Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Drüben in Wührden saß Bauer Arend in vielfachen Ängsten. Unter der Bodentreppe im Dielenwinkel lag ein ganzer Sack voll englischer Schmuggelware: Pistolen, Degenklingen, Messer, tief eingewühlt in den stinkenden Haufen faulender Rüben und Tabaksblätter. Jan Rickwegs hatte sie während eines entsetzlichen Wetters glücklich von Helgoland bis Vegesack gebracht, vor neun oder zehn Tagen, und nun sollte Arend das gefährliche Gut zum Unterhändler nach Bremen hinein schaffen – stückweis – oder es seinen Kantonsgenossen zum Lohn anbieten, wenn sie, zusammen mit den Wurstern und Vierländern, aufstehen und als ein Mann gegen die verhaßte Fremdherrschaft sich empören wollten.
Unter den Wurstern, den Kampfmutigen von altersher, fiel schon da und dort der Vorschlag des Aufwieglers Jan auf guten Boden. Arends träge Moorbauern aber wollten auch jetzt nichts von Insurrektion hören. Der gute Wille war eins und die große Tat das andre. Gleichgültig saßen sie nach wie vor im Halbdunkel ihrer Höfe und Katen auf den wasserumflossenen Wurten, und einförmig schlichen ihnen die Wintertage hin. Lauter Festungen, die nichts von der Außenwelt wußten, noch wissen wollten. Die Schrecken der französischen Besuche spielten sich innerhalb der vier Wände ab, erst nachträglich klagte der Nachbar dem Nachbarn, was er ausgestanden habe. Das meiste davon hörte Leberecht bei seinen Seelsorgsfahrten; dann brachten seine Fragen und Tröstungen den langsamen Strom zum Schwellen und Überlaufen. Diese Bauern waren fürs Reden zu mundfaul und gedankenarm. Der dunkeläugige Arend hatte fremdes Blut in sich: seine Großmutter war eine »Kesselflickersche« gewesen. Das vererbte sich.
Skeptisch nahmen die Bauern ihres Genossen Stachelreden entgegen: »Wir haben ja nichts mehr als die blanke Armut, laß die Schubjacks doch kommen. Was wollen sie uns denn noch wegnehmen?«
»Meinen Torfstich – wenn sie mir den nur auf'n Fleck lassen. So tief graben sie ja wohl nich –«
»Solange wir hier unter Wasser sitzen, können wir fix löschen, wenn die Lumpenstücke uns das Haus anstecken –«
»Im Frühling, wenn das Land wieder trocken is un' die Schinders freien Weg haben un' ihre Schinderei wieder ordentlich anfangen, denn können wir uns das ja noch mal überlegen –«
»Oaberst, wi sünd doch Dütsche!« sagte Arend in heller Wut zu Cord Ahlers, seinem Schwager, der ihn und alle Angebote kalt zurückwies:
» Wührdener sünd wi!« Dabei blieb es. Von Hof zu Hof ging der Hitzkopf vergeblich und hatte noch dazu ein allgemeines Mißtrauen gegen sich wachgerufen.
Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Er versuchte es in Moorhausen und Oberende. Ein wenig mehr hatten in den Gemeinden des jungen Domine Predigten wohl gefruchtet, aber die bäuerische Kühle und Berechnung des Schadens, den eine resultatlose Empörung möglicherweise verursachen könnte, waren auch hier den spontanen, vaterländischen Wallungen ungünstig. Sie wollten ja alles tun, was Domine von ihnen verlangte, aber heute nicht und morgen nicht. Später! Die Franschen hatten noch »banniges« Oberwasser. Wenn sich das erst einmal gab, ja, dann sollten die verruchten Kerls auch sehen, was 'ne Forße hieß!
»Wahr' du dich mit deinen engel'schen Messern, Gerd Arend!«
»Wenn die Schandoaren die weiskriegen, denn so bist du d'r gewesen, das sag' ich dir!«
»Un' zeig' den spitzen Kram lieber nich in Niederende: da sitzt 'n Angeber. Das sag' ich dir.«
Nein – er zeigte den spitzen Kram keiner Menschenseele mehr. Er konnte jetzt überhaupt nicht von Hause fort. Wie ein gefangenes Raubtier trieb es ihn in seiner unwirtlichen Kate hin und her. Vom Boden in den Keller, aus der Dönns vor die Haustür. Jeder Kahn, der sich in der Ferne zeigte und nicht das landesübliche, schwarze Segel trug, verursachte ihm ein schreckhaftes Pochen unterm Wollwams.
»Die Franschen! Sicher – da kamen sie! Was stellen sie nun mit ihm an?«
Er häufte noch Torfbrocken und Reisig auf die Runkeln im Winkel, so viel, daß es erst recht einen auffallenden Kunstbau für Späheraugen gab. Wenn er nur sein enges Dorf im Rücken gehabt hätte auf Nimmerwiedersehen! Vergebenes Wünschen. Er mußte bleiben, und da er kein eigentlicher Schuft war, blieb er, wo ihn die Pflicht bannte.
Seine Frau lag schwerkrank in Wochen; das jämmerliche, zu früh geborene Geschöpfchen, das sie bei Tag und Nacht nicht aus den Armen lassen wollte, konnte weder leben noch sterben. Die übrigen Kinder froren hinter dem kalten Ofen; die Kuh gab keine Milch, das Brot schimmelte im feuchten Kasten. Den Hausvater dauerten seine armen, kleinen Wichter; sie waren alle schwächlich wie ihre Mutter und hatten auch deren hübsche, treuherzige Augen. Herr und Gott! Es war ein zu schlimmes Leben!
Der einzige, den der bedrängte Mann ohne Schaden hätte puffen und schieben können, der große Reemt, saß seit acht Tagen beim einäugigen Korbflechter Redlefs in der verfallenen Hütte, auf niederer Wurt, dicht vor Vierhaus. Da hielt er sich, nach seines Vaters Rat, vor der Konskription versteckt, bereit, beim ersten Alarmsignal zum nahen Entenfang hinüber zu fliehen, und von dort das Weite zu suchen. Der Entenfang lag zwischen dem Gewirr tückischer Wasserbracken, sumpfig, unergründlich. Kamen ihm dort die Kujone auf den Hals, so wollte er schon mit ihnen fertig werden, obwohl er von Charakter ein lässiger und indolenter Mensch war, dem seit jener ersten Versuchung, angesichts des dunkel gähnenden Kellerloches, nie wieder der Wunsch genaht war, seinen Feinden wehrhaft gegenüber zu treten. Deshalb war ihm auch der Gedanke ans Soldatwerden so unerträglich. Sein Vater hatte ihm zwar eine scharfe Pistole aus dem Schmuggelgute zur Notwehr mitgegeben, aber Reemt ahnte nicht, wie man mit dem Dinge umspringen müsse, und dem Korbmacher wagte er's nicht zu zeigen. Der hätte ihm auch schwerlich Belehrung geben können; seine einzige Waffe war das krumme Messer zum Weidenschneiden.
Die Zeit ward dem Jungen ewig lang, Mutter und Geschwister, an denen er trotz aller Lümmelei von ganzem Herzen hing, fehlten ihm. So griff er beim Korbmachen mit an und freute sich, daß Redlefs vierzehnjährige Gesche, eine frühreife, blasse Dirne, bei Weg war, um ihn ein bißchen aufzumuntern. Sie heftete sich an den großen, ruhigen Burschen wie eine Klette. Von der Einquartierung, mit der Redlef einmal zur Strafe für Hehlerei belegt worden war, schien sie nichts Gutes gelernt zu haben; sie hatte eine scheue Art, an Reemt Arend hinzustreifen, die ihm das Blut unruhig machte.
Abends, wenn er in sein Versteck zwischen den geschälten und grünen Weidenruten kroch, konnte er selten vor Mitternacht Schlaf finden. Der reine, frische Geruch der Zweige, der über all den Moder und Unflat dieser verwahrlosten Hütte hinweg ihn anhauchte, weckte ihm ungewohnt viele Gedanken im Hirn. Das roch wie der Frühling. Wie würde es sein, wenn der Lenz wieder ins Land kam? Wenn die Wasser fielen und die üppigen Wiesen blühten und die Weidenbäume in Kätzchen und silbergrünen Sprossen standen? Würde dann all die Not, das Verstecken und Gejagtwerden zu Ende und der Franzmann aus dem Lande sein? Würde die Mutter noch leben? An den kümmerlichen, kleinen Bruder, der nur leise klagte wie ein junges Hündchen, dachte er gar nicht einmal. Oder sollte er ganz allein für die vier unbedarwten Wichter aufkommen müssen? Mit Vater nahm das doch kein gutes Ende; das konnte es ganz unmöglich, so wie er's trieb mit seiner Schmuggelei und seinen wahnschaffenen Reden. Vater legten sie in Eisen, oder erschossen ihn, wie Anno elf den Wulsdorfer Krämer, bei dem sie das Schießpulver in der Mehlschieblade gefunden hatten. Und wenn sie ihn selber aufgriffen, ihn, den sie für ihren unseligen Krieg brauchten? Wehrte er sich, so knallten sie ihn auch über'n Haufen, und dann kam Mutter ganz gewiß unter die Erde, und die vier Wichter brachten sie ins Waisenhaus. Da mußten sie wohl Sonntags mit der Sammelbüchse von Tür zu Tür gehen, als wären sie Bettelkinder. Sie hatten schon im Dorf herumgebettelt, solange es noch Weg und Steg von Haus zu Haus gab. Der ganze Jammer seines Daseins überwältigte den armen Jungen, und er rang seine harten Hände und rieb sich die trockenen Augen rot.
»Wenn 'k doch loskoamen künn'! Wenn 'k doch loskoamen künn'! ehrlich – dat de infoamten Hunne mi dat Lewen loaten mößten!«
Ruhelos wendete er sich im beengten Raume zwischen den Weidenbündeln hin und her. Die Nachtvögel schrien draußen gegen das Pfeifen und Winseln des Schneesturmes an: jagende Wolken, und zwischen ihrem Dahinhasten ein fahler Mondblick, ein kurzes Sterngefunkel. Alles das sah der Wachende durch das zerrissene Rohrdach über seinem Haupte; die feuchte Kälte blies herein, eisige Flocken taumelten und fielen, aus dem vollen geschüttet, auf sein schmales Lager. Er krümmte sich schaudernd, zog das Kamisol empor, rings um sein kaltes Gesicht, und holte den Atem in kurzen, schluchzenden Absätzen herauf, wie ein bestrafter Schulbube.
»Wenn 'k doch loskoamen künn'!«
Loskommen auf rechtliche Manier. Unrechtlichkeit gedieh nicht. Das sah er an seinem behexten Beine. Die Erbse war herausgefallen, der eiternde Schaden hatte sich geschlossen ohne Zutun, ohne Pflege. Sein Blut war zu gesund für die Hexenmeister. Wenn er freikommen könnte, wollte er arbeiten, gewiß und wahrhaftig, und ein ordentlicher Kerl werden und auch einmal wieder mit Mutter zum Abendmahl bei Domine gehen. Aber wie? wie?
So tappten seine Gedanken rund und rund im finsteren Kreise, voll von hungriger Lichtessehnsucht. Ach, das Zuchthaus konnte nicht ärger sein, als diese Schlafstätte zwischen den duftenden Zweigen! Er ging in sich, tief und aufrichtig, der Gefangene im Versteck. Angst und Einsamkeit sind gute Besserungsmittel, wo ein Herz noch weich und besserungsfähig ist.
Droben, zwischen den Dachsparren, pfauchten und rumorten die Iltisse, und balgten sich immer wütiger untereinander. Das Redlefs-Wicht, das da im Giebel, Wand an Wand mit Reemt Arend, schlief, wachte auf und rief: »Moder! Moder!« Aber niemand antwortete. Reemt hörte sie drinnen weinen. Die fürchtete sich vor dem lärmenden Nachtgetier. Weshalb ließ die Alte sie hier oben mutterseelenallein liegen?
Er streckte sich, zog das Kamisol vom Gesichte, setzte sich auf und lauschte, dann hob er sich auf die Knie und rief leise: »Gesche! – – Deern!« – Sie antwortete nicht, aber er vernahm, daß sie drinnen lachte. –
Er war schon an der Tür, da machte er plötzlich Kehrt und kroch zwischen seine Weidenruten zurück.
»Nä!« – sagte er zu sich selber, »nä! ick will nich – ick bün keen franschen Quoteersmann – –«
Damit hüllte er seinen Kopf wieder ins Kamisol, rollte sich auf wie ein Igel vor dem Feinde und schlief trotz all seiner Schrecknisse ein. Er regte sich nicht mehr bis zum Morgen.
Da weckte ihn der Anruf seines Vaters von draußen in aller Frühe. Er steckte den Kopf durch die Luke ins Freie und sah den Rufenden zwischen den Eisschollen langsam näher kommen und anlanden. Er hatte sein stärkstes Schiff, das mit der Vorlage von Eisenstäben und dem schweren Staken zum »Wricken« durch das runde Loch im Hinterteil des Fahrzeugs. Das Wricken ahmte die Bewegung einer Schraube im Wasser nach. Mit dem Segel war's heut ein unsicheres Weiterkommen.
Reemt fuhr in seine Holzschuh, die ›Klönken‹, und kletterte leiterabwärts. Draußen stand Arend ungeduldig wartend im Schiff.
»Du sloppst noch? Du kannst sloapen?« rief er dem Sohne entgegen, und Reemt wagte nicht, dem Vater zu erwidern, wie kurz sein Schlaf all diese Nächte lang gewesen war, so verwildert und vergrämt sah der Ankömmling aus. Und er sprach rauh und heiser wie einer, der zu viel Schnaps im Kopfe hat oder zu viel Last auf der Seele.
»Das sieht leege aus bei uns, Jung' – das macht mich ganz zu Schanden. Halbtot is das Wurm schon, Mutter liegt un' jappt un' sagt nich's un' will nich Naß un' nich Trocken mehr annehmen. – 'n Gesicht hat sie, wie von der anderen Welt. Das geht auf'n Rest mit uns, Jung'.«
»Un' ich, was tu ich hier so lange? Laß mich doch nach Hause, Vater. Hier verkomm ich ganz un' gar, un' wenn Mutter sterben soll, denn – denn will ich Mutter doch wenigstens noch 'mal sehen un' die Wichter – die –«
Er konnte nicht weiter sprechen, wendete sich ab und rieb sich wieder mit den Handknöcheln die verschlafenen Augen rot.
Arend nagte sich die frostblauen Lippen, und seine Augen wurden trübe unter den zottigen Brauen. »Laß das Geplärr«, sagte er barsch, »hör' zu, was ich dir noch sagen will. Die in Moorhausen un' in Niederende sind verfluchte Spijone un' Schojers. Die haben uns angegeben, hörst du, Reemt? Mit dir haben die franschen Kerls das losgekriegt; gestern is mir die Order angedroht, daß du dich stellen sollst, oder sie brennen uns das Haus zusammen, oder nehmen uns alles un' alles weg. Denn finden sie ja das engel'sche Gut auch in den Rüben. Wo soll ich hin damit?«
»Ins Wasser!« rief Reemt, dessen Gesicht blaß und lang aussah vor Schrecken.
»Das teure Zeug ins Wasser, du oahnweten Däsbartel du? Wer kauft das nachher, wenn d'r Rost am Stahl is? Nä, damit will ich alleine t'recht kommen – bloß du – die vermaledeite Hetzerei! – Wenn du dich nich ballstürig angibst, denn hab ich 'nen Vorschlag. Komm ins Schiff – hier ins Schiff trittst du!« fuhr er Reemt an, als der, vom Ufer aus, seine hastigen Fragen begann, »das is heimliches Werk, das leid't kein lauthalses Gebölk!«
Dicht aneinandergedrängt standen sie im Kahn und flüsterten, und Arend stieß seinen Jungen zornig zwischen die kurzen Rippen, als er bei dem väterlichen Vorschlage zurückwich und sich weigern wollte.
»För wat? Worüm, du verdammte Sleef?« Ein studierter Mann hatte den Ausweg ausgetüftelt und angegeben: der dürre Schulmeister, der für freien Tisch und zwei Groschen täglich in den Moordörfern herumzog, um den jugendlichen Rüpeln so viel Weisheit einzutrichtern, wie ein altgewordener und verunglückter Seminarist noch im Kopfe haben kann.
Das war der eine kluge Mann, und der den Plan ausführen sollte, der war noch viel klüger: Domine – Domine Claudius, der junge.
» De dheit't nich!«
» De mutt! Red' du mit diene Redlefs-Lüe, un' holt ju p'raat –«
»Un' wenn Domine 't nich dheit?«
»Denn dwing' wi em!«
Damit stieß Arend von der Wurt ab und stakte ein Haus weiter zum Sargmacher. Dort nahm er den einzigen, fertigen Kindersarg, dessen Farbe noch klebte, ohne weiteres aus der Werkstatt, stieß ihn rücksichtslos ins Schiff, blieb das Geld schuldig, und steuerte durch das wirbelnde Schneegestöber so eilig auf die Kirchinsel zu, daß von seinem wrickenden Staken das graue Wasser hoch aufspritzte und die Schollen sich krachend ineinander und aufeinander schoben. An einem Strohhalm hing seine Hoffnung, und je näher er seinem Ziele kam, desto würgender umkrallte die Angst vor dem Kommenden seine Kehle. Domine Claudius wollte er seine Last aufhalsen: der hatte nicht Weib, nicht Kind, einen gelehrten Verstand und ein gutes Herz.