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Die hier folgenden Aufsätze sind bei Beginn des Krieges, unmittelbar vor den Schlachten geschrieben. Ich lasse sie ihrer vielfach eingetroffenen Voraussagen wegen hier stehen. Die Erfahrungen, welche ich persönlich in einem Heimatlazarett machen konnte, erscheinen in einem kleinen Bändchen desselben Verlages unter dem Titel: »Zwei Jahre kriegschirurgischer Erfahrungen aus einem Berliner Lazarett«.
Nun die Kapellmeister der Kanonen- und Gewehrfeuermusik ihre Taktstöcke seit langem zu schicksalsdüsteren Ouvertüren, Introduktionen und Vernichtungstragödien erhoben haben und die Welt der Staatengemeinschaften bis zu den engsten Verbänden der Familien ängstlich lauscht, kommen auch uns Ärzten und Chirurgen eigentümliche Gedanken, welche ziemlich weitab von dem Einerlei täglicher Pflichterfüllung liegen.
Vor allem für uns Ärzte ist der Krieg ein Ausnahmezustand von katastrophalem Charakter. Wie eine große Explosion mit zahllosen Einzelverletzungen ruft uns der Kampf auf den Unglücksplatz. Ja, das sind die Zeiten, wo der Militärarzt, jetzt wohl endlich im Vollbesitze offizierspatentlicher Ebenbürtigkeit, im Kasino und bei den Messen auffallend »beliebt« wird. Er muß erklären, Chancen der Verwundungen, Arten der Wundpflege usw. mitteilen und tritt damit aus der wissenschaftlichen und kameradschaftlichen Reserve heraus, die ihm die verschieden gerichtete Interessenbreite in Friedenszeiten auferlegt hatte. Versuchen wir an dieser Stelle dem Laien zu wiederholen, was so ein gut unterrichteter Militärarzt in Kriegszeiten seinen Kameraden wohl mitzuteilen hat.
Zunächst ist die Kriegschirurgie das einzige Feld der gesamten Heilwissenschaften, bei welcher der Arzt, dieser Idealist, der durch seine unermüdliche Fürsorge um die Verhütung der Krankheiten fast ständig am Aste seiner sozialökonomischen Existenz herumsägt, keinerlei Einfluß auf die einzig mögliche »Prophylaxe« (Vorkehrungen zum Zweck der Vermeidung) der Verwundungen besitzt. Jedes Lehrbuch über irgendeine Erkrankung beginnt und schließt mit dem Kapitel der vorausschauenden und sorgenden Vermeidbarkeit des Eintritts der Krankheitsform.
Hier aber haben Ärzte, welche eigentlich von Berufs wegen die geborenen Friedensapostel sein müßten, selbst die Experimente über Geschoßwirkungen (auf Leichen von Mensch und Tier) angestellt, Wirkungen, die sehr erhebliche Wandlungen mit den konstruktiven Fortschritten der Feuerwaffen erfahren haben. Das ist ein eigentümliches Paradoxon, aber die Medizin ist gewissermaßen eine sentimentale, mit Mitleid durchsponnene Wissenschaft, und der Krieg ist eine Art der Beweisführung nach Luthers Rezept: »Gewiß vergebe auch ich meinen Feinden, aber erst, nachdem ich ihnen die Knochen im Leibe zerschlagen habe!« und kann auf Stimmen phantasievoller Weltgefühle nicht hören. In Zeiten, wo der Kampf um das Einzig-Unsterbliche (nach Goethe): die Ideen, entbrennt, ist eben das Leben der Güter höchstes nicht. Das sieht die Medizin ein und sucht nun ihrerseits nach Kräften das Unabwendbare, die unausbleibliche Verwundung aus dem Bereich der Tödlichkeit zu rücken. Da ist es in der Tat interessant, daß ganz allmählich hier unbewußt die Gesetze der Ballistik und der Geschoßtechnik ein humanes Element eingeführt haben, das eigentlich wir Ärzte hätten gar nicht schöner ausdenken können. Wenigstens die Konstruktion der Kleingeschosse folgt instinktiv einer Idee, die man folgendermaßen formulieren könnte: »Es soll genügen, in einer Schlacht eine größtmögliche Schar von Gegnern für längere Zeit außer Gefecht zu setzen. Eine Vernichtung des Feindes durch Menschenopfer wird nicht mehr als unerläßlich angesehen. Die Schwächung feindlicher Truppen genügt zum Siege, an Erhöhung der Todesziffer der Verwundeten liegt uns nichts!« Ebenso wie die Gefangennahme einer erheblichen Mehrheit der Feinde eine Schlacht zugunsten des Siegers entscheiden müßte, so begnügt sich die taktische Theorie, die sich völlig unbewußt aus rein mathematischen Entwicklungen herauskristallisiert hat, damit, die Kämpfer in die Gefangenschaft der Lazarette abzuschieben, ohne ihren Tod als unerläßlich zu fordern. Es ist das wieder einmal einer jener Fälle, die ein nüchternes Denken so zu verblüffen pflegen, weil etwas wie eine transzendente Führung und Regulation in diesem Paradoxon einer humanen Richtung mitten im Trubel des an sich inhumanen Krieges doch zu spüren ist.
Denn daß tatsächlich die Verwundungen mit den Kleinkalibergeschossen ungleich milder verlaufen als jene mit den Geschossen noch der siebziger Jahre, ist bis zur Evidenz erwiesen. Aus den vielen solches bestätigenden Berichten der letzten Kriege hebe ich nur die lebhaften Schilderungen des Oberarztes der Königlichen Klinik Dr. Schliep hervor, der bekundet, daß Soldaten mit glattem Lochschuß durch große Röhrenknochen des Körpers sich oft noch erhoben haben nach anfänglichem Umfallen, um weiterzufechten. In früheren Zeiten war ein Knochenschuß identisch mit einer Zertrümmerung und einem vielstrahligen Splitterbruch eines Knochens, was zusammen mit den gefährlichen Wundinfektionen eine in höchstem Grade lebensbedrohende Verletzung bedeutete. Jetzt kann ein solcher lochförmiger, kleinkanalartiger Schuß in der lächerlich kurzen Zeit von vierzehn Tagen völlig verheilt sein und der Verletzte wieder in die Kampffront einrücken. Auch scheinen die eigentümlichen Explosionswirkungen der Kleinkalibergeschosse im Moment des Aufpralles, die früher in zwei Zonen die Regel waren – nämlich in einer bis zu 400 Meter und in einer über 800 Meter – zur Seltenheit geworden zu sein. Diese Explosionen (nicht des Geschosses, sondern der Weichteile des Getroffenen) sind etwas so Merkwürdiges, daß es vielleicht verlohnt, diesen Punkt etwas aufzuhellen. Der ungeheure Anprall einer kleinen Bleistiftstückkugel hat nämlich die Fähigkeit, das Eiweißmolekül menschlicher und tierischer Gewebe durch Kompression unter Beihilfe des hydraulischen Druckes der wasserhaltigen Körperbestandteile in eine Art Dynamit zu verwandeln, durch das nun sekundär der Schädel völlig fortrasiert, der Leib zu einer einzigen Höhle aufgerissen, die Extremitäten in einen schlotternden Blutklumpen verwandelt werden. Ob diese Dynamiterzeugung aus dem Stickstoff (N) des Körpereiweißes durch queres Aufschlagen des Geschosses, wie es scheint, allein entsteht, oder ob unbekannte Gaswirbel der mitgerissenen Luft diese chemisch-dynamische Umwandlung bedingen, weiß man noch nicht. Jedenfalls ist sicher, daß das Queraufschlagen der Kleinkalibergeschosse durch Vervollkommnung der Waffe überhaupt erheblich seltener ist und daß infolgedessen die Lochschüsse mit glattem Schußkanal enorm viel häufiger geworden sind. Damit ist aber die Tödlichkeit einer modernen Kugel um viele Dutzende von Prozenten herabgedrückt worden, denn solche unter modernen Schußverbänden nur selten (und dann nur epidemieweise) infizierten Schußkanäle heilen ohne jede Kunsthilfe glatt und prompt, selbst wenn sie Gelenke gleichsam wie mit einem Locheisen durchstechen. Schliep hat mir selbst erzählt, daß er derartige Lungen- und Leibschüsse gesehen hat, die vermöge der Glattrandigkeit und Kleinheit der Schußkanäle von selbst geheilt sind.
Ja, es ist wohl nicht ganz unmöglich, daß die Durchschießung großer Gefäße, selbst des Herzens, hier und da einmal bei günstiger Lage des Schusses glücklich ablaufen kann. So hat die Technik, in der Absicht, ein Geschoß möglichst weittragend und im Kolben möglichst wenig Raum einnehmend zu gestalten, die Mordwaffe immer kleiner und damit immer humaner gestaltet. Das verhindert natürlich nicht, daß unter der enormen Anprallskraft des modernen Geschosses jeder Getroffene blitzartig umfällt und daß in dem Geschützregen und Bleihagel viele ungezählte Tausende direkt ihr Leben lassen müssen: denn, was keine Humanität bewußt oder unbewußt verhindern kann, das ist das direkte Eindringen der Kugel in Gehirn, Rückenmark, Herz, Aorta usw., d. h. in Körperorgane, deren Verletzung das Leben entfliehen lassen wie die Luft eines Ballons durch einen Nadelstich. Zweitens kommt es sehr darauf an, welche Füllung z. B. der Magen oder der Darm im Augenblick der Schußwirkung besitzt, weil ja viele Opfer des Krieges bei Leibschüssen einer Art Selbstinfektion durch ausfließende Verdauungsmassen längere Zeit nach der Verletzung erliegen. Um einer etwa optimistischen Auffassung von den Greueln einer modernen Schlacht vorzubeugen, sei auch nur daran erinnert, welch ein eisernes Alphabet die Sprache der großen Geschütze zur Verfügung hat, ganz abgesehen von der Wirkung der Explosionsgeschosse und der Minen. Die ärztliche Kunst im Felde ist aber immerhin gegen früher wesentlich einfacher und dankbarer geworden. Unsere Desinfektionsmaßnahmen, die Bäche von Karbol und Sublimat sind versiegt unter der Erkenntnis, daß Ruhe und Feststellung der verletzten Glieder, schneller Transport in die rückgelegenen Lazarette, saugender Verband und im allgemeinen schonendes Zuwarten bis zum Auftreten bestimmter chirurgischer Forderungen den Sieg über diagnostisches Sondenbohren, Einrenken, primäres Operieren, Kugelsuchen, Gefäßaufspüren, Knochensplitterentfernen usw. davongetragen hat.