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Blinddarmentzündung! Es ist zu einem Familienschreck geworden, dieses Wort, das allzu schnell durch die Zäune, die wissenschaftliche Problemerörterung von der Öffentlichkeit fest abschließen sollten, hineingeschlüpft ist in die Spalten der Presse und in die Schlupfwinkel der Angst, die schließlich jedes Herz und jede Wohnung birgt. Zudem gibt es medizinische Kaffeeschwestern, die immer einen nahen Anverwandten gerade an dem Leiden haben elend zugrunde gehen sehen, von dem ein Hausarzt als möglicherweise vorliegend gesprochen hat! Kaum eine Krankheit, außer den echten Epidemien wie Cholera, Pest, Diphtherie und Influenza ist so im Munde des Publikums wie diese noch dazu falsch benannte Erkrankung des Wurmfortsatzes am Blinddarm. Der Blinddarm ist nämlich der blindsackförmig ausgebuchtete Beginn des Dickdarms, in der rechten Unterhälfte des Leibes gelegen, und dicht neben ihm nach innen, von ihm ausgehend, liegt ein wurmförmiges, bleistiftdickes, zwei Fingerglieder langes Anhängsel: der Wurmfortsatz, der Appendix, nach der Höhle des Dickdarms zu geöffnet, geschlossen mit seinem freien Ende nach der Bauchhöhle zu, in der er auffindbar ist. Dieses kleine, angeblich überflüssige Organ ist der Sitz jener Erkrankung von unheimlichem Ruf. Dieser Fortsatz enthält einen Drüsenapparat von Schleim- und Lymphdrüsen und einen feinen Innenkanal. Die Krankheit spielt sich innerhalb dieses Fortsatzes in seiner Höhle und seinen Wandungen ab. Ihr Wesen gehört in die Geschichte der Eitervergiftungen, und ihre Gefahr liegt in der Möglichkeit und Häufigkeit des Durchbruchs der dünnen Wandungen dieses Organzipfels, wodurch Eiter und Eingeweidesaft in die freie Bauchhöhle gelangen, was zu sehr schweren Krankheiten führt. Die Krankheit kann von selbst heilen, indem die zum Durchbruch angefressenen Außenteile des Organs durch Entzündungsmaterial und Verwachsungen gleichsam in sich gedichtet werden oder auch bei schon bestehendem Durchbruch durch Absackung des Eiters örtliche, leichter bekämpfbare respektive aufsaugbare Abscheidungen entstehen. Diese Verlötungen und Absackungen, gleichsam »Übersohlungen« der gefährdeten Stellen mit sehnigem Material (dem gebräuchlichsten Flickleder unserer Mutter Natur), gehen etappenweise, in einzelnen Lagen vor sich, mit Nachschüben von Entzündungen, das sind die so häufigen Rezidive. Die eigentliche Ursache dieses Prozesses ist sehr vielgestaltig und, soweit er epidemischen Charakter annimmt, unbekannt. Die Fremdkörpertheorie ist fallen gelassen, nach der Nadeln, Traubenkerne, Borsten, Kirschensteine usw. die Ursache der Entzündung sein sollten, weil relativ selten solche Körper bei den unzähligen Operationen gefunden worden sind. Häufiger mögen schon Kotbröckelchen, in die meist faltig geschlossene Innenöffnung des Wurmfortsatzes geratend, die Ursache der Entzündung sein; noch viel häufiger kann man eine direkte Ursache überhaupt nicht nachweisen. Sie mag durch bestimmte Bakterien, die sich in den Lymphdrüsen des Fortsatzes abnorm entwickeln, veranlaßt werden – weshalb die Franzosen von einer »Angina« (Mandelentzündung) des Wurmfortsatzes sprechen –, sie mag durch das Blut mit den kleinen Arterien transportiert sein, sie mag mechanisch durch Gasentwicklung, Achsendrehung, Abknickung des Organs, durch narbigen oder entzündlichen Schluß der Eingangsöffnung bedingt sein – genug: es gibt weder eine bekannte einheitliche noch eindeutige Ursache dieses Leidens. Und doch hat dasselbe so viele Opfer gefordert wie sicher in keinem Jahrzehnt vor den drei letzten, daß man in der Tat von einer Appendicitisepidemie sprechen kann. Um die Gewebsgeschichte dieser Erkrankung haben sich zunächst die Operateure, so der berühmte Hamburger Chirurg Kümmel und der als größte »Blinddarmautorität« geltende Berliner Chirurg Sonnenburg, verdient gemacht, später gab der Nachfolger Rudolf Virchows, Geheimrat Orth, grundlegende Aufschlüsse über das, was am Wurmfortsatz geschieht, wenn er erkrankt. Diesem Forscher verdanken wir auch die interessante Mitteilung, daß 17 Prozent aller ihm von den verschiedensten Operateuren eingesandten Wurmfortsätze auch bei feinster mikroskopischer Untersuchung keinerlei Erkrankungsanzeichen an sich aufwiesen: sie waren also gesund. Also gibt es, und das ist der Grund, weshalb ich diese Dinge einmal vor der Öffentlichkeit erörtern möchte, Fälle, wo scheinbar Blinddarmentzündung vorliegt und erst die Operation die Gesundheit des Organs bewies. Ich will diese Tatsache deshalb dem Publikum unterbreiten, weil sie bei den unzähligen Verängstigungen, die mit dem Schatten einer Möglichkeit der Entzündung dieses erst jetzt populär gewordenen Organes, mit jedem Schmerz im Leibe in den Familien oft ganz überflüssig erregt werden, einen Trostgrund und eine Mahnung zur Ruhe mir zu enthalten scheint. Die Diagnose Blinddarmentzündung kann wohl nicht so einfach sein, wenn sie unter hundert operierten Fällen siebzehnmal nicht richtig war. In der Tat kann eine große Anzahl von viel harmloseren Erkrankungen im Beginn eine Blinddarmentzündung vortäuschen. Kotstauungen am Dickdarm in der Gegend des Wurmfortsatzes und Erkrankungen der Dickdarmwand an dieser Stelle, Drüsenschwellungen im Gekröse, Verwachsungen am Darm aus anderer Ursache, Entzündungen der Eierstöcke und Muttertrompeten in der rechten Seite, Neuralgien und Entzündungen der Bauchdecken, partielle Bauchfellentzündungen, Venengerinnungen und -entzündungen dieser Seite, Harnleitererkrankung, Nierenwanderung und die Krankheiten aller nach dieser rechten Unterleibsseite verlagerten Organe, Leber, Dünndärme, innere Brüche, Geschwülste am Darm – das alles sind Möglichkeiten, die in Betracht gezogen werden müssen. Bei der Kleinheit des in Betracht kommenden Organes ist oft aus dem Befunde heraus gar keine sichere Diagnose zu stellen, wohl aber sind alle oben aufgezählten Erkrankungen schon mit Blinddarmentzündungen gelegentlich verwechselt worden.
Das kann natürlich nur dem Laien als merkwürdig erscheinen, der nicht beurteilen kann, wieviel dazu gehört, aus der Summe der theoretischen Möglichkeiten die Bildsteinchen in der Phantasie zusammenzuholen, aus denen sich restlos das vorliegende Krankheitsbild ergibt. Diese Frage der sicheren Entscheidung, ob der Wurmfortsatz erkrankt ist oder nicht, ist so wichtig, weil es sich oft hier um Stunden handelt. Oft, aber doch nicht so häufig, wie wohl nach all den kolportierten Spukgeschichten der Laie gemeinhin denken mag. Diese Forderung der Frühoperation à tout prix hatte beinahe dogmatische Formen angenommen, und ich halte es für ein großes Verdienst Sonnenburgs, in den letzten Jahren doch mehr der anfangs konservativen und zuwartenden Behandlungsweise das Wort geredet zu haben. Gewiß gibt es Fälle, bei denen nicht gezögert werden darf und sofort der Möglichkeit des Durchbruchs des Appendixeiters in die freie Bauchhöhle vorgebeugt werden muß durch eine radikale Operation.
Wir müssen einmal die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Möglichkeit besteht, daß eine veritable Blinddarmentzündung auch ohne Operation und ohne bleibenden Schaden für den Leidenden vollständig und definitiv auf dem Wege der Selbsthilfe der Natur ausheilen kann? Diese Frage ist zu bejahen, wenn auch mit dem Zusatz, daß eine solche radikale Ausheilung selten ist. Sie dürfte die Zahl von zehn auf hundert aller Erkrankungsfälle kaum erreichen. Daran knüpft sich die Frage: was wird aus den anderen nicht operierten Fällen, soweit sie nicht tödlich verlaufen, durch den Eintritt der schweren Folgen eines Durchbruchs des Eiterherdes aus dem engen Blinddarmfortsatz in die freie Bauchhöhle? Darauf muß die Antwort lauten: nach dem glücklichen Überstehen einer erstmaligen Attacke behalten etwa achtzig Prozent der Fälle eine chronische Entzündung des Appendix (Blinddarmfortsatz), die zu mehr oder weniger häufigen Rückfällen erneuter Entzündungsattacken führt. In jedem solchen Rückfall besteht, erheblich abgemindert zwar, aber doch mit voller Bedrohung des Lebens, von neuem die Gefahr des Durchbruchs in die Bauchhöhle mit all ihren Konsequenzen. Solch ein Kranker trägt in sich dauernd die Möglichkeit, durch irgendeine Erhöhung des Drucks im Leibe, bei einem Stoß oder Fall, beim starken Pressen oder Husten, durch eine Verdauungsstörung, eine Erkältung, einen Exzeß oder eine Anstrengung in Lebensgefahr zu geraten. Die übrigen zehn Prozent betreffen diejenigen unoperierten Fälle, bei welchen in ganz kurzer Zeit, oft ehe das Leiden überhaupt erkennbar ist, der gefürchtete Durchbruch sich plötzlich einstellt, ohne daß eine vorhergehende Blinddarmentzündung objektiv oder subjektiv bemerkbar gewesen ist. Also zehn Prozent völlige Spontanheilung, zehn Prozent von vornherein tödlich verlaufende Fälle und achtzig Prozent solcher Erkrankungen, die chronisch werden – das ist eine natürlich zum Verständnis für Laien stark abgerundete Statistik der nicht operierten Fälle.
Machen wir eine Gegenrechnung der nicht operierten Fälle auf, so würde sie lauten müssen: zehn Prozent Fälle sind verloren, weil eine Operation immer zu spät kommt oder wenigstens ein ganz anderes Leiden zu bekämpfen hat: nämlich die akute eitrige Bauchfellentzündung, die auch aus anderen Ursachen (Durchbruch eines Magengeschwürs, eines Eiterherdes in der Gallenblase, in den Muttertrompeten, in den Eierstöcken usw.) entstehen kann, und eine Beurteilung für sich, als die Bekämpfung eines ganz anderen Leidens, als ein Folgezustand sehr verschiedenartiger Prozesse, erfordert. Nehmen wir einmal an, alle übrigen neunzig Prozent würden operativ behandelt, so steht heutzutage fest, daß nicht mehr als drei bis vier Prozent aller operierten Blinddarmfälle insgesamt trotz der Operation, zum Teil durch sie und an ihren Folgen zugrunde gehen. Diese Statistik spricht eine beredte Sprache: sie fordert dringend die Operation. Denn selbst die zehn Prozent einer glücklichen Naturheilung in den Vordergrund gerückt, so behalten noch achtzig Prozent nicht Operierter, aber nicht schnell Dahingeraffter zeit ihres Lebens eine chronische, überaus zu Rezidiven geneigte Krankheit, die jeden Augenblick bedrohlich werden kann. Wo also mit Sicherheit eine Blinddarmentzündung festgestellt werden kann, sichert allein die Operation mit einer Sterblichkeit von nur drei bis vier Prozent (hochgegriffen!) das Leben.
So stände die Frage klipp und klar: die Blinddarmentzündung ist ein radikal und sicher nur durch den Operateur zu beseitigendes Leiden. Nur einen einzigen Haken hat diese Rechnung. Im Laufe von mehr als zwanzig Jahren chirurgischer Tätigkeit hat sich mir die Überzeugung aufgedrängt, daß der Schwerpunkt der ganzen Frage die richtige Diagnose ist. Bei der ungeheuren Verantwortung, die bei dieser Sachlage den behandelnden Arzt belastet, bei der epidemischen Furcht vor dieser Krankheit, die die Ärzte nicht weniger ergriffen hat als das Publikum, ist beiderseits eine gewisse Nervosität erzeugt worden, die, glaube ich, die Klärung der Sachlage sehr erschwert hat. Ich kenne aus meiner Praxis eine nicht kleine Reihe von Fällen, wo ich, zur Operation gerufen, dieselbe ablehnen mußte, weil es sich gar nicht um Blinddarmentzündung handelte, sondern um eine andere Erkrankung in der Nähe des Blinddarmes. Entzündungen in der und um die Gebärmutter und ihrer Anhänge, Kotstauungen mit Fieber, Darmwandentzündungen, Entzündungen verlagerter Gallenblasen, Nierensteine, Drüsenentzündungen im Leibe, ja einmal sogar Neuralgien in den Bauchdecken, Geschwülste usw. haben gelegentlich zur falschen Diagnose: Blinddarmentzündung geführt, und der Verlauf hat den Irrtum der Diagnose bestätigt. Dazu stimmt gut die von Geheimrat Orth mitgeteilte Tatsache, daß siebzehn Prozent aller ihm zur Diagnose übersandten herausgeschnittenen Blinddärme absolut gesund waren. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß es Fälle gibt, deren richtige Diagnose zu den schwersten Aufgaben unseres Berufes gehört, und glaube, daß die Fehldiagnosen häufiger sind, als man im allgemeinen annimmt. Wo aber die Diagnose feststeht, und in der Mehrzahl der Fälle ist sie in der Tat leicht zu stellen, da kann, glaube ich, nicht früh genug die segensreiche Tätigkeit des Operateurs in Anspruch genommen werden.
Im allgemeinen ist es gewiß ein größeres Kunststück, jemand ohne Operation zur Genesung zu führen als mit einer solchen; hier aber, bei der Blinddarmentzündung, ist diese Genesung durch Naturhilfe eine durchaus problematische, sie läßt ein dunkles Fragezeichen über dem zukünftigen Geschick des scheinbar Geheilten bestehen. Der Laie möge sich also mit der Tatsache in etwas beruhigen: noch lange nicht jeder Schmerz in der rechten Seite der Unterbauchgegend ist Blinddarmschmerz; ist die Krankheit aber sicher konstatierbar, so gewährt die Operation die Chance der Genesung von siebenundneunzig zu drei.