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Zeichnung: E. Bayard

6. März.

Seit acht Tagen sind unsre beiden Kühe krank, was an und für sich weder sehr merkwürdig noch irgendwie komisch ist, und doch verdanke ich diesem Umstande den prächtigsten Tag, den ich seit langer Zeit verlebt habe.

Am ersten milchlosen Morgen bekamen wir Kaffee, am zweiten Thee und für den dritten hatte Benedikta eine Suppe geplant; da jedoch Fräulein von Dorn gar keine Vorliebe für leibliche Entbehrungen und Kasteiungen hat, so wurde eine Bauersfrau im Dorfe von unsrer Lage in Kenntnis gesetzt und diese führt uns auf Eselsrücken unsre nötige Milchration zu.

Da sie sich heute früh etwas verspätet hatte, war ich schon auf, als sie kam, und stand dabei, wie sie uns unser Maß zuteilte, als plötzlich im Zimmer der Tante Sturm geläutet wurde. Die alte Küchenschelle, welche dies Heiligtum mit der Küche in Verbindung setzt, ertönt in der Regel nur zu ganz bestimmten Stunden, und sobald sie ihre Stimme zu ungewohnter Zeit vernehmen läßt, deutet es auf besondre Ereignisse, und Benedikta, die eine Ahnung des Kommenden haben mochte, griff für alle Fälle gleich nach dem Franzbranntwein, da sie das Wiederauftreten von Schmerzen in der linken Schulter ihrer Herrin vermutete, bei welchem sofortiges kräftiges Reiben vonnöten war.

Einstweilen hatte die gute Milchfrau ihre Kanne geleert, alle unsre Töpfe waren gefüllt und sie schickte sich zum Abmarsch an.

»Haben Sie denn zu viel mitgenommen?« fragte ich, als ich in dem Tragkorbe, den das Eselein zu befördern hat, eine zweite, noch volle Kanne bemerkte.

»Entschuldigen, Fräulein Colette, nur so viel als bestellt ist.«

»Für uns.«

»Nein, nicht für hier; bei andern Leuten geben die Kühe auch keine Milch mehr.«

»Was, Sie müssen noch höher hinaus?«

»Will es meinen, Fräulein, bis zum Nid du Fol.«

Damit zog sie die plumpen Holzschuhe wieder an, schüttelte sich ein wenig bei dem Gedanken, von neuem in die Kälte hinaus zu müssen, nahm ihr Maß zur Hand und war schon beinahe aus der Thür, als mich urplötzlich und mit ganz unwiderstehlichem Reiz die Idee ergriff, mich statt ihrer aus das Grautier zu setzen, statt ihrer die Milch abzuliefern und auf diese Art einen köstlichen Ritt mitten durch die großen Flocken, die auch heute wieder sachte, sachte herabrieselten, zu unternehmen. Beim bloßen Gedanken zitterte ich ordentlich vor Lust und Vergnügen; all die Ungeduld, die ich in der langen Gefangenschaft hatte bezwingen müssen, kochte in mir und schon sah ich mich auf dem Esel durch den weichen Schnee traben, fühlte, wie der Wind mir in das Gesicht peitschte, und malte mir das Erstaunen der guten Leute auf dem Berge aus, wenn ein fremdes Gesicht erschiene.

Wie die wackere Frau, der ich meinen Plan mit ein paar Worten auseinandersetzte, auch sich dagegen auflehnen, jammern, schelten, Benedikta rufen und Zeter schreien mochte, es war mir ganz einerlei, ich kümmerte mich einfach nicht darum und machte mich reisefertig. Daß das Geschrei der Milchfrau nicht viel auf sich hatte, wußte ich, unsre Mauern verstehen es, einen Ton abzuhalten, und wenn Benedikta auch herbeigekommen wäre, so weiß ich zu gut, daß sie mir zuliebe zu Dingen ja sagt, die nun und nimmermehr geschehen zu lassen, sie heilig und teuer geschworen hat.

Zugleich führte ich die Bauersfrau in große Versuchung, indem ich sie an den Herd sitzen hieß, ihr einredete, daß sie eine rote Nase, blaue Lippen und ganz steife Hände habe und daß ein Stündchen Ruhe am warmen Feuer ihr trefflich zu statten kommen werde. Dabei versicherte ich sie, daß ich bestens auf ihre Kanne und ihren Grauen achten werde, daß ich den Weg und das Haus ihrer Kunden ganz genau kenne, und ehe sie Zeit zu erneuter Widerrede finden konnte, hatte ich ihren großen Mantel um die Schultern, die Kapuze überm Kopf und ihre höchst ursprüngliche Reitpeitsche, mit der ich vortrefflich umzugehen wußte, in der Hand.

Die erste Viertelstunde ging alles herrlich: der Esel trottete behaglich in dem weichen Schnee, die Flocken huschten mir leicht und weich wie Flaum um die Nase, und ich sang mit heller Stimme, wie sich's für einen richtigen Eseltreiber geziemt. Nach und nach aber wurde der Pfad steiler, die unterm Schnee versteckten Steine konnten wir zwar nicht sehen, aber um so besser darüber stolpern, und bei einer Biegung des Weges kam uns der Wind entgegen, riß mir mit einem Stoße Mantel und Kapuze vom Leibe, so daß ich abspringen und mich am Boden so gut als möglich wieder einhüllen und zurecht machen mußte. Dafür hatte nun leider der Esel gar kein Verständnis, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort, trotzdem ich mich heiser schrie und ihm in kunstvoller Nachahmung der Treiberrufe ein: »Oh! … Oh ha! … Ooooooh da! Haaalt!« ums andre nachsandte.

Als ich seiner endlich wieder habhaft geworden, war das Hinaufkommen nicht so leicht: der Tragkorb dreht sich und wird locker, nirgends finde ich einen festen Stützpunkt, auf zehn kleine Hügelchen setze ich den Fuß, bis ich endlich einen entdecke, der nicht ganz Schnee ist und in dem ich nicht bis ans Knie versinke, und als ich nun endlich mit einem Triumphschrei meinen wankenden Thron wieder in Besitz nehme, ist der Esel weit weniger befriedigt, als ich, und ganz entgegengesetzter Ansicht. Seine vier Beine sind am Boden festgewachsen, Zuruf, Gertenhiebe, Rippenstöße mit meinem Absatz, alles vergebens, er steht da wie ein Stück Holz, unterscheidet sich aber von einem solchen höchst unvorteilhaft dadurch, daß er, ohne von der Stelle zu gehen, Bocksprünge macht, bei welchen die Milch in weitem Bogen hinausspritzt und Schnee und Erdbröckel mir um die Ohren sausen. Ein wahrer Rosenkranz von Verwünschungen wird vom Stapel gelassen.

»Vorwärts! Hopp, hopp! hü, hü du! Prrr!« so geht's fort, bis endlich eine Uebereinstimmung zwischen uns hergestellt ist und er sich mit einer gewissen Plötzlichkeit in Bewegung setzt.

Im Nid du Fol droben fällt der Schnee lawinenartig und der Wind wird zum Orkan. Ehe ich noch an den ersten Häusern bin, sind Nase, Lippen und Hände genau wie die der Bäuerin.

Man stößt natürlich Schreie der Verwunderung aus, warnt mich, und da man mir sagt, daß die Luft frischer sei und in kurzem ein richtiger Schneesturm – den Wind nannten sie also nicht so! – ausbrechen werde, so mache ich mich so bald als möglich auf den Heimweg. Diesmal haben wir den Wind im Gesicht, was weder mir noch dem Esel sehr sympathisch ist. Der Abhang ist sehr steil, der Schnee friert und wird immer schlüpfriger, mit Fallen und Aufstehen und Gleiten und Rutschen gelangen wir halbwegs hinunter, wo dann die große Katastrophe eintritt.

Zeichnung: E. Bayard

Die Schwierigkeiten nehmen immer mehr überhand, und mit einem Scharfblick ohnegleichen erkennt mein Reittier, daß nur für eins von uns beiden Rettung möglich ist, und beschließt zugleich, selbst dieser glückliche Teil zu sein. Er rutscht mit allen vier Beinen zugleich aus, wälzt sich am Boden und setzt mich in einem tiefen Loche ab, wo mich der angehäufte Schnee liebevoll umfängt und wo ich mich tiefer verstricke als in einem Federbett, indes er mit dröhnendem Hufschlag im Galopp auf und davon geht.

Zeichnung: E. Bayard

Das war entschieden possierlich, und im ersten Augenblick fand ich die Geschichte äußerst erheiternd, um so mehr, als ich mir einbildete, daß es nur von mir abhinge, ob und wann ich mich wieder auf die Füße stellen wolle. Allein der Sturz mußte mich betäubt haben, denn trotz all meiner Anstrengungen fand ich es ganz unmöglich, mich aufzurichten, und ich kam mir mit meinem Zappeln und Strampeln so ungeschickt vor, daß ich mich mit einem auf den Rücken gefallenen Maikäfer verglich, der mit den Beinen hilfesuchend in der Luft umhergreift.

Ich fühlte mit einem Schlage meine Glieder ganz und gar kraftlos werden, und dann war mir's, als ob ganz allmählich mein Herz zu Wasser würde, wie der Schnee, den ich in Händen hielt, und als ob man mir sachte, sachte, Stück um Stück die Dinge, die ich sonst in meinem Kopfe spürte, herausnehme, so daß er am Ende ganz leer wurde.

Uebrigens war mein Zustand eigentlich nicht unangenehm; das Loch war so tief, daß ich vor dem Winde ganz geschützt war, und mein Lager wohl kalt, aber weich, so weich sogar, daß ich immer tiefer darin versank, während von oben neue und immer neue Flocken herabsanken und mich zudeckten wie eine Tote, die man weich in die Erde bettet.

Je mehr die Zeit verstrich, desto weniger empfand ich die Kälte; eine wohlthuende Müdigkeit ergriff mich, und wenn mir auch die Ueberzeugung, daß keine Macht der Erde mir von hier forthelfen könne, in ganzer Klarheit blieb, so hatte dieser Gedanke doch nicht den geringsten Schrecken oder Schauder für mich, ja ich weiß, daß ich den Versuch machte, zu lächeln, welchen Dienst aber meine Lippen verweigerten, und ich weiß seither, wie einer Statue zu Mute sein müßte, wenn Statuen nämlich denken könnten. Der Drang, einen Arm zu bewegen, der aber von Marmor ist und sich nicht bewegen läßt, Worte aussprechen mit einer Kehle, die man zu gebrauchen verlernt, Gedanken entstehen fühlen in einem Kopfe von Stein, in dem sie sich nicht entwickeln können, das alles müßte eine Marmorgöttin fühlen. Dann aber empfand ich nach und nach gar nichts mehr und es schien mir, als ob mein Körper sich aus Fleisch und Blut langsam in Blei verwandelte.

Wie lange diese Unterbrechung meiner Lebensthätigkeit gewährt hat, kann ich nicht angeben. Ob einen Tag oder eine Stunde, weiß ich nicht, und ich glaube auch nicht, daß eine längere Dauer des Zustandes mir denselben peinlicher gemacht hätte; wenigstens war ich beim Erwachen fast ärgerlich, daß man mich aus dieser wohligen Ruhe aufgestöbert hatte.

Auf der einen Seite meines Bettes wurde gejammert und geweint: da war meine arme Benedikta, auf der andern Seite schob sich eine feuchte Schnauze zwischen die Betttücher, und so befand ich mich bei meiner Wiederkehr ins Leben zwischen den beiden Wesen, die mir die liebsten sind. Auf einem meiner Sofas schluchzte ohne alle Rücksicht auf die Vornehmheit der gestickten Ritter und Edeldamen die Milchfrau, und das erste, was mir bei wiederkehrendem Bewußtsein auffiel, war, daß ihre Hände noch ebenso rot waren. Ob sie es denn nicht fertig gekriegt hatte, sie zu wärmen?

Dabei bin ich noch immer etwas im unklaren, ob mein Betttuch von Schnee oder Leinwand ist. Als ich jedoch die Hände tastend darüber hingleiten lasse, stoße ich zur Rechten und zur Linken auf heiße Wärmflaschen, die in langer Reihe bis an meine Fußspitzen hinab aufgestellt zu sein scheinen. Offenbar eine Leichenverbrennung! … So viel man aber auch von der nach großem Frost eintretenden Reaktion reden mag, so hätte ich doch schwerlich Wärmflaschen in meinem Graben vorgefunden, und ich entschließe mich also zu der Annahme, daß ich zu Hause sei.

Zeichnung: E. Bayard

Ueberdies tritt nun auch das einzige bis jetzt in dem Familienbilde fehlende Gesicht aus dem Schatten hervor und ich vernehme die Stimme der Tante.

»Das Mädchen ist verrückt, rein verrückt; ich wiederhole Ihnen, daß ich nichts für sie thun kann. Sie hätte wahrhaftig daran denken können, daß wir nicht drauf eingerichtet sind, Erfrorene im Hause zu haben.«

So, ich bin also erfroren. Das macht mir entschieden Eindruck, und während die von wohlbekannter, sanfter Hand zugeworfene Thür dröhnend ins Schloß fällt, kommen mir alle Geschichten von Erfrorenen in den Sinn, die ich je gehört habe, und die Vorstellung von Zehen, die im Stiefel stecken bleiben, und Händen, die mit dem Handschuh vom Leibe fallen, machen mich schaudern. Wo mögen die meinigen sein, du großer Gott? Ich komme mir plötzlich vor, wie wenn ich von gesponnenem Glase wäre, und in lauter Angst wegen meiner großen Zerbrechlichkeit wage ich mich nicht mehr zu rühren, bis mich ein Freudenschrei meiner treuen alten Dienerin, die mich atmen hört, lachen macht.

Meine Lippen haben sich wacker gehalten, ich wage es, meine Arme zu bewegen, um sie nach ihr auszustrecken, und entdecke mit Freuden, daß jeder Finger noch an Ort und Stelle ist – das war ein glücklicher Moment.

Dann erfahre ich meine Geschichte, eine grauenvolle, richtige Lebensrettungsgeschichte wie die vom Hospiz auf dem St. Bernhard, in der »Einer« die Rolle des unvermeidlichen Bernhardiners spielt, und aus der ich nach und nach ersehe, daß ich mein Leben nächst meinem braven Hunde dem festen Tritte des Esels danke.

Eine etwas unsicherere Gangart, ein etwas weicherer Huf, und die Fußtritte, die schon zu drei Vierteilen mit Schnee ausgefüllt waren, als man der Spur nachging, wären vollständig zugedeckt gewesen, und ich hätte da oben liegen können, bis der Schnee schmolz.

Nach den Thränen, dem Mitleid und der Freude blieb dann auch die Schelte nicht aus, und Benedikta schwört hoch und teuer, daß sie mir das nie verzeihen werde, und zwar sagt sie es dieses Mal in einem so ernsten Ton, daß ich wirklich fürchte, vor dem Gutenachtkuß nicht zu Gnaden angenommen zu werden.

Indessen überschwemmt sie mich mit kochend heißen Getränken, die sie mir bringt, ohne mich anzusehen, und die sie mir mit abgewandtem Gesicht hinreicht, und in der Zwischenzeit bedient mich »Einer« ganz vortrefflich. Er hat mir mein Heft, meine Feder und sogar meine Tintenflasche gebracht, die letztere, ohne sich die Zähne schwarz zu machen, und ich habe das ganze Erlebnis zur Hälfte ihm, zur Hälfte meinem geduldigen stummen Freund erzählt.


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