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Zweites Kapitel.

Die Küsterin, eine verhärmte mißmutige Person, empfing ihn. Ihr Mann war noch draußen beim Läuten. Bauer Arend hatte sich ans Torffeuer gesetzt, dessen Rauch, zusammen mit dem Schwaden des Suppenkessels, sich unter der getünchten Balkendecke und über die Viehstände hinwälzte, die leer waren bis auf einen, in dem eine bunte Kuh langsam wiederkäute. Der Bauer zog Grobbrot und Klappmesser aus der Hosentasche, schöpfte sich mit dem Tassenkopfe Wasser aus dem Eimer, und begann zu frühstücken, unbekümmert um die Hausfrau, die ihm unwirsch ein Scheibchen Speck hinschob – sehr dünn, sehr mager war's. Dann führte sie den neuen Domine hinauf in den Giebel und wies ihm seine Stube an. Sie war spärlich ausgestattet und erwärmt, aber die Landschaft unter den blankgeputzten Fenstern dehnte sich so weit, so frei und sonnig, daß der Eingetretene gar keinen Mangel empfand.

Die dampfende Erquickung, mit der ihm seine Wirtin nach einem Weilchen aufwartete, wies er, ganz in Gedanken versunken, zurück. Hin und wieder schreitend und doch nicht imstande, seinem erwählten Texte völlig gerecht zu werden, verbrachte er die Stunde bis zum zweiten Glockenläuten. Weltliche und kriegerische Bilder verdrängten die biblischen und ergebenen; der mühsam errungene Seelenfriede war abermals vernichtet. Nichts blieb ihm, als Gott um eine Erleuchtung im Gotteshause zu bitten. Erst als er seinen Talar aus dem Reisesacke nahm und dann mit Bäffchen und Barett vor den bescheidenen Spiegelscherben zwischen seinen Fenstern trat, gewahrte er draußen auf der glitzernden Wasserfläche die lange Kette segeltragender Schiffe und gestakter Kähne, die von nah und fern dunkelgekleidete Kirchgänger zur Insel brachten. Männer mit schweren Zügen und breiten Schultern, welke Greise und verkrümmte Mütterchen, daneben magere, arbeitsmüde Weiber, blühende Mädchen, blonde Kinder, deren Bäckchen wie rote Äpfel strahlten.

In all den Gesichtern der Erwachsenen ein wortkarges Phlegma oder jene zähe Hartnäckigkeit, die einen langen und bedächtigen Anlauf nimmt und so gegen Stein und Mauer stößt mit eiserner Stirn: »Kann ich dich nicht einrennen, so mach' ich dich doch wanken!«

Die Glocke rief alsbald, und Leberecht Claudius nahm seine Bücher vom Tisch, schritt, gesenkten Hauptes, an eilenden Nachzüglern und gaffenden Kindern vorbei über den Friedhof und trat in die Kirche. Die Gemeinde schloß eben den ersten Vers des Eingangsliedes.

Als sei eine halbverschollene Sagenzeit wieder zum Leben erwacht, so berührte es Leberecht, da er, unter dem Schallhute der tonnenförmigen Kanzel stehend, sein Gebet vor der Liturgie sprach und dann diese begann. Das alte Ammenmärchen von der versunkenen Kirche zu Rungholt und ihre Gespenstergemeinde flog an seinem Geiste vorüber, und kalt wehte es ihn an. Schwer und finster bedrückte das Chorgewölbe den schmucklosen Raum; an den Chor schlossen sich die verwitterten Pfeiler zweier höherer Bogengänge, begrenzt von Lettnern, die ganz und gar an die Ambonen einer frühchristlichen Basilika gemahnten. Im Hintergrunde der kleinen Apsis ein bauschiges Barockfigürchen aus mattem Alabaster: Sankt Georg mit dem züngelnden Lindwurm. Der Altar von asketischer Einfachheit: zwei rötlich schwalchende Talgkerzen in Blechleuchtern auf kahlem Tische zu beiden Seiten des zinnernen Abendmahlsgerätes. In grellen Streifen brach das Sonnenlicht durch die schmalen, tiefgenischten Fenster herein, und die ganze Kirche war vom strengen Dufte der Krausemünze und des Nardenkrautes erfüllt und vom krankhaft-süßlichen der Melisse. Denn einen steifen Strauß davon hielt jedes der Bauernweiber zwischen den gefalteten Händen, zugleich mit dem baumwollenen Schnupftuche.

Leberecht meinte, die Augen müsse er sich reiben, um besser zu erwachen. Er hatte noch niemals auf dem Lande gepredigt, und wie eine Versammlung fühlloser Holzpuppen mutete ihn dies gelassene Bauernvolk an, ihn, der die beweglichen Mienen intelligenter Städter, das scharfe Aufmerken offener und heimlicher Vaterlandsfeinde drei Jahre lang gewohnt gewesen war. Hier fand er nirgends einen verdächtigen Zug in all den steifnackigen Köpfen. Die Männer saßen vornübergebeugt, Hände und Kinn auf ihre Stockkrücken gestützt, stierten gleichgültig zu Boden, oder bereiteten sich zum Schlafen. Helle Frauenaugen richteten sich, unter den tief ins Gesicht fallenden schwarzen Spitzenstrichen der Bandhauben hervor, unbeweglich auf den jungen Domine. Kaum, daß hie und da einmal ein unterdrücktes Husten oder Seufzen durch die Schar ging.

Gedämpft klangen von draußen die Stimmen der mitgebrachten Kinder herein. Altem Herkommen gemäß wurden sie in der Küsterei mit Buttermilchs-Warmbier gelabt und durften dann bis zum Schlußläuten auf dem Kirchhofe ihr Wesen treiben. Da gingen sie Hand in Hand spazieren, sittig und altklug, oder sie sprangen lustig von Grab zu Grab und betrachteten die Sonnen und flammenden Herzen und Hoffnungsanker auf den eingesunkenen Tafeln und Steinen. Das Mariengarn kam geflogen und legte sich in die Flachshaare und an die roten, runden Wangen der Kleinen. Sie haschten die weißen Fäden und tirelierten den Spielreim:

»Sidewitt, Sidewitt!
Nimm mi mit, nimm mi mit!«

Die Sperlinge zwitscherten dazu, und die Wandervögel segelten mit durchdringendem Schrei hoch oben am blauen Himmel vorüber. So waren die Unschuldigen glücklich und friedlich zwischen denen, die unter dem Rasen schliefen und, gleich ihnen, nichts wußten von der Zeit der Not und der Not der Zeit.


»Schicket euch in die Zeit!« Leberecht hätte seine Ohren verschließen mögen, als nach der Textverlesung die unsicheren und verdrossenen Bauernstimmen plärrten:

»Gott gedenket der Barmherzigkeit, Halleluja!
Und hilft seinem Diener Israel auf, Halleluja!«

Wie schmerzlich vermißte er seinen städtischen Knabenchor, der die Responsorien so glockenhell einsetzte und so entzückend verhauchen ließ. Hier, über dem irdischen Geplärr, schwebte nur eine einzige Engelsstimme, ein voller, jugendlich weicher Alt. Leberecht fühlte genau, daß diese Engelsstimme hoch oben von der Orgel herabklang, die seine Augen erst überblicken konnten, nachdem er die Kanzel bestiegen hatte.

»Schicket euch in die Zeit, Brüder und Schwestern in Christo Jesu.«

Seine Predigt, weder niedergeschrieben noch einstudiert, glich einer Inspiration. Gerade deshalb vielleicht rüttelte ihre unmittelbare und frische Kraft auferweckend an den verschlafenen Bauernseelen. Starr hingen aller Blicke an dem lebensvollen Apostelkopfe auf der Kanzel. Schmale Lippen öffneten sich unbewußt, als müßten sie ihr Wort einwerfen, Hände falteten sich fester um Tuch und Strauß; vereinzelte und verstohlene Tränen tropften auf die Blätter des Gesangbuches nieder. Der eigensinnig-kritische Zug in den meisten Männergesichtern wich dem der erstaunten Spannung.

Das war ein ganzer Kerl, der neue Domine, der wußte wohl besser, wie es in der Welt zuging, als der alte, der sich in jenen Tagen bebender Menschenfurcht einer so kühnen Auslegung des Schriftwortes stets weise enthalten hatte.

»›Schicket euch in die Zeit!‹ spricht Paulus der Bekenner. Was heißt das, liebe Brüder? Nicht, daß ihr träge vor der Hütte liegen und euren kargen Knochen benagen sollt, wie der Hund an der Kette; nicht, daß ihr euch müßig vor den mageren Garben auf der ungefegten Tenne hinstrecken sollt, faulenzen und sprechen: ›was schiert mich das Korn? wozu soll ich ausdreschen, was doch nicht mehr mein gehört, wie einst?‹ Nein, liebe Brüder, schicket euch besser! Übet eure Kräfte, wie das Roß auf der umzäunten Koppel sie übt, auf daß ihr behend und gewaltig bleibt; auf daß euer Mut und euer Lauf tüchtig seien, am Tage, da des Herrn Sturmwind herabfahren wird, die Umzäunung eurer Koppel niederzureißen und euch das freie Land wiederzugeben für euch und eure Kinder und Kindeskinder. Horcht auf! Merket ihr, wie es in den Lüften saust, vom Norden her über die Steppen? Des Herrn Sturmwind verzieht nicht! Schicket euch; dreschet eure Garben, dreschet immerhin, für wen es auch sei. Laßt eures Armes Muskeln nicht schlaff und lahm werden. Schwinget den Flegel und schüttelt das Sieb: heute vielleicht für den strengen Gebieter mit Zittern, morgen vielleicht mit Jauchzen für den, der jetzt noch des strengen Gebieters Knecht heißt, und für euch selber. Schicket euch in die Zeit! und ein jeglicher unter euch singe dem Allmächtigen, der Weg und Waffen, Fall und Sieg nach seiner dunklen und unbegreiflichen Weisheit lenkt, heute und immerdar in Demut, Bitte und Hoffnung:

Herr Gott, dich loben wir!
Herr Gott, dir danken wir! – –«


Mit der ganzen Machtfülle seines gewaltigen Organs redete er. Er reckte die Hand, schwang sie hoch über seinem Haupte, so daß sie den niederen Schalldeckel berührte und ließ sie hart auf den Kanzelrand fallen, als sei sie der Dreschflegel, den er auf die Tenne voll Spreu und Staub zur Reinigung niederschmetterte. Seine Augen blitzten; Feuergarben sah er vor ihnen sprühen – den moskowitischen Brand. Ohne Scheu, ohne Damm ließ er seinem übervollen Herzen entströmen, was unaufhaltsam ans Licht drängte.

»Mein Haupt auf den Block für die Wahrheit!« schrie es in seiner Seele.

Das Amen war gesprochen, und nun brauste der ambrosianische Lobgesang durch die Kirche in ernsten, erhabenen Tönen. Leberecht blickte aufwärts zu der Orgelspielerin, die, abgeschieden von der Gemeinde, ihren Gott lobte. Stillen Schmerz, kindliche Reinheit, gläubige Inbrunst, alles das las er in den jungen Zügen. Ihre Augen waren emporgeschlagen wie zum Gebet; der schmale Streifen des Sonnenscheins wandelte ihr braunes Haar in rotes Gold, verlieh den weißen Armen, dem schneeigen Nacken Leuchtkraft. Licht ging auch von ihrem Kleide aus, – strahlendblau glich es den Gewändern der Heiligen Dürers und Lukas Cranachs.

Auf Leberecht übte diese schöne Erscheinung dort droben die Wirkung einer himmlischen Vision. Er erblickte der Engel einen, die sich um den Thron des Lammes scharen. Er vermochte nicht, mit der Gemeinde zu singen; die Brust war ihm zusammengeschnürt. Nach dem Tedeum faßte er sich im Vaterunser und stand ruhig mit ineinander gelegten Händen während des Schlußliedes. Um ihn her erloschen die Flammen des moskowitischen Brandes; er war wieder in der alten Inselkirche, durchsonnt und durchströmt vom herben Dufte der Würzkräuter, und ließ seine dunklen Augen über die andächtige Versammlung im Gestühl hinschweifen.

Zwei Gestalten hatten sich ihm, schon vor dem Tedeum, von den übrigen ausgesondert. Zuerst die einer unruhigen, älteren Frau in städtischer Kleidung, die bereits in der Liturgie mehrmals ihre große Taschenuhr am Gürtel befragt hatte und sich nun, noch vor dem Segen, eilfertig trippelnd aus der Kirche hinwegstahl. Dann Bauer Arends Gestalt. Zu Anfang der Predigt war der Mensch von seiner Bank aufgestanden, und so stand er noch, lang und kantig, mit krummem Rücken und dem schmalen scharfen Gesichte der niedersächsischen Art, dessen wache Blicke den Sinn der Predigt zu erforschen schienen. Als Leberecht, die Hand emporreckend, gerufen hatte: »Dreschet eure Garben, – dreschet immerhin!« da war ein roher Zorn über das hagere Bauernantlitz hingeschossen, und dann hatte es, die struppigen Brauen zusammengeschoben, zuckenden Mundes den Redenden fort und fort angestarrt. Dessen Gedanken rätselten an dem Manne herum: »Bist du ein heimlicher Scherge oder ein Werkzeug für deutsche Hände? Dich darf ich nicht außer acht lassen.«

Der Gottesdienst schloß. Die Leute drängten zur Tür hinaus und vereinigten sich auf dem Kirchhofe mit der Kinderschar. Dieser und jener schöpfte sich einen Krug voll aus dem tiefen Ziehbrunnen der Insel, dessen Wasser, seines Wohlgeschmackes und seiner eisigen Kälte willen, weit und breit unter den Moorbauern berühmt war und, bei Gelegenheit der Kirchfahrt, gern von ihnen mit heimgenommen wurde. Einzeln und in Gruppen beisammen stehend, blickten die Gemeindeglieder dem jungen Domine nach, der in Talar und Barett, blaß und ernst, durch das Seitenpförtchen ins Freie trat und, rechts und links grüßend, zur Küsterei hinüberschritt.

»Dat 's 'n Iwerigen! Leiwer Gott, dat helpt man nicks, dat Iwern!« sagte ein alter Mann, als er vorüber war, und schüttelte in stumpfer Ergebung den zittrigen Graukopf.

Die Kinder sprangen dem Geistlichen in den Weg, machten ihm drollige, ungehobelte Reverenzen, oder standen verschüchtert beiseite, mit den Fingerchen am Munde spielend. Er hob da und dort eins der frischen, kleinen Gesichter am Kinn empor und sah ihnen in die treuherzigen Augen; den Knaben bog er die Schultern zurück und ermahnte sie, immer die Wahrheit zu sprechen, die Mädchen fragte er, ob sie der Mutter recht hilfreich seien und geduldig gegen die jüngeren Geschwister. Es waren nur Kleinigkeiten, aber manchem und mancher prägten sie sich ein zum Nievergessen. Als ein paar schmächtige, halbwüchsige Dirnen ihm verliebte Augen machten, sah er sie zürnend an. Er erkannte sie; es waren die Töchter eines Greffiers von der städtischen Mairie und zum Besuch bei Bauer Ahlers in Wührden, wie Arend unterwegs schon seinem Fahrgaste erzählt hatte. Der Greffier war ein deutscher Franzose, und seine Töchter hatten leichte Sitten angenommen. »Wann kehrt ihr heim?« fragte Leberecht, und es war ihm lieb, daß die Antwort der Mädchen: »morgen« lautete.

In der Diele des Küsterhauses, die augenblicklich leer stand, hielt Arend ihn an.

»Woarraftigen Gott! Er riskiert sein Leben, Domine!« sagte er und fügte halblaut hinzu: »Meint Er denn, daß wir so bald von dem franschen Menschenschinder loskommen? Oder wegen was hat Er uns das so hitzig rekumm'diert mit den Dreschflegels, Domine?«

»Weil ihr nicht einschlafen und verdummen sollt beim Maulaffen-Feilhalten und unfruchtbaren Jammern über die schlimme Zeit,« entgegnete Leberecht.

»Hä, was! Jammern!« Der Torfbauer biß abermals wütend auf das Mundstück seiner Stummelpfeife, daß es knirschte. »Nicks von Jammern! Wir simeleeren bloß darüber, daß wir nich Manns genug sind, gegen die verfluchten Rövers!«

Er schüttelte die Faust und lachte ergrimmt. Plötzlich packte er Leberechts muskulösen Arm im Talar mit derbem Griff und blickte sich nach allen Seiten um, ehe er sprach.

»Domine, Domine!« flüsterte er heiser, »Er hat das fransche Lumpenpack auch satt, das seh' ich Ihm an. Dresch' Er vor, Domine – denn woll'n wir hinter Ihm her dreschen. Die Forße hat Er ja in den Knochen sitzen! Was schert Ihn Sein Priesterrock?«

Einen Moment stand Leberecht wie versteinert und bohrte seinen erschrockenen Blick in den fanatischen des Bauern. Dann machte er sich los von seinem Versucher und ging treppauf.

Nochmals kam ihm Arend nach, drängte ihn in gewalttätiger Hast gegen das schadhafte Treppengeländer und packte von neuem und noch fester seinen widerstrebenden Arm.

»Domine! – Er soll uns nich ausritschen wie der Marder aus 'n Hühnerwiem'! Warum hat Er uns das von den Dreschflegels so hitzig rekumm'diert? Nu muß Er das auch beweisen, hört Er? Wir wollen ja, wenn Er mit will. Jan Rickwegs in Land Wursten – will Er sich mit dem besprechen, Domine? – Hä, Domine?«

Leberecht befreite seinen Arm aus der rauhen Hand des Fordernden. »Mann! Heute ist nicht morgen. Was können wir heute mit dem blechernen Blasrohr gegen die eisernen Kanonen ausrichten? So bitter das ist, wir müssen warten, bis das ›Morgen‹ tagt. Das wollen wir nicht verpassen, sondern wach und besonnen bleiben. Unsre Zeit kommt auch, und dann: alle für einen, und einer für alle. Dann fehl' ich euch nicht, so wahr Gott lebt!«

»Hä, was! Warten! – Was ich gleich tu', das is getan!«

Der Bauer schwieg und lehnte sich wuchtig auf das Treppengeländer. – Dann öffnete und schloß er mehrmals langsam die Faust und sah, von Leberecht abgekehrt, mit schwer zu enträtselndem Ausdrucke in die rauchige Diele hinunter. »Ji Rövers!« murmelte er zwischen den Zähnen, wendete sich danach wieder scharf zu Leberecht um und sagte, den Geistlichen an der Brust festhaltend, finster:

»Drei Kühe haben wir gehabt, zwei haben sie uns weggeholt, un' die letzte steht trocken. Bei vier Kindern, Domine, un' die Frau soll wieder in Wochen. Un' den Kumskohl weg un' die Kartoffeln für ihren Herrenfraß – knapp 'n Viertel Kartoffeln haben sie uns für den ganzen Winter gelassen. Mein Reemt muß Soldat werden zu Neujahr un' nach Rußland. – Ich wollte, der Deiker holte die Karnalljen!«

»Wir seufzen und dulden alle, Arend, der eine so und der andre so,« entgegnete Leberecht und drückte die schwielige Hand des Bauern. Der sah ihn voll düsterer Hoffnungslosigkeit an und nickte.

»Sie sollen sich nur wahren, die vermaledeite Packasche! Wir haben noch mehr zum Hauen und Stechen, als Forken un' Flegel un' Riemen! Hat Er denn schon Wasser getrunken hier aus dem Brunnen, Domine? Pröv' Er mal, ob das nich nach Eisen schmeckt? Da liegen Spieße und Säbel genug zu unterst im Brunnen, die brauchen wir uns bloß hoch zu winden, wenn es losgeht. Na, adjüs, Domine!«

Er stolperte treppab und gesellte sich draußen zu seinen Leuten. Schiff um Schiff stieß von Sankt Jürgen ab, und über das silberne Wasser hin eilten die Kirchgänger ihren verstreuten Heimstätten wieder zu.

Inmitten seiner Giebelstube stehend schaute Leberecht minutenlang wie gebannt in den Spiegel zwischen seinen Fenstern. Er fuhr sich mit dem Tuche über die Stirn; sie war glühend rot, und an den Schläfen hin liefen knotige Adern – so starke Wellen schlug das rasche Blut. Halb unbewußt streckte er den linken Arm straff von sich und ließ die Finger der rechten Hand über die gespannten, steinharten Muskelbündel hingleiten. Sah er aus wie ein Geweihter des Herrn? Hatte er sich eben als ein solcher gebärdet, und tat er's jetzt in seiner verschwiegenen Einsamkeit?

Ihm graute vor sich selber und vor der Stärke seiner Versuchung. Er riß die Bäffchen ab und warf sie samt Barett und Talar auf einen der Strohschemel längs der gekalkten Wand. Dann vergrub er sein Gesicht in die gerungenen Hände und stöhnte vor sich hin: »Ja – Waffen! Herr und Gott, gib uns gerechte Waffen!«

Der heftige Aufruhr seines Innern und die Übermüdung nach der langen Fahrt machten ihre Rechte geltend, und zudem hatte er seit dem vergangenen Mittag gefastet. Er taumelte, und das Stübchen drehte sich vor seinen Augen im Kreise. Angekleidet streckte er sich aufs Bett und schlief so, schwer atmend, bis die Küsterin ihn zu wecken kam: es sei zwölf Uhr durch, und Domine habe die Magd herüber geschickt – das Essen stehe auf dem Tische.

Der Ermattete schrak aus seinen verworrenen Träumen in die Höhe und stellte sich rasch auf die Füße. Ohne Gedanken blickte er um sich her und konnte sich nicht zurechtfinden in seiner Umgebung. Willenlos litt er's, daß die Küsterin ihm den Rock glättete und bürstete und seinen Talar in den morschen Bretterverschlag hängte, der die Stelle eines Kleiderschrankes vertrat. Um sich vollends aus der Lethargie zu ermuntern, trank er ein paar hastige Züge des eisigen Brunnenwassers in seinem irdenen Kruge auf dem Fenstersimse. Mitten im Trinken hielt er inne, weil ihm Arends geheimnisvolle Andeutungen über die Waffen wieder einfielen, die jenes Inselbrunnens tiefster Grund verbergen sollte. Allein das Eisen vermochten seine durstigen Lippen in dieser kristallklaren Labe nicht zu entdecken. Er setzte den Krug ab und verließ eilends das Küsterhaus. Rasch, ohne umzuschauen, durchschritt er den Garten der Pastorei. Die herbstliche Sonne badete die bunten Blätter und die letzten prangenden Blumen des Jahres in ihrem warmen Glanze, aber der, welcher, zwischen den Rabatten hin, der grünen Haustür entgegenschritt, sah nichts von der Schönheit dieses Oktobersonntags. Seine Seele war voll Traurigkeit und lag in ihm, schwer und kalt wie ein Mühlstein.


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