergie anzupassen, ist ja der Inbegriff der neurasthenischen Störung. Also auch auf diesem Wege kommen wir voraussichtlich nicht weiter.
Nun spielt allerdings die Ernährung der Neurastheniker eine überaus wichtige Rolle, aber der Einfluß der Nahrung ist ein indirekter. Sie macht zur Entfaltung heilsamer Kräfte einen Umweg über die Blutbahn und die Gewebssäfte. Sind doch viele Formen der Neurasthenie bedingt durch Beimengung von im Körper selbst bei gestörter Verdauung gelieferten, bei abnormer Tätigkeit der Leibdrüsen gebildeten Fremdstoffen (Toxine), die in das Gebiet der Selbstvergiftung des Leibes gehören. Diese sollen uns ein andermal beschäftigen. Hier wollen wir absehen von der Verhütung derartiger Selbstvergiftungen (Autointoxikationen) und wollen die Möglichkeit besprechen, die uns gegeben ist, die Blut- und Säftemischungen in einer für die erregten Nerven günstigen Weise zu beeinflussen. Nach meinen eigenen, hierfür in bescheidenem Sinne grundlegenden, Versuchen ist eine Blutmischung um so kräftiger Nervenkontakte hemmend, je weniger Natriumchlorid (Kochsalz) sie enthält. Der normale Prozentsatz des Blutwassers beträgt 7-9 pro Mille Kochsalz. 2 pro Mille im Blut hebt z. B. die örtliche Schmerzauslösung völlig auf. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß Salzarmut der Nahrung einen unbedingt günstigen Einfluß auf allerhand Nervenleiden ausüben muß. Diese Erfahrung ist tausendfach bestätigt, am sichersten durch die unwiderlegliche Tatsache, daß bei Epileptikern, bei Unruhezuständen, bei Anfällen geistiger Störungen jedes Heilmittel (wie Brom, Morphium, Chloralhydrat) um so intensiver und nachhaltiger wirkt, je mehr es mit einer salzarmen Diät kombiniert wird.
Aber auch ohne Heilmittel steht der Einfluß salzarmer Kost fest. Was ist salzarme Kost? Es genügt nicht allein, die Speisen nicht oder nur minimal zu salzen! Es muß auf den recht verschiedenen Salzgehalt der Rohprodukte scharf gemerkt werden. Es ist ein großes Verdienst J. Levas (Berlin-Tarasp), hier sich der Mühe unterzogen zu haben (Zur Praxis der kochsalzarmen Ernährung, Medizin. Klinik 1910, S. 782-786), über hundert Nahrungsmittel auf ihren Kochsalzgehalt berechnet zu haben. Wir gruppieren hier abweichend von Leva zur näheren Übersicht die Nahrungsmittel in zwei Gruppen.
Kochsalzreiche Nahrungsmittel in Prozenten auf je 100 Gramm: Kaviar 3,0-6,18, geräucherte und gesalzene Fisch- und Fleischwaren 1,85-20,59, marinierte und in öl eingelegte Fische 1,79-5,49, Würste und Pasteten 2,2-40,1, Suppendauerwaren, 8,1-15,0, Fleischextrakte 1,7-14,7, Speisewürzen und käufliche Saucen 9,37-22,46, gewöhnlicher Käse 1,59-10,57, gesalzene Butter 1,0-3,0, eingesäuerte Gemüse (Sauerkohl) 1,45, Kalbsniere, Kalbshirn 0,3, Maggis Bouillonkapseln 53,13, eingemachte Gemüse 1,27, Mostrich und Senf 2,66, Saucen 0,7-1,5, Salate 0,4, Makkaroni 1,04, Eierspeisen 0,2-1,0.
Kochsalzarme Nahrungsmittel in Prozenten auf je 100 Gramm: Fleischsorten (auch Wild) 0,09-0,17, Geflügel 0,14 (Gans 0,20), Flußfische 0,06-0,12, Seefische 0,16-0,41, geräucherte, aber nicht gesalzene Fische (Bückling, Sprotten) 0,31 bis 0,38, Valentines Meat Juice 0,08, Hämatin-Albumin (Finsen) 0,13, Plasmon 0,21, Sanatogen 0,4, Somatose 0,66, Eier 0,13-0,21, Eigelb 0,039, Eiweiß 0,31, Milch 0,15, ungesalzene Butter 0,09, Quarkkäse 0,13, Brot 0,5-0,6, Kakes 0,47-0,86, Zerealien 0,014-0,05, Sago 0,19, Mehlprodukte 0,002-0,35, Kartoffeln und andere Wurzelgewächse 0,016-0,078, Leguminosen 0,053-0,09, frische Gemüse und Pilze 0,016-0,08 (außer Winterkohl, Sellerie und Mohrrüben), Früchte 0,004-0,1, Zucker 0,002-0,1, Gewürze 0,019-0,43, Genußmittel (Tee, Kaffee usw.) 0,05-0,15, Getränke 0,001-0,01, Tafelwasser 0,002-0,23, Kompotte 0,019-0,031, Mehlspeisen 0,02-0,06.
Hiernach kann sich jedermann in normalen Zeiten leicht seine kochsalzarme Kost selbst zusammenstellen. Er möge dabei bedenken, daß das tägliche Quantum von 4-6 Gramm Kochsalz nicht überschritten werden darf. Man sieht aus der Tabelle, daß die meisten Speisen erst durch die Zubereitung übersalzen werden. Die Naturprodukte sind meist salzarm. Also hat man es in der Hand, durch Salzentziehung seinen Blutsäften die natürliche Kraft zu geben, die erregten Nervenströme einzudämmen, was aktiv noch durch Bevorzugung stark leimhaltiger Stoffe (Kalbsfüße, Jus, Knochenmark, Gelatinespeisen, rote Grütze, Roggenmehl) unterstützt werden kann. Kochsalzarme also und leimhaltige Kost, das sei deine Losung, du arme Armee der Neurastheniker! Viel Gallerte, wenig Salz!