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Neuntes Kapitel.

Noch am nämlichen Abend fügte Domine Torbeeken die Hände der beiden zum Verlöbnis zusammen.

Es ereignete sich alles anders, wie sie es sich ausgemalt hatten. Richtiger gesagt, sie hatten sich's überhaupt gar nicht ausgemalt. Ihr Glück war noch viel zu jung, um schon mit weiser Vorsicht über seine Bahn nachdenken zu mögen.

Ganz unvorbereitet traten sie zu den Eltern ins Zimmer, ohne Hand aus Hand zu lösen. Wozu das auch? Gelassen hätten sie ja um keinen Preis der Welt voneinander. Da Christine der überraschten Mutter lachend und weinend um den Hals flog, zog sie den Geliebten einfach nach sich, und dessen Augen gaben der erschrockenen Frage des Vaters eine leuchtende Antwort. Und hätte der alte Herr von seinem Krankenstuhle aus auch hundert Bedenken und Einwände ins Treffen geführt, Leberecht würde sein neu errungenes Glück festgehalten und verteidigt haben wie ein Löwe. Seine Natur war eine jener tiefen und zugleich stürmischen, wie diese schwere Zeit ihrer viele entstehen und reifen ließ. Man hatte es lernen müssen, mit kleinen Faktoren zu addieren, jede noch so geringe Gewinnzahl mit Hingabe zur andern zu fügen, um so allgemach zur ungeheuren Summe der Verluste emporzuklimmen. Die Herzen öffneten sich begierig jedem Lichtstrahl und warmen Hauche, weil die Finsternis so voll Grauen, der Winter so lang und so schwer war; sie haßten heftiger und liebten weicher und brünstiger als unter gewöhnlichen Friedensverhältnissen.

Die Mutter, der es des eben gewonnenen Schwiegersohnes äußere Vorzüge besonders angetan hatten, glänzte vor Stolz. Die einzige Tochter von solch einem stattlichen und klugen Manne begehrt und auserwählt zu wissen, das schmeichelte ihrer mütterlichen Eitelkeit gewaltig. Für diesen Abend entschlug sie sich einmal der sämtlichen Nöte und Sorgen, mit denen sie sich, selbstschöpferisch, tagein tagaus herumzuplacken pflegte. Im Anblicke des Liebespaares verjüngte sie sich. Zum erstenmal seit langen Jahren erinnerten ihre feinen Züge wieder an das entzückende Dosengesichtchen, das es einst dem wohlbestallten Doktor der Gottesgelahrtheit dermaßen angetan hatte, daß er um seinetwillen eine höchst verständige und wohlberechnete Heirat zur elften Stunde im Stich ließ, um an Stelle der ehr- und tugendsamen Jungfer Male die hübsche Demoiselle Malchen zu ehelichen.

Ja, so sehr rührte ihn heute die Erinnerung an »damals« vor dreißig Jahren, daß er seine Frau auf die Armlehne des Krankensessels niederzog und, zum Schaden ihrer Blondenhaube, herzhaft küßte wie in Brautzeitstagen. Leberecht und Christine ließen sich das gute Beispiel nicht ungenützt geben, und so hielt die Freude, als ungewohnter Gast doppelt dankbar begrüßt, ihren Einzug in die Pastorei auf der Moorinsel.

Für jetzt gipfelten die Muttergedanken in einer würdigen Feier des glücklichen Ereignisses.

»Es ist noch eine Flasche von unserm guten spanischen Wein im Keller, Ferdinand,« sagte sie eifrig, »den müssen wir heute endlich aufkorken. Komm mit, mein Herzens-Stinchen, nimm die Laterne und laß uns geschwind nachsehen.«

»Hör', Malchen, das ist Krankenwein,« entgegnete Torbeeken. »Es wäre Sünde, den für unser Vergnügen auszutrinken. Wir können auch ohnedies fröhlich beisammen bleiben.«

»Nun, so doch wenigstens ein Schüsselchen verwendt' Brot und ein Glas Flipp,« bat sie. »Ich muß unsern Kindern notwendig eine kleine Güte antun. Verlobung ohne allen Sang und Klang! Was geht das den Bonaparte an, und uns der Bonaparte dazu? Stehen Sie mir bei, Herr Schwiegersohn, und ihr andern zwei werft mir nicht ein, daß die Eier rar und die Butter unerschwinglich ist. Das weiß die Hausfrau am allerbesten. Komm mit in die Küche, Stinchen. Gleich morgen fang' ich dir ein Kochbuch an.«

Damit nahm sie Tochter und Schlüsselkorb an den Arm, und es ging ohne Verzug zum Herde, diesmal sehr gegen Christinens Verlangen.

Sie blieben geraume Zeit draußen, denn die Mutter mußte vor dem Anrichten noch rasch einen Blick in ihre Leinentruhe werfen und, während sie die eingeweichten Brotschnitten in der Pfanne wendete, mit Christine in Bausch und Bogen berechnen, wieviel etwa noch fehle zum bescheidensten Anfange, und was sie von der eigenen Aussteuer zu diesem Zwecke entbehren könne.

Als sie ins Zimmer zurückkehrten, hatten sich die beiden Männer unterdes in Torbeekens Studierstübchen zurückgezogen. Dort saßen sie einander mit erregten Mienen gegenüber, und der friedliche Tabaksqualm, ohne den sich der Vater nur in den seltensten Fällen unterhalten mochte, fehlte. Das bedeutete nichts Gutes. Der Mutter fiel es ein, daß sie das Würzen des Ingwerbiers Beta nicht allein überlassen dürfe; sie band die Küchenschürze wieder fest und dispensierte Christine von der ferneren Hilfe in Anbetracht ihres Ehrentages. Und es zog die Braut auch zu sehr an die Seite ihres Verlobten.

Die Männer hatten augenscheinlich eine starke Meinungsverschiedenheit ausgefochten. Des Vaters Wangen zeigten verräterische rote Flecken, Leberechts Stirn lag in Falten, und seine rechte Hand umspannte gewaltsam das Gelenk der linken.

»Sie müssen Ihr Tun vor sich selbst und den Gesetzen vertreten,« hörte Christine den Vater sprechen. »Ich kann weder für Sie haften, noch Ihnen meine altmodischen und strengeren Anschauungen aufdrängen. Ich kann nur meinen Rat und meine Überzeugung geben, und das habe ich seit sieben Wochen bei jeder Gelegenheit getan. Damit erlischt meine Verantwortlichkeit als Mitmensch und väterlicher Freund. Stehen oder Fallen – dazu vermag ich nichts.«

Christine trat rasch neben Leberechts Stuhl und nahm seine Hand zärtlich in die ihre. »Wir lassen deshalb doch nicht voneinander,« sagte sie mit der unbewußten Grausamkeit des liebenden Weibes, das Vater und Mutter verläßt, um dem Manne anzuhangen.

Der alte Mann schüttelte den Kopf und seufzte tief. Dennoch legte er seine mageren Hände gefaltet auf die jugendlichen, verschlungenen.

»Das sollt ihr auch nicht,« versetzte er ernst. »Ihr sollt einander stützen und ergänzen, solange es Gottes Wille ist. Ich trage der bösen Zeit und ihren Zwangsausschreitungen Rechnung, aber gutheißen, loben und bestärken kann ich sie nicht mehr. Ich bin alt, ihr seid jung und müßt euch durchs Leben schlagen nach eurer Manier.«

»Zusammen und treu!« beteuerte Christine. Leberecht aber legte seinen Arm um ihre Gestalt.

»Hab' ich ein unverzeihliches Unrecht getan, daß ich dies geliebte Kind nahm, ehe ich Ihnen mitteilte, was mir heute begegnet ist?« fragte er, und wieder schüttelte Torbeeken den Kopf:

»Nein, ein verzeihliches, mein Sohn. Der Gedanke daran darf Ihnen die Gewissenslast nicht schwerer machen. Was sich liebte, hätte sich doch gefunden. Deshalb liegt mir's fern, euch trennen zu wollen. In dieser Welt, in diesen Prüfungstagen geht ja jeder unsrer Schritte ins Ungewisse. Ich zürne Ihnen auch nicht: Petri Eifer ist besser, als des Judas Verrat. Und du, mein Kind, suche mit Milde zu dämpfen, was in ihm allzuhoch lodert.«

» Ich ihn erziehen, liebster Vater? Nein! mir muß er's tun, ich liebe ihn so, wie ich ihn da habe,« erwiderte Christine mit Tränen in den Augen und zog die beiden Hände, die des Vaters und die des Verlobten, an ihre Lippen. »Er soll mein Herr sein – er ist es schon längst!« Sie vergaß, daß ihre allererste Bitte an den Fremden, dem sie sich heute zum Eigentum gegeben hatte, das Wort »Vorsicht!« gewesen war.

Somit schoben sie Zwist und Mißverständnis von sich und taten dem bescheidenen Festmahle der Mutter Ehre an, wenn auch die beiden Männer im Herzen nicht einig und zu Anfang wenig gesprächig waren. Endlich aber ließen sie sich von Christinens strahlender Seligkeit und dem Glücke der ahnungslosen Mutter friedlicher stimmen. Liebe überbrückt noch tiefere Risse als diesen für des Frühlings Dauer mit ihren heiteren Blütenranken. Ja, es ward sogar im hohen Rat der Vier beschlossen, daß die Kinder in kürzester Frist heiraten sollten, da Domine Torbeeken nach Ablauf der bewilligten Urlaubsfrist um seine Emeritierung einzukommen wünschte und Leberecht sich dann für die frei werdende Sankt Jürgener Predigerstelle zu melden gedachte.

»Wozu auch mit der Hochzeit warten?« meinte Leberecht. »Schickt man mich wider mein Hoffen fort von hier, so darf ich meinen liebsten Schatz gleich mitnehmen, und Sie lassen sich von uns in die neue Heimat nachlocken. Läßt man mich hier, so hat das Pastorenhaus für uns alle Raum, und es wird um so wärmer und traulicher unter uns zwei Paaren.«

»Wie herrlich er's getroffen hat!« rief Christine freudig aus. »Und mein Volkmar darf zur Hochzeit mit dabei sein! Das schenken Sie mir zum Christfest, nicht wahr, liebster Vater? Helfen Sie mir betteln, bestes Mütterchen!«

Allein trotz aller Bitten entschied der Vater anders: »Volkmar bleibt ruhig in Dorum. Die Weihnachtsferien sind zu kurz, und jetzt ist das Reisen zu gefährlich und kostspielig für einen Schüler. Im Sommer, wenn das Land aus dem Wasser ist, mag er zu Fuß wandern, und ihr holt ihn euch von Ritterhude mit dem Schiff.«

»Aber wenn wir nun von Sankt Jürgen fortziehen müßten?« sagte Christine kleinlaut.

»Warte ab, wie's kommt. Zuviel Fragen hat noch keinen klug gemacht,« gab der Vater ihr zur Antwort.

Das war der zweite Wermutstropfen in den goldenen Kelch der Liebenden, und es fiel Christine schwer, ihre Betrübnis zu verbergen. Leberecht hatte ihr unlängst einen prächtigen Antwortbrief an Volkmar verfassen helfen, und der Junge brannte darauf, die Schwester zu umarmen und ihrem »Freunde« sein begeistertes Herz noch viel ausgiebiger anzuvertrauen, als es mit Papier und Feder möglich war.

Wie sehnte sich das Mädchen nach einer Minute des Alleinseins mit dem Verlobten, aber der Respekt vermeinte, bot, sich aus der elterlichen Gesellschaft ohne Erlaubnis zurückzuziehen. Endlich fand sie einen Ausweg nach dem Abendessen.

»Dürften wir nicht den Küstersleuten einen Krug Flipp hinüberbringen und uns ihnen feierlich als Brautpaar vorstellen?« fragte sie zuerst leise die Mutter und dann durch deren Vermittelung den Vater. Da dieser nichts einzuwenden hatte, sprang sie in die Küche, machte Betas runde Augen noch runder mit ihrer großen, wundervollen Neuigkeit, schenkte ihr von dem Ingwerbiere in den gehaltvollsten Tassenkopf, den sie fand, und füllte dann eine Deckelkanne bis zum Rande mit dem dampfenden Getränk.

Als wär's die größte Kostbarkeit, so vorsichtig trugen die beiden Glücklichen die würzige Labe durch den Garten und über den unebenen Pfad ins Küsterhaus. Der Mond war längst untergegangen, und die Wolken hingen schwerer als zuvor am Himmel.

Das Ehepaar empfing den Brautbesuch so gut, wie es von sauertöpfischen Menschenkindern irgend zu verlangen war, und die Küsterin bestand sogar darauf, Mamsell Stinchen beim Schimmer des tropfenden Talglichts zu zeigen, wie moje es Domine bei ihr im Giebel habe. Mit schüchternem Lächeln und leisem Tritt durchforschte das Mädchen den ärmlichen Raum und heiligte ihn für seinen Bewohner; ehrerbietig nahm sie die Blätter mit der morgenden Adventspredigt aus seiner Hand und las, von seinem Arme umfangen, die Sätze, die er ihr bezeichnete, weil er meinte, daß sie ganz besonders nach ihrem Herzen sein müßten.

»Meine Blumenstöcke und bunten Zitzvorhänge vor den Fenstern, und nirgends möcht' ich lieber mit dir wohnen, als hier oben unterm Dache,« sagte sie. »Du mußt die schönste Aussicht von der Welt haben!«

Sie zog eins der fadenscheinigen Rouleaux in die Höhe, um sich zu überzeugen, soweit es die Schneehelle da draußen zuließ, und rief plötzlich Leberecht, der an der Tür mit der Küsterin sprach, wieder an ihre Seite:

»Sieh, Liebster! sieh doch: ein Nordlicht!«

Ein paar Sekunden lang stand Leberecht wie angewurzelt neben ihr und starrte auf den nördlichen Horizont, der in roter Glut zuckte und flammte. Draußen warf der Tauwind die ersten, großen Regentropfen gegen die Fensterscheiben.

»Wie sonderbar!« bemerkte Christine.

»Das ist kein Nordlicht, das ist Feuersbrunst; es brennt in Wührden,« sagte Leberecht mit ganz veränderter Stimme. »Ich fahre hinüber. – Wünsche den Eltern gute Nacht, Christine.«

Sie wollte ihn hindern, aber er stürzte an ihr vorbei, treppab. Zehn Minuten später, als sie, mühsam ihr Weinen verbeißend, zwischen Vater und Mutter, vom Fenster der Wohnstube aus, abermals nach dem fernen Feuerschein hinüberblickte, stieß das Norwegerboot des Küsters mit ihm und Leberecht von Sankt Jürgen ab.


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