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Zeichnung: E. Bayard

1. März 18..

Du, mein Gott, laß mich nicht sterben an Verzweiflung oder Langeweile! Vergiß meiner nicht ganz unter dem Schnee, der täglich höher um mich wächst!«

Wie oft ich dies Stoßgebet schon gen Himmel gesandt – wie oft! Und immer keine Erwiderung. Nun habe ich es zur Abwechslung einmal niedergeschrieben, denn Geschriebenes, meine ich, hat viel mehr Gewicht und vor allem füllt Schreiben mehr Zeit aus als Sprechen, und das ist ein großer Vorzug. Wie ich mir angewöhnt habe, all' meine Gedanken laut auszusprechen, so laut und deutlich, daß meine Stimme vom Getäfel wiederhallt, weil Sprechen länger dauert als Denken, gerade deshalb mache ich mich heute ans Schreiben … was werde ich morgen beginnen?

Mein Handwerkszeug als Schriftstellerin ist nicht eben elegant, ja man könnte es sogar etwas ungenügend nennen, und von irgend einem niedlichen Schreibheft mit Geheimschloß ist nicht die Rede. Eine Tintenflasche hatte ich glücklich entdeckt, leider war aber die Tinte eingetrocknet; meine Federn sind spurlos abhanden gekommen, und Briefpapier habe ich in diesem Hause weder gesehen, noch besessen … an wen sollte ich denn auch schreiben!

Ins Dorf hinunter zu gehen, wäre einfach unmöglich. Der Schnee liegt auf der Landstraße sechs Fuß hoch, von den Hohl- und Feldwegen gar nicht zu reden, wo der Wind die Flocken zu Bergen anstaut, daß ein Eilwagen vom Radschuh bis zum Kutschendach drin verschwände. In verschiedenen Büchern habe ich gelesen, daß Gefangene sich eine Ader aufritzen und mit Blut auf ihr Taschentuch schreiben – leider kann ich an diese interessante Geschichte von nun an nicht mehr glauben, denn die Leinwand schluckt alles an, die Schrift fließt und wird vollständig unleserlich. Ich bin berechtigt, ein Urteil darüber abzugeben, denn ich hab's probiert.

Mit Hilfe von Wasser ist übrigens meine Tinte wieder zur Flüssigkeit geworden; zwei große Kiele hat man für mich dem Schwanze einer Gans entrissen, die sich in ihrer Herzensgüte den Raub ruhig gefallen ließ, und nachdem ich sämtliche Schränke, Schubladen und Fächer durchstöbert, habe ich dies dicke Heft mit dem harten, vergilbten, rauhen Papier entdeckt, in welchem zum größten Glück immer nur eine Seite des Blattes beschrieben ist. Die andre hat man mir übrig gelassen, und nebenbei habe ich noch das Vergnügen, die altmodischen Schnörkel meines Vorgängers zu studieren und mir seine Weisheit zu eigen zu machen.

Das ganze Heft handelt von Streitigkeiten und von geplanten Prozessen zwischen dem Sieur Jean Nicolas und einer Schloßherrin von Haut-Pignon, die Kaninchengehege hatte, deren Sprößlinge seinen Klee verwüsteten. O sende mir einen fehdelustigen Nachbar, mein Herr und Gott, und gib mir streitige Grenzen, um meine Einsamkeit zu beleben!

Ob es viele Menschen gibt, die wirklich wissen, was Einsamkeit heißt, und sich zuweilen diesen Begriff klar machen?

»Einsamkeit,« sagt das Wörterbuch, »ist der Zustand einer Person, die allein ist,« und ein bißchen weiter oben heißt es bei »einsam«: »Einer, der ohne Gesellschaft, nicht mit Geschöpfen seiner Art zusammen ist,« womit die Sache äußerst scharfsinnig und erschöpfend erledigt zu sein scheint.

Kein Kommentar, keine Andeutung irgend welcher Art, daß hier von einer der entsetzlichsten Qualen des menschlichen Daseins die Rede ist; keine Spur davon, daß Einsamkeit und Einsamkeit zwei ganz verschiedene Dinge, und daß die selbstgewählte des Kartäusermönches in seiner lautlosen Zelle und die freiwillige des Trappisten, der Tag um Tag und Jahr um Jahr sein Grab gräbt und umgräbt, durchaus nicht so qualvoll ist, wie die keineswegs selbstgewählte einer Colette von Erlan, die sich ihr Leben freiwillig nie und nimmermehr so gestaltet hätte und die nahe daran ist, dasselbe nicht mehr ertragen zu können.

Einsam sein – allein mit achtzehn Jahren! Den ganzen Kopf voller Ideen und Einfälle haben und nicht im stande sein, einem fühlenden Wesen auch nur ein Sterbenswörtchen davon anzuvertrauen; allein lachen, allein weinen, allein in Zorn geraten – o, das ist, um den Verstand zu verlieren!

Im Sommer und auch im Herbst war's ja noch erträglich: Bäume und Blumen wissen und plaudern und begreifen mehr, als die Menschen in der Regel ahnen.

Wenn ich im weichen Moose lag, da wurden hundert Stimmen um mich laut, und über die kleinen Tierchen, die auf meinem Gesichte umherkrabbelten, konnt' ich, allein wie ich war, hellauf hinauslachen!

Zeichnung: E. Bayard

Oder aber ich setzte mich auf die alte Franzel, unsre Stute, die das Brunnenrad treibt und mich willig trug, soweit ihre Kraft reichte, und, wenn es damit zu Ende, ließ mein großer Hund mich aufsitzen, mein guter »Einer« mit dem schönen, langhaarigen, schwarzen Fell, in dem meine Füße jetzt bis zum Knöchel versinken, während er mir beim Schreiben zusieht.

Abends, da hatte ich dann zuguterletzt die Sterne. Mit allen, die es der Mühe wert fanden, in unsern Winkel hineinzugucken, hatte ich mich in gutes Einvernehmen gesetzt, und wenn ich ihnen meine Kümmernisse erzählte, so blinzelte mich hin und wider einer so mitleidig und verständnisvoll an wie ein Freundesauge.

Aber jetzt, wo seit sechs Wochen ein eisiger Wind weht, der Schnee mich im Hause festhält und die Stimme meiner Tante gerade wie der Nordost draußen alle Tage schneidender und rauher wird, jetzt bin ich der Verzweiflung nahe.

Keine Einbildungskraft hält so lange vor; ich bin ganz und gar zu Ende mit allen Geschichten, die ich mir vorerzähle, und manchmal krieg' ich Angst, daß, wenn der Augenblick kommt, wo ich an meine Stirn anklopfen werde, um bei irgend einem außergewöhnlichen Ereignis Rat und Hilfe dahinter zu suchen, gar nichts mehr da sein wird als eine große leere Höhle. Und mein Abenteuer wird deshalb ja doch nicht ausbleiben, ich weiß ja sogar schon, wie es aussieht.

Mein Abenteuer oder, wenn man so will, mein Schicksal ist groß, mit schwarzen Haaren, strengen Brauen und ernsten Augen, dunkler Haut, gebieterischem Wesen und einem seltsamen Schimmer im Blick, einem Schimmer, der etwas orientalisch Weiches, Träumerisches hat, orientalisch aber auch in der kalten Starrheit ist, die an den blauen Stahl einer Damascenerklinge gemahnt, oder von Erinnerungen an ein entsetzliches Erlebnis der Vergangenheit zeugt, denn mein »Abenteuer« wird vielleicht seltsame Zickzackwege zurücklegen müssen, bis es zu mir gelangt.

Zeichnung: E. Bayard

Sein Schnurrbart wird schmal und dünn sein, nur eine feine schwarze, etwas geschweifte Linie über den fest geschlossenen Lippen, die für mich allein ein Lächeln haben werden, so anmutig und mild, wie es noch kein Mensch an ihnen gekannt hat.

Wird mein Abenteuer mir draußen im freien Felde, in der fröhlichen Morgensonne, oder im stillen Frieden des Abends begegnen? Wird es sich ganz einfach und natürlich einstellen, oder im Zusammenhange mit großen Umwälzungen? Das weiß ich nicht, aber daß es kommen wird, weiß ich.

Wahrscheinlicher und hübscher wäre es mir vorgekommen, wenn es sich den Mai oder Juni zu seinem Erscheinen ausgesucht hätte, und ich bin deshalb zu jener Zeit auch nie an einer Hecke vorübergegangen, ohne sie auseinander zu biegen und nachzusehen, ob sich nichts dahinter versteckt habe, aber auch jetzt hoffe ich immer, und jeden Morgen, wenn ich meinen Vorhang beiseite schiebe, spähe ich hinaus, ob seine Fußstapfen nicht in dem Schnee unter meinem Fenster zu erkennen sind.

Zeichnung: E. Bayard

»Oder aber ich setzte mich auf die alte Franzel …«

Finde ich nichts, so nehme ich mein Abenteuer mir selbst gegenüber in Schutz. Das Wetter ist so rauh und Weg und Steg unzugänglich, und da ich einigen Wert darauf lege, es mit heilen Gliedern in Empfang zu nehmen, so billige ich seine Vorsicht, lieber einen Tag länger zu warten, als einen verstauchten Knöchel zu riskieren, und hoffe auf ein Morgen, das bis jetzt noch nie zum Heute hat werden wollen.

Wird aber mein Vertrauen in die Zukunft hin und wider doch schwankend, so schleppe ich mir aus der Bibliothek einen der großen Folianten herbei, die mich in all den Regentagen getröstet haben, und lese zum hundertstenmal, auf welche verschiedene, aber allezeit wundersame Art die Prinzessinnen früherer Tage aus den halbverfallenen Türmen, in denen sie hinter Schloß und Riegel gehalten wurden, herauskamen. Die Aehnlichkeit zwischen diesen Damen und mir ist überraschend, und wenn ich bedenke, wie übereinstimmend unsre Geschichte von vornherein lautet, so kann ich nur wünschen, daß auch der Schluß möglichst ähnlich sein werde.

Wenn je der Turm, den ich bewohne, noch nicht so nahe am Einfallen ist – der im Westen und der auf der Seite haben das schon besorgt, und der meinige kann ihrem Beispiel jeden Tag folgen – so habe ich doch in meinem Getäfel eine Thür, die auf eine geheime Treppe geht, und in meinem Gesicht ein Paar Augen, die gut genug geschnitten und leuchtend genug sind, um einem Helden Lohn und Dank zu strahlen.

Ich sage das ohne besondern Eigendünkel und Uebermut, habe aber nie recht einsehen können, weshalb es vollkommen erlaubt sein soll, recht laut zu schreien: »Das ist ein schönes Pferd! Das ist eine prachtvolle Rose!« ebenso streng aber verpönt, ein Gleiches von einem Gesicht zu bemerken, zu dessen Schön oder Häßlich man herzlich wenig beigetragen hat, aus dem einfachen Grunde, weil es einem selber gehört.

Es ist gebräuchlich und man findet es sogar ganz nett, wenn einer von seiner Nase Uebles redet oder versichert, daß er schiele; sagt man aber ganz einfach und unschuldig, daß der liebe Gott einem die Augen richtig eingesetzt hat – welches Entsetzen! Ueber so etwas muß ja ein jeder die allergrößte Unwissenheit bewahren, wie wenn nicht das kleinste Eckchen Spiegelglas oder eine helle Quelle im Walde uns ohne irgend eines Menschen Hilfe darüber aufklären könnten.

Man beugt sich darüber, sieht hin und findet's hübsch. Ist das etwa ein Verbrechen, und soll man vielleicht einen Stein ins Wasser werfen, um Runzeln in seinem Gesicht zu erblicken? Diesen Sommer, wenn ich im Moose lag und träumte, kamen die Hirsche und Rehe ganz leise herbei zur Quelle, um zu trinken. Wenn sie fertig waren, blieben sie noch eine Weile stehen, das Köpfchen tief heruntergebeugt, die sanften Augen fest auf das Bild im Wasserspiegel geheftet, und dann sprangen sie mit einem fröhlichen Satze davon, voll unschuldiger Freude, daß ihr braunes Fellchen so hübsch und ihr Geweih so gut aufgesetzt war. Nach den Rehen ging ich dann auch zur Quelle und beugte mich drüber und sah mich, ganz wie sie sich gesehen hatten, auf dem nämlichen blauen Grunde, mit den nämlichen weißen Wölkchen, die über das Bild huschten, und wenn ich dann, auch wie sie, in lustigen Sätzen davonsprang, so war mir's ebensowenig unangenehm, mir mein Fellchen vorzustellen.

Uebrigens ist mein Bild in kurzen Worten zu zeichnen: Ich sehe aus wie jede beliebige Zigeunerin mit schwarzen Augen und sonnverbrannten Wangen, glaube aber, daß meine Haut unter dem Sonnenbrande eigentlich weiß ist, was hier und da zum Vorschein kommt. Meine Nase ist ein wenig kurz und macht mir immer den Eindruck eines Wesens, das so neugierig war, die Welt zu sehen, daß es sich gar nicht die Zeit nahm, vorher ordentlich ausgebrütet zu werden, eine Ueberstürzung, die bei dem Tempo unsers Daseins wahrhaftig nicht vonnöten war, und mein Mund nun, der ist ungefähr wie andre auch, natürlich wie solche, die nicht häßlich sind. Mein einziger Kummer ist die Farbe meiner Haare – sie sind rotblond und zwar entschieden mehr rot als blond und von so ungleicher Länge, daß meine Zöpfe immer Staffeln kriegen und aussehen wie die Bäuerinnen, wenn sie einen Unterrock über dem andern zeigen.

Wollte ich meiner Tante glauben, so wäre ich nicht groß, ja sie hat die Gewohnheit, so oft ich in ihre Nähe komme, von Knirpsen zu sprechen, in einer Art, die mich zum Däumling herunterdrückt, in Wahrheit reiche ich ihr jedoch bis an den Ellbogen, und da ich in der ganzen Umgegend keinen Mann kenne, der über ihre Schulter hinausragt, so scheint mir meine Größe ganz zweckentsprechend zu sein.

So sehe ich aus und so denke ich und so sitze ich hier in meinem epheuumsponnenen Turm, dessen Fuß im tiefen Schnee vergraben ist, und harre meines Befreiers, meines Helden!


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