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12. April.

Die Freundschaft mit Herrn von Civreuse macht eigentlich keine Fortschritte, nein, heute so wenig wie gestern. Er ist jetzt, wie er beim ersten Erwachen gewesen ist, tadellos höflich, aber eigensinnig wie ein Bär und spöttisch, ach! wie – ja, dafür gibt es gar keinen Vergleich! Infolgedessen sind unsre Unterredungen nie etwas andres als Scharmützel.

»Was hast du denn alleweil mit deinem Grafen zu krakeelen?« hat Benedikta gestern zu mir gesagt? »Das bekommt ihm recht schlecht, kann ich dir nur sagen.«

»Aber, Alte, siehst du,« habe ich ihr erwidert, »wenn ich etwas für weiß halte, hält er's für schwarz, und ich kann ihn doch wahrlich nicht immer Ungeheuerlichkeiten behaupten lassen und Ja und Amen dazu sagen, einzig und allein, weil er krank ist, er dagegen tadelt jeden Pfifferling an mir! Nein, das bringe ich nicht fertig!«

Und so ist es auch. Jeden Morgen und jeden Abend predige ich mir vor und sage mir, daß ich ihm gewiß besser gefallen würde, wenn ich anders wäre, und schwöre mir, am nächsten Tage ganz, ganz anders zu sein. Komme ich dann aber hinein und höre diesen ruhigen Ton, der Menschen und Dinge mit der nämlichen Gelassenheit kritisiert – wupp, sind die guten Vorsätze auf und davon, und ich gebe ihm meine ganze Entrüstung zu erkennen. Manchmal aber, wenn ich am Feuer sitze und den schmelzenden Schnee mit Geräusch von den verwitterten Wasserspeiern herunterrutschen höre, und wenn ich dann daran denke, wie einsam ich noch vor einem Monat gewesen bin, und wie nun dies braune Gesicht da vor mir liegt in meiner eignen Stube und diese klangvolle Stimme Fragen stellt, Antworten gibt, mit mir plaudert, und dabei die Aprilsonne durch die alten Scheiben glitzert und blinkt, da bin ich so seelenvergnügt, daß ich ohne weiteres zu lachen anfange und wie toll weiter lache und mich so glückselig, so glückselig fühle!

Das alles kommt Herrn von Civreuse gänzlich abgeschmackt vor, und hie und da, wie zum Beispiel gestern, zieht er dann über meine Thorheiten los und gibt sich die unsinnigste Mühe, mir klar zu machen, daß ich mir auf meinen Frohsinn gar nichts einzubilden brauche, daß unser menschliches Lachen überhaupt nur ein Ueberbleibsel aus grauer Vorzeit sei und sich in gar nichts von dem Grimassenschneiden der Affen unterscheide.

Ob er das aus Spott sagt, oder um mich zu verblüffen, oder ob es ihm am Ende gar ein wenig Ernst damit ist? Ich weiß bei allem, was er sagt, immer nur halb und halb, was er meint, und schließlich, wenn er auch zehnmal recht hätte, was kann ich dafür? Soll ich etwa nicht mehr lachen und keine Sprünge mehr machen, weil dabei eine Aehnlichkeit zu Tage tritt, für die ich nicht verantwortlich bin, und soll ich vielleicht deshalb auch keine Haselnüsse mehr aufbeißen und nicht mehr über Gräben – gelegentlich auch über Tische und Hindernisse aller Art setzen? Ja, dabei spürt man doch die Vetterschaft noch viel deutlicher! …

Ach Unsinn! Er ist ein Pedant, und wir wollen ihn kritteln und mäkeln lassen, solange er Lust hat. Ich habe nun einmal in der schönen Zeit, da ich zu meinem Heiligen betete, und wir uns über das Wesen meines Erretters verständigt haben, ein paar Bedingungen vergessen und ihm nicht alles deutlich genug bezeichnet. Wenn er aber Colette nicht lieb haben kann, wie sie ist, mit samt ihrem Hunde und ihrem Gelächter, ihren Dummheiten und Fehlern, ihren närrischen Einfällen und ihren verkehrt gebundenen Schleifen, so wird sie es machen wie zuvor und wird sich in ihrem kleinen Winkel einen Stern um den andern vom Himmel loshacken, bis sie einen recht guten, schönen gefunden, über den man noch keinen Eimer Wasser gegossen hat, daß er ganz matt und glanzlos geworden ist, ehe er in ihre Hand gekommen.

Ehrlich gestanden, bin ich wütend, nicht nur weil Herr von Civreuse mich nicht leiden kann und mich häßlich und dumm und ich weiß nicht was findet, sondern noch weit mehr, weil ich's nicht zu stande bringe, ihn desgleichen zu finden.

Hin und wider habe ich die größte Lust, ihm mit dürren Worten zu sagen, daß mein Urteil über ihn gerade so wenig schmeichelhaft ist, wie das seinige über mich; aber dann traue ich meiner Zunge wieder nicht; denn im Grunde ist das durchaus nicht wahr, und wenn meine Schmähungen auf einmal Komplimente würden – entsetzlicher Gedanke! Ich weiß wirklich nicht, ob man es jemals so weit bringen kann, Dinge, die man fühlt, und solche, an die das Herz nicht denkt, im gleichen Tone auszusprechen, sicherlich hat er aber viel zu feine Ohren, als daß ich bei ihm einen ersten Versuch wagen könnte.

Ich ziehe es demzufolge vor zu schweigen, wenn ich aber dann wieder sicher hinter Schloß und Riegel in meinem Schlupfwinkel bin, halte ich mich schadlos, indem ich mein dummes Herz und meine eigensinnige Phantasie streng ins Gebet nehme.

Die beiden werden vor Gericht gestellt, und: »Laßt einmal hören,« fahr' ich auf sie los, »und sagt mir klar und deutlich, woher diese Thorheit und Voreingenommenheit bei euch kommt? Wie hat der Mann es euch angethan? Liebenswürdig ist er nicht, höflich mit knapper Not, schön zweifellos nicht in dem Maße, wie wir selbst, und sonnenklar ist, daß er sich nichts aus uns macht und daß wir nicht nach seinem Geschmack sind. Gibt er sich etwa die Mühe, euch diese Thatsache zu verbergen? Hat er in den drei Wochen auch nur ein Sterbenswörtchen fallen lassen, das ihr zärtlich oder galant finden könntet? Oder auch nur einen armseligen Seufzer unsertwillen ausgestoßen? Weiß eins von euch mir von derartigem zu berichten? Vorwärts! Redet doch!«

Keiner der Angeklagten weiß etwas Vernünftiges vorzubringen, aber so kurz ihre immer wiederholte Antwort ist, so wenig läßt sich gegen dieselbe aufkommen: »Er gefällt uns trotz alledem,« heißt es unabänderlich.

Natürlich muß ich deshalb hie und da, ja sogar oft, eigentlich immer an Herrn von Civreuse denken, ohne daß ich im Grunde entzückt von ihm wäre und ohne eine Ahnung zu haben, was für ein Mensch er in Wahrheit ist.

Zuweilen, wenn er mich bei der geringsten Aeußerung so verblüfft anstarrt, kommt mir der Gedanke, ob er nicht auch wie ich aus einem verlassenen und verödeten Schlosse kommt, wo Gräben und Wälle ihn vor aller Frauen Augen bewahrt haben, wie meine Zinnen und Mauern mich vor jeder Berührung mit der Menschheit abschließen.

Freilich müßte es dann schon ziemlich lange her sein, daß er seine Zugbrücke heruntergelassen hat, denn seine Kenntnis menschlicher Natur scheint nicht sehr erfreulicher Art, aber sehr gründlich und ausgedehnt zu sein, und er weiß eine Masse Dinge, die ich nie habe nennen hören, worin eine weitere Erschwerung unsres Verkehres liegt. Da sagt er irgend etwas, ich antworte, ohne eine Idee zu haben, wovon eigentlich die Rede ist, wir zanken uns, und ich verstehe gar nicht, weshalb, und ich glaube, manchmal weiß er auch nicht recht, was er will – nette Unterhaltung!

Zeichnung: E. Bayard

Gestern zum Beispiel sprachen wir von der großen Welt. Ich sagte ihm, wie wenig ich mich außerhalb Erlans auskenne, und bat ihn, mir ein bißchen zu erzählen, wie die Menschen seien und was sie treiben; mir in meiner Höhle ist ja alles fremd!

Mein Wunsch wurde sofort erfüllt; nur war die erbetene Schilderung so wunderlicher Art, daß ich ganz bestürzt und betroffen zuhörte. Denn er behandelte die Menschen fast ohne Unterschied als Schurken oder erbärmliche Gesellen! War das wieder einmal Komödie, oder muß man ihm glauben? Dann würde man ja am besten thun, nie den Fuß über seine eigne Schwelle zu setzen!

Hier eine Schlinge, dort eine Falle, ein Stückchen weiter eine Mine, die beim ersten Drauftreten platzt, und das alles verhüllt und überdeckt mit Blumen, lächelnden Mienen, süßen Reden und Liedern, Händedrücken, das ist seiner Ansicht nach »die Welt«.

Meint er das wörtlich und spricht er von Pulverminen?

Anfangs hatte ich andächtig, mit pflichtschuldiger Aufmerksamkeit zugehört, schließlich aber stellte sich der Widerspruchsgeist ein.

»Aber dann wäre ja Ihre sogenannte Welt,« rief ich in die Höhe springend, »einfach eine Diebeshöhle!«

»Womit sie allerdings eine bedeutende Aehnlichkeit hat,« bemerkte er mit großer Ruhe. »Der Vergleich stimmt.«

Und als ich nun heftig wurde, meiner Entrüstung Luft machte und ihn schließlich fragte, ob er denn alles, was er da behaupte, so sicher wisse, erwiderte er: »Mein Gott! Mit großer Begeisterung schildert ein Reisender selten die Spelunke, in der man ihm seine Uhr und seine Börse abgenommen hat.«

Sollte man ihm wirklich etwas gestohlen haben? Ich konnte mir's nicht versagen, ihn danach zu fragen, und ohne mit der Wimper zu zucken, versetzte er ganz trocken: »Meinen Glauben und mein Vertrauen allerdings, gnädiges Fräulein. Finden Sie das nicht ebenso schlimm, als wenn man seine Reisetasche und eine Handvoll Geld los wird?«

So ist er nun, und das sind seine Wunderlichkeiten. Was soll man auf eine solche Frage antworten? Natürlich bin ich dann ganz verwirrt und verlegen und ich glaube, wir könnten uns gerade so gut unterhalten, wenn er chinesisch spräche – ich verstehe ihn auch auf französisch nicht.

Illusionen scheint er mir gar nicht zu haben, und wenn ich mich seit achtzehn Jahren mit Idealen und Träumereien und Hirngespinsten abgegeben habe, so werde ich jetzt gründlich in Kur genommen.

Ausnahmen gibt er nicht zu: Wir sind wie die andern, und als ich schüchtern ein gutes Wörtchen für die Frauen einlegen wollte und zum mindesten ein bißchen Artigkeit erwartete, hieß es: »Pah! Jeder gehorcht seinem Instinkt! Der Wolf beißt zu, der Tiger braucht die Klauen! Glauben Sie, daß der Unterschied ein wesentlicher ist?«

Mit solcher Anmaßung abzusprechen, es ist unleidlich, und ich bin überzeugt, daß der liebe Gott, der doch dem Menschen ins Herz sieht, nicht mit solcher Bestimmtheit sein Urteil fällen würde.

Ich brannte darauf, ihm Einhalt zu thun, ihn wenigstens ein klein wenig in Verlegenheit zu bringen, und mich kerzengerade vor ihm hinpflanzend, rief ich: »Und ich, die Sie gar nicht kennen, was bin denn ich dann?«

»Sie?« machte er mit einem schwachen Lächeln. »Ob Blüte oder Knospe, wage ich nicht zu entscheiden; an den Instinkten fehlt es keinesfalls.«

Ich hätte ihn prügeln können! Da ich nirgends mehr einen Anhaltspunkt fand, fragte ich schließlich: »Nun, und Herr Jacques?«

»Jacques!« wiederholte er in völlig verändertem Tone. »Jacques ist die menschgewordene Güte und Rücksicht, Hochsinn und Großmut in Person!«

Er hielt inne, um Atem zu holen, und ich warf rasch dazwischen: »Also dieser ist doch eine Ausnahme?«

»Gewiß; jene Ausnahme, welche die Regel bestätigt.«

»Was soll denn nun das wieder heißen?«

»Nicht eben viel. Eine landläufige Phrase, die man so im Munde führt.«

»Wenn sie keinen Sinn hat, soll man die Phrase nicht länger frei lassen, sondern die Landläuferin in den Käfig sperren,« rief ich verdrießlich.

Ich wußte und fühlte, daß ich eine Geschmacklosigkeit beging mit dieser dummen Bemerkung, aber ich war so gereizt, ach so wütend!

Herr von Civreuse lachte, ohne mich einer Antwort zu würdigen, und fuhr dann fort, Lobeshymnen auf seinen Freund zu singen.

Er hatte sich halb aufgerichtet und sprach schnell, als ob er sich als Hilfstruppe eine zweite Zunge beigelegt hätte, und zum erstenmal sah ich ihn erregt … Hübsch, gut, schön, alles war dieser Jacques! Schließlich faßte ich wirklich Interesse für ihn; mir war's, als ob man mir eins jener Feenreiche beschriebe, in denen alles vollkommen ist, wo die Bäche von Milch und Honig strömen, die Felsen von Zucker sind und an heißen Tagen zur Abkühlung ein paar nach Vanille duftende Regentropfen fallen.

Als Graf Peter endlich befriedigt und ein wenig müde in die Kissen zurückgesunken war, rief ich mit tiefster Ueberzeugung: »Das muß ich sagen, Ihren Freund Jacques würde ich auch sehr lieb haben.«

Daraufhin wandte er heftig den Kopf nach meiner Seite, und mir mit schreckenerregendem Stirnrunzeln fest in die Augen sehend, sagte er im schneidendsten Tone: »Was ihn sicher unendlich stolz und glücklich machen würde, mein gnädiges Fräulein.«

Ohne mich eine Sekunde zu besinnen, gab ich ihm nicht minder scharf zurück: »Davon bin ich überzeugt! Geliebt zu werden, erreicht nicht jeder, Herr Graf.«

Darauf trat ein lastendes, tiefes, vernichtendes Schweigen ein.

Gibt es etwas Wunderlicheres, als diesen Charakter, und kann man sich diese Unterhaltung erklären? Dies ist übrigens der gewöhnliche Verlauf unsrer Plaudereien, und ohne daß ich wüßte, wie es geschieht, enden von vier Gesprächen sicherlich drei mit einem Streite.

Konnte ich übrigens in dem Falle mich besser betragen? Nachdem ich mich schweigend darein ergeben hatte, mich unter die Wölfe, wenn nicht unter die Tiger rechnen zu lassen, stimmte ich dann freudig in das Lob seines Freundes mit ein, und nun war er plötzlich wieder wütend.

Den Kopf nach der Wand gewandt, scheinbar ebenso fremd und fern seiner Umgebung, als ob er vom Monde gefallen wäre, hatte Herr von Civreuse ganz fröhlich angefangen einen lustigen Marsch zu pfeifen, wozu er mit einer Hand auf seiner Bettdecke die Begleitung trommelte.

Ich hatte natürlich das Schweigen bald zur Genüge satt, ging ruhelos hin und her und biß mir einen Nagel nach dem andern ab, um mich bemerklich zu machen. Leider war jedoch diese musikalische Leistung nicht im stande, den Marsch zu übertönen, und wider Willen mußte ich die immer wiederkehrende Melodie verfolgen, deren hüpfender Rhythmus zum Taktschlagen zwang. »La … la … la, la, la, la!« Länger konnte dieser Zustand nicht dauern, und mir prickelte es in allen Fingerspitzen, eine tüchtige Dummheit zu machen. Wenn die Melodie ein drittes Mal kommt, werde ich losplatzen, sagte ich mir. Die Melodie kam zum drittenmal, leider war aber der glückliche Einfall, mit dem ich das Gespräch hätte anknüpfen können, ausgeblieben und in Ermangelung eines solchen that ich plötzlich mit dem Fuße unten am Tische einen tüchtigen Ruck, so daß alles, was sich auf der Platte befand, mit ungeheurem Riesenspektakel zu Boden stürzte. Allein Graf Peters Phlegma war diesem Scherz mehr als gewachsen; ohne sich umzuwenden, brachte er seinen Marsch zu Ende, und als ich etwas verwirrt stammelte: »Es ist der Tisch. Mein Fuß hat sich verwickelt,« machte er einfach: »Oh!«

Zeichnung: E. Bayard

Nun galt es, das Unheil gutzumachen. Der Inhalt einer Tasse hatte sich über das Wirrsal von Scherben und Trümmern ergossen.

»Leck es auf; sei ein artiger Hund,« ermahnte ich Einer, ihm die Flüssigkeit zeigend.

Herr von Civreuse hielt mit Pfeifen inne und sah ihm zu.

»Das war die Tasse mit der Morphiumarznei,« bemerkte er dann sehr ruhig. »Er wird wohl seine vierundzwanzig Stunden schlafen.«

Und damit schickte er sich an, seinen Marsch noch einmal anzustimmen.

Aber so war die Sache von meiner Seite nicht gemeint; ich versicherte energisch, daß er sich täusche. Der Widerspruch brachte seinen musikalischen Vortrag zu jähem Ende; um mir zu beweisen, daß ich unrecht habe, wandte er sogar den Kopf um, und einen Augenblick später waren wir wieder im allerschönsten Streite begriffen.

Dies ist der Grundton unsrer Beziehungen. Es läßt sich nicht behaupten, daß etwas von ritterlichem Minnedienst dabei zu spüren ist, und doch finde ich ein unglaubliches Vergnügen daran. Nichts beleidigt mich, nichts verletzt mich, und meine zahlreichen Wutanfälle verglühen so fabelhaft schnell, daß, wenn ich abends in meiner Behausung die Asche durchstöbere, um auch nur einen einzigen noch glimmenden Hassesfunken zu finden, ich statt dessen ein wahres Feuerwerk fröhlicher Erinnerungen erwecke und die Freudenraketen nur so in die Höhe schießen.

Daß ich mit meiner Eroberung nicht vom Fleck komme, weiß ich trotz alledem sehr wohl, aber in ferner Zukunft, in nebeligem Einst, träume ich von Rache und lache mir schon jetzt darüber ins Fäustchen.

Oho! Mein Herr von Civreuse! Wie lange werde ich Sie knieen lassen, wenn Sie mir eines Tages zu Füßen sinken, und wie werden Sie die verlorene Zeit beklagen, wenn Sie so lange, so sehnsüchtig und bang auf ein Lächeln warten müssen, das Sie in diesen glücklichen Stunden so leicht hätten hervorrufen können.

Bei alledem bringt er oft die Rede auf mein Leben in Erlan und läßt sich gern von meiner Kindheit, dem Kloster und der Tante erzählen. Gestern habe ich sogar geglaubt, er wolle mir ein bißchen auf den Zahn fühlen, was ich eigentlich gelernt habe – so ein kleines Examen in Geschichte und Geographie, bei dem ich jedenfalls nicht sehr glänzend bestanden hätte.

Zeichnung: E. Bayard

Ich dagegen frage ihn am liebsten nach seiner künftigen Reise. Mein Gott, was der Mann nicht thun und nicht sehen wird! Ueberall hingehen, wo es einem in den Sinn kommt, von keinem Menschen abhängig sein, Elefanten jagen, wie man hier Spatzen fängt, Berge erklettern, auf denen stehend man den Kopf über den Wolken und die Füße in denselben hat, so daß man seine Stiefel nicht mehr sehen kann, Boot fahren auf dem Ganges, der ein heiliger Fluß sein soll – ungefähr wie ein ganzer Weihwasserfluß bei uns – und in dem man bald auf ein Krokodil stößt, das länger ist, als das Schiff, bald auf einen toten Inder, der den Strom hinunter ins Paradies schwimmt, was ihnen der richtige Weg dorthin zu sein scheint und wobei sie sich das Beerdigen ersparen. Sich von Eingeborenen in einer Sänfte tragen und jeden Morgen beim Frühstück in seinen Austern Perlen finden, die ein ganzes Collier geben würden – ach, was für ein Leben, was für ein Bild!

»O, nehmen Sie mich mit! Nehmen Sie mich mit! Als Diener, als Page, als Köchin oder als Kamerad – wie Sie wollen, aber nehmen Sie mich mit! Ich werde Ihnen keine Mühe machen, werde kühn und tapfer, ausdauernd und zufrieden sein und mit Vergnügen Schakalbraten essen!« so rief es in mir, als er so sprach, leise natürlich, aber ach, so heftig – doch wie ihm das sagen?

Als er mich aber so an seinen Lippen hängen und mit leuchtenden Augen und mit krampfhaft zusammengepreßten Händen dasitzen sah, sagte er mit jener Miene, die er immer annimmt, wenn ich ins Feuer gerate: »Das kommt Ihnen wohl ganz herrlich vor?«

Wenn man ihn so hört und sieht, sollte man wahrhaftig denken, daß er schon zwei- oder dreimal gelebt hat und daß dieser vierte Versuch ihn so gründlich langweilt, wie ein altes Buch, das man schier auswendig weiß. Auf der und der Seite steht dies und auf jener das, sagt er sich und deshalb ist er gleichgültig und blasiert gegen alles und hat nie das Vergnügen, etwas Unvorhergesehenes zu erleben. Nur auf diese Weise kann ich mir seinen verdrießlichen Gleichmut überhaupt erklären, und oft bin ich in Versuchung, ihn zu fragen: »Haben Sie dies oder jenes in Ihrem ersten Leben gedacht oder gethan?« Natürlich würde er mich dann für verrückt halten, und ich bin so klug, meine Weisheit für mich zu behalten und ihm nur ganz einfach zu sagen, wie sehr ich ihn beneide und wie dies abenteuerliche Leben mich lockt und reizt.

»Bah! Sie würden bald genug dran haben,« sagte er achselzuckend, »da drunten gibt's keine Lustbarkeiten.«

Des Reisens müde werden – ich! Ach, ich weiß ja, wie entzückend ich alles finden würde, und nebenbei, was habe ich denn hier für Lustbarkeiten? Ich wäre dem Grafen wirklich dankbar, wenn er mir dieselben nennen wollte!

Ich, die ich immer das Unerreichbare geliebt habe, die ich als Kind in der Wiege nur nach dem goldnen Pfeil, der die Vorhänge hielt, verlangt habe, weil er mir unerreichbar vorkam, und die seither alles begehrt hat, was zu hoch hängt!

»Sie wissen, also nicht, wonach mein Herz steht?« sagte ich zu Graf Peter. »Ich sehne mich immer nach dem, was ich nicht thun und nicht haben kann.«

Zeichnung: E. Bayard

»Wie die Malayen,« bemerkte er, mich mit einer gewissen Neugier anblickend, »welche das Krokodil anbeten, weil, wie sie äußerst scharfsinnig und logisch sagen, ein Krokodil einen Menschen verschlingen kann, der Mensch aber kein Krokodil.«

Ich habe nichts darauf erwidert, im stillen aber fand ich diesen Satz gar nicht so dumm, und die Malayen scheinen mir logische Leute.

Liebt man ein Ding nicht, weil es einem nicht gefällt, so ist es immerhin etwas, wenn man es aus Furcht verehrt, und wenn ich jemand ein Liebesgeständnis erpressen könnte, und wär's auch nur aus Angst, verschlungen zu werden, so würde ich mit Vergnügen Malayin werden.

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Graf Peter an Jacques.

»Mein Freund, daß sie Geist hat, ist in der That nicht zu leugnen, aber das Flackern und Blitzen und Glühen desselben ist mehr beängstigend als erfreulich. Angenehm ist es sicherlich nicht, wenn eine Rakete, statt sich einfach zu den Wolken aufzuschwingen, einem beharrlich vor den Augen herumtanzt; mich wenigstens macht es nervös und das beständige Blinzeln ist ermüdend. Um jedoch gerecht zu sein, muß man zugeben, daß sie kühnen Schwung und ein reiches Farbenspiel hat.

»Du ersiehst aus diesem, daß wir uns eifrig unterhalten, wobei sie sich gar keinen Zwang auferlegt. Natürlich, so ein alter Patriarch, da kann man sich schon gehen lassen.

»Zuerst aber will ich Dir, wenn Du nichts dagegen hast, berichten, wie es mit der Eitelkeitsfrage abgelaufen ist. Die Sache ist besser ausgefallen, als ich zu hoffen gewagt hatte. Die Narbe läuft vom Haar herunter und durchschneidet die Augenbraue. Der Schnitt ist energisch und schmal, und ich könnte mir ebensogut im Felde ein solches Ehrenzeichen geholt haben; insoweit läßt sich nichts dagegen sagen.

»Der gute Doktor hat mich mit wohlberechtigtem Künstlerstolze angesehen und sich seines Werkes gefreut, worauf er dann die Hausgenossen zusammenrief, um diese musterhaft gelungene Probe seiner Näh- und Leimkunst zu betrachten.

Zeichnung: E. Bayard

»Benedikta hat mich in ihrer unverblümten Weise beglückwünscht. ›Natürlich war es vorher besser, darüber ist kein Zweifel. Aber wenn es einmal Flickwerk sein muß, so ist das ein sauberes.‹

»Fräulein Colette hat mir fast die Ehre einer Ohnmachtsanwandlung erwiesen. Weißer als mein Betttuch beugte sie sich über mich, und als ich die Augenbrauen in die Höhe zog, um ihr zu zeigen, daß meine Muskeln wieder Dienst thun, rief sie mit einem hilfesuchenden Blicke nach dem Arzte ganz entsetzt: ›Es bewegt sich.‹

»›Was denn?‹ fragte er. ›Die Stirnhaut bewegt sich? Na, das will ich meinen, das Kunststück bringt die Ihrige auch fertig.‹

»Sie setzte dieselbe, um sich zu vergewissern, sofort nach allen Richtungen in Bewegung und machte sich dann daran, das eben erst enthüllte Auge mit dem ihr länger bekannten zu vergleichen.

»›Es ist ganz gleich,‹ seufzte sie halblaut, woraus ich den Schluß ziehen konnte, daß sie bisher angenommen hatte, ich sei einäugig oder schielend.

»Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, zog der Doktor von dannen und Benedikta kehrte an das heilige Herdfeuer zurück, das in Erlan noch wie zur Zeit unsrer Ahnen unter einem großen Kaminschoße frei und offen, mit dem Dreifuße darauf, lodert, und Fräulein Colette und ich blieben wie gewöhnlich allein.

»Was wir seit einigen Tagen miteinander geschwatzt haben, würdest Du kaum glauben, und ich bin dadurch in meiner Kenntnis ihres Seelenlebens wesentlich gefördert worden.

»Verhülle Dein Antlitz, o Freund, aber ich muß Dir gestehen, daß ich sie von einer haarsträubenden Unwissenheit gefunden habe, unwissend wie einen Fisch! Aber bitte, löse Dich ja nicht in Mitleid auf und vergeude Deine Zeit nicht damit, sie zu beklagen; das wäre sehr schlecht angebracht, denn sie erträgt diesen Mangel mit heiterster Gelassenheit und hat sich aus dem bißchen, was von Kenntnissen zufällig an ihr hängen geblieben ist, ein Gemengsel zurechtgemacht, das nicht Fisch, nicht Vogel ist, nicht Schwanz, nicht Kopf hat, ihr aber vollständig zu genügen scheint.

»Dabei hat sie zwei volle Jahre in einem der besten Pariser Klosterinstitute gesteckt, aber wir sind gutmütige Tölpel gewesen, Du und ich, indem wir glaubten, daß man sich an solchem Orte mit Lernen beschäftige.

»In jeder Klasse herrschen andre Interessen; von den Puppen geht's zum Reifspiel, von den Reifen zu den Backfischnovellen, von den Backfischnovellen zum weltlichen Tande und Getriebe, alles im Polkatakte oder dem auf kurzem Rasen in der Birkenallee eingeübten reizenden Walzerschritte. Die Studien sind dabei immer nur ein lästiges Anhängsel, das fünfte Rad am Wagen.

»Fräulein von Erlan im besondern hat über Wissenschaft und Gelehrsamkeit ihre eignen Ansichten, die sie mir ohne Rückhalt geoffenbart hat. Sie hat nämlich ihrer Lebtage nur die Dinge begreifen und behalten können, die sich auf Personen oder Gegenstände beziehen, welche ihr lieb sind. In dem Falle weiß sie alles haarklein, im übrigen ist ihr alles: ›Schnuppe!‹ Das ist ihr System.

»Die Geschichte Frankreichs gestaltet sich auf diese Weise äußerst einfach. Sie fängt an mit Karl dem Großen, ›ein Ganzer, der mich interessiert‹, und von dem sie eine Menge Dinge weiß: die Kugel, die er in der Hand hält, seinen Degen, seinen großen Fuß, hauptsächlich aber seinen Neffen Roland. Von da geht sie mit kühnem Satze zu Heinrich IV. über, der ihr Abgott ist. Sie kennt alle seine Witzworte, findet sein Profil entzückend und seine Heftigkeit nicht minder; in Bezug auf seine Eroberungen und die Abschwörungsgeschichte ist sie etwas abweichender Ansicht. ›Da man ihm Frankreich in die Wiege gelegt hatte, was brauchte er Kriege zu führen?‹ Napoleon ist dann der Schlußpunkt und der letzte Gegenstand ihrer Begeisterung. Ob wir seither leben oder schlafen, weiß sie nicht und ist entschlossen, sich nicht eher für Politik zu interessieren, als bis ihrem Vaterlande wieder ein recht großer Mann kommt. Meinst Du nicht auch, daß die Aermste Gefahr läuft, einstweilen einzurosten? Es ist so wenig Aussicht vorhanden!

Zeichnung: E. Bayard

»Dazwischen hinein bringt sie dann nach Belieben Bayard, Duguesclin, Johanna d'Arc und alles, was sich schlägt, an. Diese erfüllen in den langen Zwischenräumen den Dienst der Kommas, und ich weiß nicht, ob sie nicht bei Gelegenheit den einen oder die andre krönt oder ihnen eine Kerze weiht.

»Du siehst, das Verfahren hat nicht die geringsten Schwierigkeiten, und sie bleibt keineswegs bei der Theorie stehen, sondern wendet es tapfer auf jedem Gebiete an; auch in der Geographie treten ihre recht zahlreichen Antipathieen unverfroren zu Tage.

»Zum Beispiel kann sie England und die Engländer nicht ausstehen! Auf ihrer Karte hat der Kanal einen roten Strich, den Fräulein von Erlan niemals überschreitet! Daß der Rhein desgleichen abgeschnitten ist, kannst Du Dir denken, und da die Italiener ebensowenig Gnade vor ihren Augen finden, so zieht sich auch die Alpen entlang in Wellenlinien der verhängnisvolle Strich. Dagegen dringt sie aus Sympathie für die Slawen bis nach Rußland vor, und ich glaube, daß sie von mancher Eigenart ihres Heimatlandes wirklich eine Ahnung hat.

»Wenn Du ihr aber sagst, daß der Parnaß ein Hügel gegenüber vom Montmartre ist, so setzt sie das keineswegs in Erstaunen, und Bezirke, Städte, Eisenbahnlinien und Flüsse werden mit der fröhlichsten Unbefangenheit durcheinandergeworfen.

»Wenn Du Dir noch hinzudenkst, daß sie einzelne Bruchstücke von da und dort aufgelesenen Kenntnissen besitzt, Verse in Masse im Kopfe hat, ein paar politische Ideen und Anekdoten dazu, eine Art zu addieren, für die man den bescheidensten Schusterjungen zum Teufel jagen würde, ein wunderbares Selbstgefühl und eine fabelhaft rasche Auffassungskraft, so hast Du ein Ganzes, das einem Pädagogen die Gelbsucht anärgern und einen Phantasten in Ekstase versetzen würde.

»Da ich weder das eine noch das andre bin, sehe ich mir die Sache mit Ruhe an, freue mich darüber, mache mir's bequem, wie wenn ich in einer ersten Rangloge in der Komödie säße, und vergesse dabei nie, Dir das andre Ende des Telephons zu reichen – wofür Du mir hoffentlich Dank weißt!

»Arglos und abenteuerlustig obendrein, wie sie ist, dürfte ich ihr morgen anbieten, sie mit nach Indien zu nehmen, und ich wette zehn gegen eins, daß sie mit beiden Händen zugriffe. Ich kann das ohne alle Selbstliebe behaupten, denn meine Person käme dabei offenbar nicht im mindesten in Betracht. Krokodile, Klapperschlangen und derlei niedliche Dinge sehen, das wäre in ihren Augen ›göttlich‹, und ich glaube, sie würde die Reise im Notfalle schwimmend machen.

Zeichnung: E. Bayard

»Es ist merkwürdig, wie sich bei allen Frauen der nämliche Zug findet: ein Bedürfnis nach Aufregung und nach Abenteuern, die ihnen höher stehen, als jedes Vergnügen, und die ihnen, sobald die Sehnsucht sich erfüllte, einen tödlichen Schrecken einjagen würden.

»Wenn ich mir Fräulein Colette vor einem gähnenden Alligatorrachen denke! Natürlich würde sie ein jämmerliches Geschrei ausstoßen und, vorausgesetzt, daß ihre Beine sie überhaupt noch tragen würden, ihr einziges Heil in der Flucht suchen, dabei träumt sie aber von keinem höheren Glück, als diese liebenswürdigen Eidechsen in der Nähe zu sehen, die, wie sie sich hat sagen lassen, des Abends wie kleine Wickelkinder weinen und wimmern, zu andern Stunden aber, trotz ihrer Kindlichkeit, einen Mann verschlingen, wozu, soviel ich weiß, jedenfalls die zweiten Zähne erforderlich sind.

»Ich thue mein Möglichstes, um ihre Begeisterung etwas abzuschwächen, aber der Himmel hängt ihr so voll Geigen, die klingen und jubilieren, daß meine schwache Stimme gar nicht durchdringt. Natürlich bist Du entrüstet und schreist zum Himmel über das Unrecht, dieser Träumerin ihre Illusionen zu rauben! So – weshalb soll ich denn dies Kind nicht belehren, daß das Wasser naß macht und das Feuer brennt? Sie wäre im stande, keinem von beiden seine Wirkung zuzutrauen und die Hand hineinzuhalten, um es zu probieren. Uebrigens sei ohne Sorge! Meine skeptische Weisheit bringt sie nicht um den Appetit, und sie ihr Vesperbrot einnehmen zu sehen, ist wirklich erbaulich.

»Wenn es vier Uhr schlägt, beim ersten Tone der Turmuhr, einem alten Rumpelkasten, der mit souveräner Verachtung der Genauigkeit seine Pflicht erfüllt und allvierzehntäglich von Fräulein Colette in höchsteigner Person auf Turmeszinne aufgezogen wird, steht sie auf und läuft hinaus. Mitten im Satze, mitten in einer Thätigkeit, wenn sie anscheinend ganz vertieft ist in die Schilderung ihrer Ruine, rennt sie auf und davon, läßt alles liegen und stehen; Schiffbrüchige können sich nicht hastiger auf die langersehnte Nahrung stürzen.

»Fünf Minuten vorher hat sie noch gar nicht daran gedacht, aber wenn die Uhr zum Vierschlagen ansetzt, kommt eine Schwäche, ein Heißhunger, und wenn der Zeiger fünf Minuten weiterginge, wäre das Schlimmste zu befürchten.

»In den ersten Tagen habe ich gespannt und ängstlich auf ihre Rückkehr gewartet und mir jedesmal die Plötzlichkeit ihres Abgangs mit irgend einem Schrecknis in Zusammenhang gebracht. Nach fünf Minuten aber erschien sie unfehlbar wieder, ihren Rock oder ihre Schürze ein wenig aufgehoben, um ihre Vorräte darin zu transportieren, setzte sich auf ihren alten Platz, nahm das Gespräch am gleichen Punkte, wo sie es gelassen hatte, wieder auf und vertilgte dabei ihr Mahl, und was für ein Mahl!

»Zu ihrer Ehre muß ich bemerken, daß sie noch nie versäumt hat, mich zur Teilnahme an demselben aufzufordern, sie wird aber so vortrefflich allein damit fertig, daß ich mir ein Gewissen daraus machen würde, auch nur einen Bissen zu berühren, und ich sehe ihr mit Vergnügen zu, wie sie trotz einem geschnitzten Nürnberger Nußknacker Nüsse aufbeißt, getrocknete Pflaumen, die wie geschmolzener Kautschuk aussehen, vertilgt, oder eine Art von Kuchen aus weichem Teig, der sich in lange weiße Zacken ziehen läßt, verzehrt.

Zeichnung: E. Bayard

»Nur ein einziges Mal habe ich von ihrem artigen Anerbieten Gebrauch gemacht. Nebst einem riesigen Stück Brot hatte sie der Reihe nach fünf rotbäckige Aepfel aus den Falten ihres Kleides hervorgezogen. Fünf Aepfel! Ist es nicht etwas Merkwürdiges um solch einen Kindermagen, der mit einem Beefsteak nicht fertig wird, aber fünf Aepfel in kürzester Frist verarbeitet?

»Erst hatte ich dankend abgelehnt, und ohne weiter in mich zu dringen, hatte sie sich in ihre ernste Aufgabe vertieft. Mit großer Gewissenhaftigkeit wurde jede einzelne Frucht mit ihrem wollenen Kleide gerieben, und der erste Biß geschah erst, wenn sie in diesem eigentümlichen Spiegel ihre schwarzen Augen funkeln gesehen hatte. Ihr Ernst und Eifer belustigten mich, ich fing an, mich für eigensinnig widerstrebende Flecken zu interessieren, und meine Augen folgten ihren Bewegungen so andauernd, daß es ihr beim dritten Apfel auffiel. Ob wirklich Neid und Gier in meinem Blick gelegen, oder ob sie sich das nur eingebildet hatte, weiß ich nicht, kurz, sie streckte mir plötzlich die Hand hin.

»›Ich habe heute fünf; Sie könnten wohl einen annehmen,‹ sagte sie mit höchstem Ernst, und setzte, als ich, ganz überwältigt von dieser Großmut, schwieg, sofort hinzu: ›Ich werde ihn schön polieren für Sie!‹

Zeichnung: E. Bayard

»Immer mit derselben Falte ihrer Rockgarnitur scheuerte sie nun so mächtig darauf los, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg, und sobald der Apfel den für nötig erachteten Grad der Vollkommenheit erreicht hatte, bot sie ihn mir hin.

»Ich aß, und wie Du Dir denken kannst, mit einer der Bedeutung des Geschenkes entsprechenden Dankbarkeit, doch beunruhigte es mich einigermaßen, daß es gerade diese symbolische Frucht war, und ich konnte mich nicht enthalten, argwöhnisch unter allen Möbeln nach der Schlange zu spähen – in sichtbarer Gestalt wenigstens war sie nicht vorhanden.

»Dabei fällt mir übrigens ein physiologischer Lehrsatz von Fräulein Colette ein, der Dir Spaß machen und Deine Begriffe von ihrer Schulweisheit vervollständigen wird.

»Es war gestern, um die schicksalsvolle Stunde, von der ich Dir eben gesprochen habe. Schlag vier Uhr war sie aufgebrochen, um ein Viertel nach vier war sie noch nicht zurück. Begreifst Du, wie ungewöhnlich diese Thatsache war: fünfzehn Minuten, um ihr Göttermahl zusammenzusuchen! Gerechter Gott! Was würde sie herbeischleppen! Ich verwandte kein Auge mehr von der Thür. Nach weiteren fünf Minuten erschien sie, ganz ruhig und stetig gehend, beide Hände vor sich hinhaltend, als ob sie eine Reliquie trüge. Der Gegenstand so zarter Sorgfalt war eine Portion heißen Brotes, das noch dampfte und rauchte, ein Ranken Brot, wie Benedikta sagt, sicherlich nicht viel unter einem halben Pfunde, und in der Mitte desselben, wo der Teig noch ganz weich und unausgebacken war, hatte sie einen künstlichen Graben gebildet, in dem ein kleiner Strom von dickem, gelblichem Rahm sich mit nahrhaftem Dufte verbreitete.

»Sie atmete erleichtert auf, als sie ihren Stuhl erreicht hatte, schüttelte zuversichtlich den Kopf und sagte, mit einer sehr ausdrucksvollen Grimasse auf ihre Nahrung deutend: ›Das brennt wetterlich!‹

»Dann nahm sie das fabelhafte Gericht sofort in Angriff, mußte jedoch von Zeit zu Zeit mit Abbeißen innehalten, um zu blasen.

»›Aber,‹ konnte ich nicht umhin, zu bemerken, ›Sie werden doch das nicht essen?‹

»›Natürlich! Weshalb denn nicht? Das schmeckt ausgezeichnet.‹

»›Wohl möglich, aber es liegt wie Blei im Magen. Es muß Ihnen schaden.‹

»›Im Magen?‹ wiederholte sie mit großer Ueberlegenheit. ›Was soll denn das meinem Magen schaden?‹

»Und sie lehnte im Stuhle zurück, um sich bei dem Gedanken, daß ein halbes Pfund qualmenden Brotes ihren Magen belästigen könnte, halb tot zu lachen.

»›Ja, es wird ihm doch wahrhaftig schwierig sein, das zu verdauen,‹ erwiderte ich ruhig.

»Als sie mich aber mit ungeheuren Augen ansah, kam mir der Gedanke, daß sie am Ende gar keine Idee habe, wovon ich spreche, und die klassische Schilderung aus Kinderzeiten hervorkramend, begann ich schulmeisterisch: ›Der Magen ist eine Art von Tasche, in Form eines Dudelsacks. Die Ausbauchung liegt auf der linken Seite …‹

»›Oho!‹ unterbrach sie mich nicht eben höflich, ›so denke ich mir die Sache nun ganz und gar nicht.‹

»Das Brot schien indessen doch zu heiß zu sein, um es die ganze Zeit in der Hand zu halten; sie legte es auf ihren Schoß und begann unaufgefordert ihre Erklärung: ›So stelle ich mir's vor! Da ist ein kleines, ganz gebeugtes Männchen, in mausgrauem Rock mit einer Perücke und einem Rohrstöckchen mit goldnem Knopfe, und das Männchen geht in einem kleinen Kämmerlein unaufhörlich hin und her. In der Mitte des Stübchens ist ein großer Kamin, durch den alles, was man ihm schickt, herunterprasselt und auf den er losstürzt, sobald eine Ladung im Anzuge ist. Er bückt sich, sucht aus, besieht sich die Sachen, reibt sich die Hände, wenn ihm etwas besonders gut vorkommt, zieht die Schultern in die Höhe und ärgert sich, wenn etwas nicht nach seinem Geschmack ist. ›Schafsköpfe, Esel, was schicken sie mir denn da wieder!‹ brummt er vor sich hin und stößt alles, was er nicht mag, in eine Ecke, wo man die Ueberbleibsel hinwirft und wo vielleicht auch dies heiße Brot hinkommt – weiteren Schaden richtet es gewiß nicht an. Von einer Tasche und einem Dudelsack habe ich meiner Lebtage nichts gehört und will auch nichts davon wissen. Mein kleines Männchen besorgt die Sache ausgezeichnet, und wir verstehen uns prächtig. Zieht er auch manchmal zur Zeit des unreifen Obstes die Stirn ein wenig kraus, so hat er doch nie eine Widerrede gewagt; weshalb soll ich mir da jemand anders annehmen?‹

Zeichnung: E. Bayard

»Das Brot rauchte nicht mehr, die Kruste bekam im Erkalten Risse, und der Rahm duftete nahrhafter als je. Fräulein Colette ergriff ihre Lieblingsspeise vorsichtig mit den Fingerspitzen und aß sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rein auf, jedenfalls fest überzeugt, daß sie mich über die Existenz des kleinen Männchens gründlich belehrt habe.

»Wenn man sie von ihrer Kindheit erzählen hört, erklären sich freilich all diese Absonderlichkeiten. Gestern brachte ich die Rede darauf und suchte in ihren launigen Berichten die Spur einer Erzieherin, eines Lehrers, irgend einer Leitung, und da mir kein Wort auf das Vorhandensein von etwas derartigem hindeutete, fragte ich schließlich: ›Wer hat Sie denn erzogen?‹

»›Mich? Kein Mensch!‹ erwiderte sie. ›Ich bin aufgewachsen wie das liebe Unkraut. Meine Freiheit war ja der einzige Ersatz für alles!‹

»Und dabei fuhr sie mit den Händen in der Luft umher, um mir darzuthun, wie das Unkraut aufschießt.

»Kannst Du Dir diese Erziehung vorstellen? Zwischen ihrem Hunde und ihrer alten Magd wächst das Kind heran und hat Tag für Tag vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt, um nach Herzenslust Dummheiten zu machen! Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch die That, welcher ich ihre nähere Bekanntschaft verdanke, weit verständlicher; zwischen Gedanken und Ausführung liegt bei ihr offenbar nichts, als die thatsächlich nötige Zeit; andre Hindernisse kennt sie nicht.

»Und doch hat dies Leben auch seine sehr trüben Stunden, von denen sie ohne Bitterkeit oder Groll spricht, und die Tante, welche, wie Du weißt, eine entsetzliche Person ist, hat mir soeben eine Probe ihrer Liebenswürdigkeit gegeben und uns eine Scene bereitet, die unsern kleinen Kreis noch erschüttert und deren Spur sich nicht verwischen wird.

»Vor ungefähr zwei Stunden, ich sah eben zu, wie ›Einer‹ unter Colettes Leitung sein ganzes Repertoire an Kunststücken zum besten gab, wobei sie nicht verfehlte, die kühnsten Sätze gelegentlich mit auszuführen, ging plötzlich die Thür auf und eine Frau trat herein. Groß, dürr, knochig, häßlich wie kaum das Volksmärchen etwas Groteskeres erfunden hat, besorgte sie ihre Anmeldung höchst selbst, und der Klang ihrer Stimme genügte, um die Nichte sofort in gemessene Haltung zu versetzen, während der Hund seine junge Herrin umkreiste und sie zähnefletschend bewachte.

»›Mein Herr, ich bin Fräulein von Dorn,‹ lautete ihre Anrede.

»›Ein sehr treffend gewählter Name,‹ war ich versucht zu bemerken, sagte aber nur mit gebührender Ehrfurcht: ›Gnädiges, Fräulein, ich habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen: Graf Civreuse.‹

»›Es ist jetzt vier Wochen her,‹ fuhr sie fort, ›daß Sie bei mir angekommen sind, hereingeschneit, ich weiß nicht woher, und da ich voraussetze, daß Ihr Aufenthalt nun nahezu abgelaufen ist, wollte ich Sie vor Ihrer Abreise doch einmal sehen.‹

Zeichnung: E. Bayard

»›Angekommen,‹ war stark, ›Aufenthalt‹ noch stärker, und Du wirst zugeben, daß es schwierig wäre, jemand noch deutlicher an die Luft zu setzen. Ehe ich ein Wort der Erwiderung finden konnte, rief Fräulein von Erlan, die hochaufgerichtet dastand: ›Sagen Sie wenigstens: bei uns! Ja, sogar: bei mir, denn Sie wissen sehr wohl, daß Herr von Civreuse in meinem Flügel des Gebäudes ist, und was das Hereingeschneitsein betrifft, so scheinen Sie vollständig vergessen zu haben, auf welche Weise Herr von Civreuse hereingetragen werden mußte. Ich werde Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen: Ich habe diesen Herrn verwundet, indem ich einen Gegenstand durchs Fenster schleuderte, der ihm, dem arglos und ahnungslos Vorübergehenden, an den Kopf flog. Mehr tot als lebendig fanden wir ihn und Benedikta und ich haben ihn in die Küche geschleppt. Dann ging sie hinauf, dies Zimmer zurecht zu machen, ich aber blieb bei ihm, und an seiner Seite knieend, that ich den heiligen Eid, ihn zu pflegen, zu heilen und seine Verzeihung zu erflehen. Erinnern Sie sich vielleicht nun all dieser Umstände, die ich Ihnen schon einmal klar gemacht habe?‹

»›Ich erinnere mich einzig und allein dessen,‹ sagte sie, wuterfüllt auf das junge Mädchen losfahrend, ›daß ich mich allerdings schon einmal dagegen aufgelehnt habe, daß du hier unter ganz unmöglichen Verhältnissen die Krankenpflegerin spielst; diesmal aber werde ich dich zu zwingen wissen, diese Rolle aufzugeben.‹

»›Weshalb haben Sie denn dieselbe nicht selbst übernommen?‹ gab Fräulein Colette zurück. ›Ich sollte denken, an diesem Bett wäre Raum für zwei gewesen.‹

»›Und dieses Bett werde ich verlassen haben, ehe der Abend kommt – darüber können Sie außer Sorge sein, meine Gnädige,‹ rief nun ich. ›Nie hätte ich auch nur für einen Augenblick diese Lagerstätte angenommen, wenn ein Bewußtloser Herr seiner Handlungen wäre und wenn ich hätte ahnen können, daß man mir hier so widerwillig Obdach gewährt.‹

»Ich war außer mir; auf meinen Lippen brannten die heftigsten Schmähungen und ich weiß kaum, was mich abhielt, aus dem Bette zu springen. Die Gegenwart dieses weiblichen Wesens keinesfalls, und wäre sie allein gewesen, so hätte ich ihrer schamhaften Tugend dieses unerwartete Schauspiel schon aus Rache bereitet … aber sie war ja nicht allein …

»Sie würdigte übrigens meine Erklärung nicht eines Sterbenswörtchens der Erwiderung, sondern sagte, zu ihrer Nichte gewendet: ›Da zwingt dich also einer, der etwas mehr Vernunft hat, zum Gehorsam.‹

»Damit hielt sie die Sache offenbar für abgethan. Mit großen, schlotterigen Schritten, wie eine abgetakelte Fregatte, deren dienstunfähigen Rumpf man auf den Sand schiebt und die an jeden Felsbrocken anstößt und dabei fortwährend ins Wanken gerät, schritt sie der Thür zu, war aber noch nicht halbwegs, als eine vierte Person die Bühne betrat. Die Brauen finster zusammengezogen, die Lippen zornig aufgeworfen, flog unser guter Doktor herein wie die Kugel aus dem Rohre und hielt, ohne irgend welche Umstände zu machen, die Dame am Arme fest.

»›Wer spricht in einem Krankenzimmer von Gehorsam, wenn der Arzt nicht da ist!‹ schnauzte er sie an, ohne im geringsten verbergen zu wollen, daß er an der Thür gehorcht hatte.

»›Sie,‹ sagte er gebieterisch zu Fräulein Colette, ›Sie sind hier an Ihrem Platze und verlassen ihn nicht. Ich habe Sie dahingestellt, ich halte Sie hier fest; das Ganze ist meine Sache! Sie, mein Herr,‹ kam ich an die Reihe, ›Sie müßten sich, dächte ich, unsres ersten Gespräches erinnern und wissen, was ich unter Verantwortlichkeit verstehe. Ich habe Ihr Ehrenwort, daß Sie Erlan keine Stunde eher verlassen, als bis ich selbst Ihre Gefangenschaft aufgehoben habe. Ihnen aber, meine Gnädigste,‹ wandte er sich jetzt an die alte Jungfer, die nicht mit der Wimper gezuckt hatte, ›habe ich die Ehre, meinen Arm anzubieten, um Sie in Ihre Gemächer zu geleiten. Unterwegs werde ich Ihnen eine kleine Vorlesung über Knochenbrüche, deren Wirkungen Ihnen ganz unbekannt zu sein scheinen, halten, die Sie sicherlich interessieren wird.‹

»Sie aufs verbindlichste anlächelnd, zog er Fräulein von Dorn, die sichtlich zu sehr überrascht war, um an Widerstand zu denken, mit sich fort; schon hatten sie das ganze riesige Zimmer durchschritten, als der Doktor auf der Schwelle innehielt, sich nach uns umwandte und, uns fest ansehend, die Bemerkung hinwarf: ›Uebrigens muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Fräulein von Erlan sich vorhin etwas getäuscht hat. Nicht dieser Flügel des Schlosses ist ihr Eigentum, sondern das ganze Schloß samt Ruinen und allem Gerümpel.‹

»Damit ging das Paar ab.

Zeichnung: E. Bayard

»Daß ich innerlich vor Wut heulte, ist ein viel zu schwacher Ausdruck für meinen Gemütszustand; meine Hand zeichnete die schneidigsten Säbelhiebe in die Luft, und, o, wenn ich einen zur Stelle gehabt hätte! … Leider Gottes schützte das Geschlecht, dem der Gegner anzugehören vorgibt, denselben vor jedem Angriffe, obgleich ich Grenadiere gesehen habe, die sich neben dieser Gestalt wie Schneidergesellen ausgenommen hätten, und obgleich auch an Schnurrbart bei ihr kein Mangel ist! … Ueberdies mußte ich an Fräulein Colette denken, für sie war dieses brutale Auftreten ja noch viel peinlicher gewesen.

»Ich wandte mich nach ihr um, ganz darauf gefaßt, sie in Thränen schwimmend zu finden; dem war aber nicht so; den Kopf zurückgeworfen, funkelnden Auges stand sie da wie eine zornige Kriegsgöttin.

»›Das böse Weib! Das böse Weib!‹ knirschte sie, auf den Boden stampfend.

»Plötzlich warf sie sich auf einen der mächtigen Lehnstühle.

»›Und es sind achtzehn Jahre, daß ich mit ihr lebe!‹ rief sie tragisch.

»›Ist sie denn immer in solcher Laune?‹ fragte ich.

»›Immer!‹

»›Ja, aber wie kann man sich denn das erklären?‹

»›Was weiß ich,‹ versetzte sie achselzuckend, ›vielleicht eine Säure im Kopfe. So gut Brennesseln wachsen, so gut können auch Frauen von Grund aus böse sein. Sie gehört jedenfalls zur Gattung der Brennesseln.‹

»›Und was macht Ihre Tante so hart gegen Sie – abgesehen von meiner Anwesenheit?‹

»Sie antwortete nicht, sah mich ein bißchen unsicher an, indes ein leises Lächeln um ihre Lippen zuckte und sie sich gewohnheitsmäßig mit dem langhaarigen Felle ihres Freundes zu schaffen machte. Ich blickte sie, eine Antwort erwartend, an und dabei kam mir der Gegensatz dieses reizenden Gesichtchens zu den breiten, harten, maskenartigen Zügen der Tante so deutlich zum Bewußtsein, daß ich unbedenklich ausrief: ›Etwa, daß Sie achtzehn Jahre alt sind, und jene –‹

»Das Lächeln wurde etwas ausgesprochener, hinter den gesenkten Wimpern flog ein Blick zu mir herüber, und Fräulein von Erlan meinte: ›Nun, achtzehn Jahre ist sie ja wohl auch gewesen, nur –‹

»Wieder folgte ein Schweigen, die Augenlider sanken vollständig herab und die langen, am Ende gebogenen Wimpern legten sich wie ein Spitzenfächer auf die rosige Wange. Verlegenheit ist bei ihr eine seltene Erscheinung, kleidet sie aber gut, und ich zögerte nicht, meinen Gedanken Worte zu geben.

»›Dem Taufschein nach – zweifellos! Nur mag dieser Frühling nicht die Blüte des Ihrigen gehabt haben!‹

»Der Kuckuck soll mich holen, wenn ich weiß, wie ich dazu gekommen bin, mich zu dieser Wendung zu versteigen. Fräulein Colette hatte sich freilich tapfer meiner angenommen und ich war ihr wohl eine Gegenleistung schuldig. Uebrigens nahm sie meine Worte nur als einfache Bestätigung einer nicht zu bezweifelnden Thatsache, lachte offen und herzlich und schlug die Augen mit dem Ausdruck ›Jetzt haben Sie's herausgebracht‹ zu mir auf. Offenbar sehr in ihrem Vertrauen bestärkt, that sie nun alle Schleusen ihrer Kindheitserinnerungen auf und erzählte mir haarklein alles und jedes, was auf die Tante Bezug hatte und wie sie sich als kleines Mädchen vor ihr gefürchtet, und schilderte die großen und kleinen Leiden ihres jungen Lebens ohne jegliche Bitterkeit, aber mit so köstlichem Darstellungstalent und so liebenswürdiger Bosheit, daß die Gestalt dieser wunderlichsten aller Erzieherinnen über die Maßen lebensvoll und grotesk vor mir stand. ›Selbstsucht und Neid‹, diese dem Fleische angeborenen Triebe, machen hier das ganze Wesen aus, und ein Zug, den ich Dir erzählen werde, kennzeichnet die Frau prächtig.

»Sie legt ungemein viel Wert auf Essen und Trinken und ist sehr darauf bedacht, daß die bescheidenen Mittel des Haushaltes die Vortrefflichkeit der Küche nicht beeinträchtigen; auf das stets reich und sorgfältig bereitete Mahl wird aber nie so viel verwendet, wie an Fasttagen. Regelmäßig erscheint an solchen ein besonders delikates Gericht, und wenn man sich zu Tische setzt, bemerkt Fräulein von Dorn gegen ihre Nichte: ›Mein Magen verträgt keine Fastenkost, Colette, du mußt für uns beide Enthaltsamkeit üben.‹

»Und darauf verzehrt die Nichte ihre im Wasser abgesottenen Gemüse und Kartoffeln beim Dufte einer Taube oder eines Rebhühnchens, welches von der Tante mit frommem Aufblick nach oben und dem Gebet, der Himmel möge diese Stellvertretung in Gnaden annehmen, verzehrt wird …

Zeichnung: E. Bayard

»Daß über dies und andres im Fegefeuer einst Abrechnung gehalten und sie dort zur Erkenntnis gelangen wird, daß ihre Anweisungen nicht honoriert werden, hoffe ich. Aber bis dahin hat es noch gute Wege, und wer wird einstweilen dies Kind aus ihren Klauen befreien, wer wird ihr die verlorenen Jahre, den Mangel an Liebe und Erziehung ersetzen?

»Ich sage Dir, es ist nichts mehr und nichts minder als eine widerrechtliche Gefangenhaltung, die sich hier abspielt, und nach nichts anderm trachtet dieses Weib.

»Die gebratenen Tauben, die sie der Nichte entzieht, die weichen Decken und die Federbetten, die sie ausschließlich für sich behält, all die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens, die sie nur für sich schafft und sucht, sind ja schließlich unwesentlich neben der Thatsache, daß sie das Mädchen in diesen vier Wänden verkümmern lassen will, ihre Jugend, ihr ganzes Leben in die Erde vergraben, daß auch keine Menschenseele ahne, was in dieser Ruine lacht und blüht.

»Wenn Du dies Verbrechen nicht widerrechtliche Gefangenhaltung nennen willst, so taufe es meinetwegen anders, aber gib mir den bezüglichen Strafparagraphen in unsrem Gesetz an.

»Was mich betrifft, so gedenke ich die Alte weniger zu bestrafen, als ihr vielmehr das Spiel zu verderben, und zwar ohne Säumen – am Tage, nachdem ich das Haus verlassen habe, werde ich mich ins Geschirr werfen. Und wenn ich die Presse auf sie hetzen, einen Familienrat zusammentrommeln oder die Polizei auf sie hetzen müßte, ich werde es zu stande bringen, diese Mördergrube soll gesprengt werden … Wem stünde die Rolle des Gerechtigkeit Fordernden besser an, als einem, der die Welt kennt, wie sie ist, und sie von Herzen verachtet?

»Zum Lohne für ihren treuen Pflegerinnendienst soll Fräulein Colette ihre Freiheit erhalten und meine Hand wird ihr den Käfig aufthun, so wahr Gott lebt! Jacques, Du verstehst mich und kennst mich, es soll geschehen.

»Eine halbe Stunde später kam der Doktor wieder und folgende Unterredung fand statt.

»›Doktor, ich will fort.‹

»›Herr Graf, lassen wir das aus dem Spiele, wenn ich Sie bitten darf.‹

»›Geben Sie mir mein Wort zurück.‹

»›Fällt mir nicht ein. Sie sind jetzt gerade im heiklen, kritischen Zeitpunkt; machen Sie mir nicht den schönen Bruch zu schanden.‹

»›Sie müssen doch selbst fühlen, daß ich nach diesem Auftritte nicht bleiben kann.‹

»›Wenn ich Ihnen aber sage, daß die Person verrückt ist. Soll ich sie vielleicht mit einem ärztlichen Zeugnis ins Narrenhaus spedieren, damit Sie Ruhe haben?‹

»Ich blieb bei meinem Willen und brachte meine Gründe vor.

»›Mein Herr,‹ sagte der gute Mann schließlich trocken, ›ich bin alt und selbständig genug, um die Verantwortlichkeit für meine Handlungen auf mich zu nehmen. Wer an Ihrem Hiersein etwas auszusetzen hat, den verweisen Sie gefälligst an mich.‹

»Damit wandte er mir den Rücken, während Fräulein Colette mir zum hundertstenmal wiederholte: ›Wenn man Ihnen doch sagt, daß Sie bei mir sind.‹

»Weiter denkt das Kind natürlich nicht.

»Schließlich verpflichtete sich der Arzt, mich nach Verlauf von weiteren zehn Tagen freizugeben, und ich habe gelobt, vorher keinerlei Fluchtversuche anzustellen. Aber bei allem guten Willen, die Sache ruhig und gleichmütig hinzunehmen, muß ich mir doch immer wieder sagen, daß ich in einer falschen Stellung bin. So oft eine Thür geht, schrecke ich zusammen wie ein Schuljunge, der ein schlechtes Gewissen hat, und ich würde am liebsten Fräulein von Erlan ganz aus meiner Stube verweisen. Sie denkt sich nur gar nicht viel dabei, für sie ist der Eingriff der Tante eine Scene, wie sie deren schon viele erlebt hat, und unbekümmert und harmlos lebt sie fort wie zuvor.«


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