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Viertes Buch,
Äneas – Erster Teil

Äneas verläßt die trojanische Küste

Seinen Vater Anchises auf den Schultern, seinen Sohn Askanius an der Hand, geschützt von seiner Mutter Venus, war der trojanische Held Äneas dem Brande seiner eroberten Vaterstadt entronnen und am Fuße des Idagebirges, wo dieses in das Meer ausläuft, in der kleinen Hafenstadt Antandrus angekommen. Hier sammelten sich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter unglückliche, des Vaterlands verlustige Menschen, und alle bereit, unter seiner Anführung eine neue Heimat aufzusuchen. Noch ungewiß, wohin sie das Geschick führen, wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen sie mit Hilfe der geretteten und zusammengeschossenen Habe sich eine Flotte zu zimmern an, die mit dem ersten Beginne des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der älteste Trojaner, der sich in ihrer Mitte befand, der greise Held Anchises selbst, gab das Zeichen zum Aufbruch und sagte zuerst dem unterjochten Geburtsland ein ewiges Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den Schiffen, als sie sich von der Heimatküste losrissen, und bald war diese aus den Blicken der Flüchtlinge verschwunden.

Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren Tagen landete die Flotte an dem Gestade Thrakiens, das vorzeiten der wilde Verächter des Bacchus, der König Lykurgus, beherrscht hatte, dessen jetzige Bewohner aber, solange der Staat der Trojaner noch bestand, durch gleichen Götterdienst und Gastfreundschaft mit diesen aufs genaueste verbunden waren. Doch hatte dies Verhältnis eine grausame Störung erlitten; denn als das Glück von Troja zu wanken begann und Ajax der Telamonier vom Schiffslager der Griechen aus einen Streifzug zur See gegen die mit Priamus verbündeten Thrakier unternommen hatte, lieferte Polymnestor, der treulose König des Landes, den jungen Sohn des trojanischen Königs, Polydorus, den Griechen aus und erkaufte sich mit dieser Gabe den Frieden. Der Jüngling aber wurde von den Belagerern unter den Mauern Trojas und vor den Augen des Vaters gesteinigt.

Doch Äneas wußte nicht, an welchem Ufer er mit seinen Schiffen vor Anker gegangen war. Voll Freude, eine wirtliche Küste erreicht zu haben, betrat er mit seinen Freunden das Land, und ohne von den Eingeborenen gehindert zu werden, schritten sie zu einer Niederlassung und legten den Grund zu einer neuen Stadt, in deren ruhigem Besitze sie sich von den Schlägen des Schicksals zu erholen gedachten und welcher Äneas, als das Haupt der Auswanderer, seinem eigenen Namen nach den Namen Änus beilegte. Der Bau war schon im Werden, und der fromme Held wollte für sein Werk den Schutz der Unsterblichen erflehen; er brachte Jupiter dem Göttervater und seiner eigenen Mutter Venus einen untadligen Stier am Gestade zum Opfer. In der Nähe befand sich ein heiterer Hügel, auf welchem Kornellen und Myrten in üppigem Wuchse wucherten. Nach diesem Wäldchen hatte sich Äneas begeben, um die frisch errichteten Rasenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken. Da erfuhr er ein Grausen erregendes Wunder. Sobald er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen aus diesen schwarze Blutstropfen und flossen auf den grünen Waldboden, daß dem Helden selbst in den Adern das Blut erstarrte. Angstvoll warf sich Äneas auf die Erde und flehte zu den Nymphen des Waldes und zu Bacchus, dem Schutzgotte der thrakischen Fluren, die Schrecken abzuwenden, mit welchen dieses Wunderzeichen ihm drohte. Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäumchen, und mit dem Knie auf den Boden gestemmt, versuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ sich ein klägliches Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen sprach: »Was quälest du mich, unglücklicher Äneas? Meine Seele wohnt in diesem Boden, in den Wurzeln und Ästen dieses Waldes, in welchem ich als Kind einst ahnungslos spielte. Ich bin dein Stammesgenosse, dein Verwandter, Äneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der einst von seinem Pflegevater an die Griechen verraten und vor deinen Augen unter Trojas Mauern zerschmettert ward. Mein Gebein ist von mitleidigen Thrakiern gesammelt und hier im Vaterlande bestattet worden. Verletze meine Freistätte nicht, du selbst aber fliehe dieses Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht; denn noch herrscht das Geschlecht des Verräters in diesem Lande.«

Als Äneas sich vom ersten Schrecken erholt hatte, kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Gesicht zuerst seinem Vater und dann den andern Häuptlingen des ausgezogenen Volkes. Alle vereinigten sich, mit ihm die verruchte Stätte des entweihten Gastrechts zu verlassen. Die begonnenen Arbeiten wurden eingestellt, und nachdem sie dem unglücklichen Polydorus ein Totenfest gefeiert, schoben die Trojaner ihre Schiffe wieder vom Strande, bestiegen sie und verließen mit ihnen den Hafen. Günstiger Wind führte sie bald weit in die offene See hinaus, und nach glücklicher Fahrt erschien ihnen mitten im Meer, unter vielen andern Inseln, ein wunderliebliches kleines Eiland, das sich lachend aus den Fluten emporhob. Sein Name war Delos, es war einst eine schwimmende Insel gewesen; Apollo war hier geboren und hatte sich ihrer, als sie wie unentschlossen um andere Inseln und Küstenländer herumirrte, mitleidig angenommen und sie in der Mitte der Zykladeninseln in dem Meeresgrunde befestigt, daß sie hinfort den Stürmen trotzen und glückliche Bewohner nähren konnte. Die Menschen, die sich dort ansiedelten, hatten dankbar ihre Stadt dem Apollo geweiht und waren gastliche, gute Leute. Dorthin steuerte Äneas mit seiner Flotte, und ein sicherer Hafen nahm die müden Seefahrer auf. Sie landeten und betraten die Stadt, die dem Fernhintreffer Phöbus Apollo gewidmet war, mit tiefer Ehrfurcht. Ihr König Anius, der zugleich Priester des Phöbus war, wandelte, mit der heiligen Binde um die Schläfe und dem Lorbeer in der Hand, den Ankömmlingen entgegen und erkannte in dem greisen Anchises einen alten Gastfreund. Unter Gruß und Handschlag wurden Äneas und seine Genossen in die Mauern aufgenommen und wallfahrteten vor allem andern in den altertümlichen Tempel des Schutzgottes der Insel. Äneas warf sich in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollos nieder und betete mit aufgehobenen Händen: »Gib uns, du großer Beschützer des trojanischen Volkes, ein eigenes Haus, gönn uns eine bleibende Statt; laß das Geschlecht deiner Schützlinge nicht aussterben, hilf ihnen, ein zweites Troja zu gründen! Sprich, wer soll unser Führer sein? Wohin schickst du uns? Gib uns ein Zeichen, großer Gott, offenbare dich unsern Seelen!«

Kaum hatte der Held solches gesprochen, als die Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel umgab, und das ganze Gebirge ringsumher sichtlich und fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tempels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: »Ausdauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schoß eines Landes zurück, das schon den Stamm eurer Ahnherren getragen hat. Eure alte Mutter suchet ihr auf: von dort wird das Haus des Äneas in seinen spätesten Enkeln alle Länder der Erde beherrschen.«

Bei der Stimme des Gottes hatten sich alle demütig zur Erde niedergeworfen. Als sie den günstigen Ausspruch vernommen hatten, sprangen sie freudig wieder auf; ein jubelndes Getümmel entstand, und sie befragten sich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo spreche und wo den Irrenden eine neue Heimat winke.

Als sie so untereinander beratschlagten, erhob der ehrwürdige Held Anchises, der Vater des Äneas, der in die Kunde der Vorwelt eingeweiht war, seine Stimme: »Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes«, sprach er, »eure Hoffnungen deuten. Mitten im inselreichsten Meere liegt eine Insel, aus welcher Jupiter der Göttervater selbst abstammt. Sie heißt Kreta und ist auch die Wiege unseres Volksstammes. Und wie Trojas Hauptgebirg heißt auch die waldige Bergkette, die sich durch dieses Inselland zieht, das Idagebirg. Zu seinen Füßen dehnen sich die fruchtbarsten Fluren, und mit hundert Städten ist das Land geschmückt. Dorther soll unser Stammvater Teucer ins troische Land gekommen sein, dorther all unser Götterdienst stammen, und gewiß, dorthin führt uns auch jetzt Apollos Befehl: lasset uns ihm folgen! Die Reise dorthin ist nicht allzuweit; schickt uns Jupiter Fahrwind, so befindet sich unsere Flotte am dritten Morgen im Angesichte der Insel Kreta.«


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