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Der »Andere« im Ich

Durch die Tageszeitungen ging einst die erschütternde Kunde von dem verblüffenden Auftauchen eines verschwundenen Bürgermeisters aus Pommern, der, wie schon einmal vor Jahr und Tag, plötzlich spurlos verschollen war. Er wurde in Algier unter der schlimmen Schar der Fremdenlegionäre wiedergefunden. Eines Mittags nach einer Kreisausschußsitzung, woselbst er allem Anschein nach ohne Vorboten des über ihm kreisenden Verhängnisses ruhig teilnahm, riß der Faden, der ihn mit Familie, Amt, Würde und Heimat fest verband, und ein gewandeltes Ich, ein Schatten seiner Persönlichkeit, ging hin, löste sich ein Billett für die Ferne, war verschollen durch Monate und tauchte jetzt auf nach traumesgleicher Wanderung als ein Soldat unter Soldaten in Afrika, im Bereich einer Gemeinschaft, mit der unsere Phantasie alle Schrecken romantischer Despotie und legendärer Menschentragik verbindet. Ein Stück menschlichen Unheils, von der Hand der Geschehnisse geschrieben, wie es grauser kein E. T. A. Hoffmann, kein Callot, kein Edgar Poe ergrübeln konnte. Jetzt fragt die Welt uns Ärzte, die wir nun einmal deuten müssen, was Sphinx und Pythia murmeln, um Auskunft. Wie soll man diese Dinge verstehen, was ging hier vor? »Dämmerzustände« heißt das Wort, das sich zur rechten Zeit einstellt, die Formel, mit der sich der Laie einlullen läßt, nicht ohne mit dem verständnislosesten: »Ach so!« den Empfang der Erkenntnis zu quittieren. Wie so oft gibt hier der Priester ein Symbol, weil er die Wahrheit selbst nicht weiß. Gut ist das Wortsymbol gewählt – es stammt vom alten Arndt in Greifswald, der auch die »Neurasthenie« geprägt hat als eine Münze, die den Wert bedeutet, ohne ihn zu haben. Es entstehen, so sagt die Wissenschaft, erworbene oder angeborene Zustände im Gehirn, die unter dem plötzlichen Schwunde des Bewußtseins Seele und Leib, Denken und Bewegung einhüllen in einen schattenhaften Nebel geistigen Dämmerns, wolkenhaften Geschobenseins des Leibes, wellenhaften Gleitens oder brandenden Aufspringens eines menschlich-unmenschlichen Wesens, das in den Extremen des idiotischen Hinbrütens bis zur Raserei hyänenhafter Vernichtungswut eine unbewußte Existenz eine Zeit hindurch repräsentiert, von der in anfallsfreier Zeit der Unglückliche auch keinen Schatten einer Ahnung besitzt. Das ist der »Andere«, der »Horla« Maupassants, das Neben-Ich, Schlemihls ihm ins Gehirn gesprungener Schatten! Mit Schaudern nur denkt jeder sich hinein in dieses grausame Spiel der Natur, das schreckhafter ist als der veritable Tod: denn hier ist Tod des Ichs und seine fühllos lebende Maske beieinander, nicht Sein oder Nichtsein, sondern Sein und doch Nichtsein! Versuchen wir einmal ganz kalt mit dem Lämpchen unseres Wissens diesem Dämmerschein in sein fahles Gewirr zu leuchten.

Man bezeichnet solche Zustände der erkrankten Seele als »epileptische«. Mit Recht, denn sie teilen mit der echten Epilepsie das Plötzliche, das Periodische, das Bewußtlose, das Vorübergehende, das Anfallsweise der krankhaften Erscheinungen; aber was sie von jener scheinbar trennt, ist eben das Fehlen der völligen Bewußtlosigkeit. Scheinbar: denn auch beim Epileptischen im Krampf arbeiten ja noch in zuckenden Bewegungsstößen alle jene Hirnteile, die eben die Muskelgruppen schlagartig spannen und entspannen. Die auftretende zweite, dämmernde Persönlichkeit dieser verwandelten Wesen ist eben die Bewegung im Seelischen wie der Muskelkrampf der Epileptiker im Motorischen. Der Dämmerzustand ist das Analogon (das Entsprechende, vergleichsweise Parallelgehende) zu dem tollen Muskelspiel der echten Epileptiker.

Was mag, ganz abgesehen von allem dämonischen Beigeschmack, von Romantik und Mysterium, rein materiell im Gehirn solcher Unglücklichen vorgehen? Das ist hier die Frage. Statt all der vielen Theorien, die darüber aufgestellt sind – das Mysterium aufzulösen in mechanisches Geschehen ist ja die schwere, trübe Pflicht der ärztlichen Denker –, will ich nur eine anführen, um diese Dinge dem Begreifen des Laien näherzurücken, eine Anschauung, die für den Leser nur den einzigen Nachteil hat, daß sie von mir stammt, sonst aber wohl geeignet ist, die Erscheinungen unter einem einfachen Gesichtspunkt zu vereinigen.

Im Gehirn arbeiten Blut-, Lymphsäfte und Nervenelemente nebeneinander. Die Nervenganglien tragen die Reizströme für Bewegung und Empfindung, zu denen auch das Bewußtsein gehört, die Säfte geben die pulsenden Isolatoren, die Hemmungsapparate für diese elektrischen Ströme ab. Ja, von dem ungestörten Walten dieser Hemmungssäfte hängt der reguläre Ablauf des seelisch bewegten Innen- und Außenlebens ab. Gesteigerter, gehemmter Blutdruck, Blutlosigkeit, Veränderungen des Blutsaftes durch giftige Beimischungen und abnorme Stoffwechselinnenprodukte (innere Sekretion) lassen die feine Maschinerie des Gehirns in unzähligen Formen falsch und zweckwidrig laufen. Ohnmacht, Raserei, Schlaf, Traum, Wahn, Ruhe, Seligkeit – sie alle sind gebunden an das harmonische oder unharmonische Spiel zwischen Ganglienstrom und Säfteregulation. Nun denke man sich einmal die hin und her flutende Saftmasse des Gehirns, deren Schleusenspiel ja eben den Nervenzuckungen Weg, Bahn, Damm und Durchlaß gewährt, zeitweise und plötzlich erstarrt. Sagen wir einmal kühn: geronnen. Dann sind alle nervösen Partien des Gehirns im Bereich der Gerinnung der Säfte gesperrt, gehemmt, außer Funktion gesetzt, und der Strom der Außenreize vom Lichtstrahl bis zum Windeswehen können an diesen Stellen nicht passieren, sie stauen sich und überfluten freie, nicht durch solche Saftgerinnung gehemmte Bahnen. Die Folge ist eine ungeheure Überströmung intakter Hirngebiete mit elektrischen Reizwellen, und sie erzeugt im zentralen Bewegungsgebiet: Krämpfe! im seelischen: Wahn!

Epilepsie hat also danach ihren Grund in Hirnhemmungen dergestalt, daß das nicht betroffene Gebiet der zentralen Muskelaktion in kolossale Erregungszustände versetzt wird, weil im Moment der Gelatinisierung der Lymphe alle sonst im Seelischen ausgeglichenen Reizwellen gewaltsam in die Muskelmotoren einbrechen und alle Kurbeln, Translatoren und Außenleitungen in ein furioses Tempo jagen. Wahnsinn hat anderseits darin seinen letzten mechanischen Grund, daß durch Gerinnungen in einzelnen Partien die überschüssigen Reizströme mit unhemmbarer Gewalt auf die übrigbleibenden einbrechen und seelische Epilepsie verursachen: Verwirrung, Wahn, fixe Idee, Exaltation, Raserei, Wut oder Melancholie ist die Folge. Man beachte, daß danach die sogenannte fixe Idee ihren Sitz hat in den restierenden, noch gesunden Bezirken der Hirnmaschinerie; der Sitz der Krankheit, die Gerinnung der Isolatoren, muß an einer anderen Stelle gelegen sein. Wenn jemand glaubt, Jesus, Napoleon, die Jungfrau Maria zu sein, so muß er es glauben, weil nur diese Stellen, an denen auch dem Gesunden eine phantasievolle Identifizierung seiner Persönlichkeit mit den genannten Geistern möglich ist, noch funktionieren und alle anderen Vorstellungen, auch die von seinem wirklichen Ich, eingedämmt, sagen wir ruhig »eingedämmert«, sind. Nun kommen wir der Sache näher.

Der Bürgermeister, der schon einmal plötzlich als ein anderer nach Berlin verschwand, hat periodische Anfälle von Gelatinisierung seiner Hirnlymphe, seiner Hirnstromregulation. Gerinnung kann plötzlich in wenig Sekunden einsetzen, wie das Experiment lehrt. Bei Homophilen, d.h. Blutern, deren Blut die Möglichkeit der Gerinnung völlig fehlt, hat niemand noch jemals Epilepsie oder Dämmerzustände beobachtet. Auch weiß ich nichts von Manien, Paralysen, Dementien bei solchen Blutern. Leute, deren Säfte nicht gerinnen können, können auch nicht geisteskrank werden in obigem Sinn. Das ist nicht ausgeklügelt, es ist absolute Tatsache.

Tritt aber diese partielle Saftgerinnung im Gehirn ein, so ist die Störung da, denn wieviel feiner ist das Gehirn gebaut als die Gewebe, in denen wir sonst Gerinnung kennen! Die Vorstellung vom Ich kann schwinden, eine andere dunkle Persönlichkeitsempfindung tritt auf, unklar und nur halb bewußt sich selbst, weil ja die Orientierung für die Umwelt stark erschwert ist und die intakte Automatie des Willens und der Bewegungen arbeitet, gehorsam diesem neuen, nur halbbewußten Schatten eines Ichs. So löst der Unorientierte, vor Welt und Gott Versunkene automatisch sein Billett; Stimme, Gang, Handlung folgt dem dunklen Drang des Unterbewußten, das ja intakt ist, und dieses führt ihn ziellos, planlos, einen Ahasver flüchtiger, halbbewußter Schuld, in alle Winde, dem französischen Werber in die Arme, nach Frankreich, übers Meer, nach Algier! Wohl möglich, daß ein Nichtarzt dem Flüchtling seine Schattenexistenz glaubt und ihn zwar für ein bißchen übergeschnappt, aber noch leidlich brauchbar hält. Nun löst sich die Gerinnung, wie so oft, periodisch wieder auf, und eines Morgens ist die Orientierung wieder da – aber alles ist vergessen, was zwischen Usedom und Algier liegt–, denn Gedächtnis hat nur das Ich, das alles auch wirklich erlebt hat als Ich. Wie »der Andere« nichts vom Ich weiß, so weiß auch das erwachte »Ich« nichts mehr vom »Anderen«.

In dieses grause Bild fällt ein Hoffnungsstrahl von Hilfe. Man kennt ein »Krotalin« benanntes Präparat, ein Schlangengift, das schon in kleinsten Dosen das Blut gerinnungsunfähig macht. Turner in England, Spangler in Amerika, Fackenheim in Kassel haben es ziemlich gleichzeitig gefunden und – das ist das Aussichtsreiche – es mit schönstem Erfolg gegen Epilepsie angewendet. Die damit behandelten zahlreichen Personen verloren gänzlich ihre Anfälle, weil ihr Blut gerinnungsunfähig geworden war. So bestätigt die Erfahrung glänzend die Anschauung von der Ursache epileptischer Anfälle als periodische Gerinnungsvorgänge der Hirnsäfte.

Gibt das nicht einen Ausblick auf neue Wege gegen alles, was man periodischen Wahnsinn nennt?

Der alte Spruch des Paracelsus erhält neuen Glanz: Im Gift ist Segen!


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