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Als unsre Wandrerin am andern Morgen in aller Frühe aus dem Gasthof trat, fand sie Dick schon vor der Tür, der also entweder gar nicht zu Bett gegangen sein konnte oder mit dem ersten Hahnenschrei aufgestanden sein mußte. »He, guten Morgen, Mamsellchen!« rief er ihr nach, »nimm Dich in acht vor den Gunersbury-Felsen; wenn auch Robin Hood schon ins Gras gebissen hat, so fehlt's doch im Bewer-Tale noch lange nicht an Raubvögeln aller Art!« Jeanie sah ihm, wie wenn sie auf nähere Aufklärung warte, ängstlich ins Gesicht, aber Dick wandte sich mit listigem Seitenblicke zu seinen dürren Pferden und trällerte, während er sie mit der Striegel bearbeitete:
Der Robin war ein tapferer Schütz, Sein Pfeil schoß wie ein Feuerblitz, Und hieß Dich der Robin Rede stehn, Warum soll's Dir von uns aus besser geschehn?
In dem Wesen des Burschen lag nichts, was sie zur Fortsetzung der Unterhaltung hätte reizen können, und so setzte sie ihren Weg munter fort. Ein mühseliger Marsch brachte sie bis Ferrybridge, dem besten Gasthofe, damals wie jetzt, auf der Straße nach London von Norden her. Der Brief der Frau Bickerton, im Verein mit ihrem freundlichen schlichten Wesen, gewann Jeanie das Herz auch dieser Wirtin, die ihr günstige Gelegenheit verschaffte, mit einem Rückpostpferde bis Tuxton zu reiten, so daß sie am zweiten Tage von ihrem Aufbruch von York die größte Strecke bezwang, die sie bisher hatte hinter sich bringen können. Aber diese ungewohnte Art zu reisen, hatte sie so angegriffen, daß sie erst weit später als sonst am andern Morgen imstande war, ihre Wanderung wieder aufzunehmen.
Um 9 Uhr hatte sie die Ruinen des Newarker Schlosses hinter sich. Daß Jeanie kein Verlangen fühlte, sich in dem altertümlichen Bauwerk umzusehen, wird mir der Leser gern glauben, der meiner Charakterschilderung dieses eigentümlichen Mädchens gefolgt ist. Sie begab sich vielmehr nach dem ihr in Ferrybridge empfohlenen Gasthause, und während sie sich hier an einem Glase Milch erfrischte, trat die Magd, die sie bediente und mit aufmerksamen Blicken gemustert hatte, zu ihr und fragte sie, ob sie nicht aus Schottland sei und Deans heiße und unterwegs nach London in Gerichtsangelegenheiten sei?
Bei aller Schlichtheit ihres Charakters gebrach es ihr doch nicht an der den Schotten auszeichnenden Eigenschaft, vorsichtig im Umgange mit Menschen zu sein, die er zum ersten Male sieht, und sie begehrte von dem Mädchen, ehe sie ihm Antwort gab, zu wissen, wie sie zu diesen Fragen komme? Darauf sagte das Mädchen, es seien am Morgen ein paar Weiber hier gewesen, auch auf Wanderung begriffen, die sich nach einem Mädchen mit Namen Jeanie Deans bei ihr erkundigt und sie ihr genau beschrieben hätten.
Was sich der Mensch nicht erklären kann, hat immer etwas Beängstigendes für ihn, und so erging es auch Jeanie. Sie befragte sich umständlich nach den beiden Weibern, konnte aber von dem Mädchen nichts weiter in Erfahrung bringen, als daß die eine davon eine sehr alte, die andere noch eine junge Person gewesen sei, und daß beide Schottisch gesprochen hätten. Dadurch wurde Jeanie um nichts klüger; und von einem unerklärlichen Angstgefühl befallen, entschloß sie sich, bis zur nächsten Ortschaft Postpferde zu nehmen; da aber im Augenblick keine zur Stelle waren und der Knecht, der sie bringen sollte, lange auf sich warten ließ, besann sie sich eines andern, schämte sich ihrer Furchtsamkeit und setzte ihre Wanderung fort, zumal man ihr sagte, es sei bis kurz vor Grantham, dem nächsten Nachtquartier, das sie machen müsse, gerader Weg; dort aber käme sie an einem großen Berge, dem Gunersbury, vorbei. Darüber war Jeanie fast froh, denn Berge, sagte sie, hätte sie schon tagelang nicht mehr gesehen, und als sie den letzten blauen Gipfel aus dem Gesicht verloren, wäre es ihr zu mute gewesen, als ob der letzte Freund von ihr gewichen sei.
»Na, Jungfer,« sagte der Wirt, der gerade hinzutrat, »wenn Sie auf Berge so versessen sind, dann nehmen Sie sich nur den Gunersbury in Ihrem Bündel mit; wir würden froh sein, wenn wir ihn los wären, denn er ist der Ruin für all unsre Postpferde. Viel Glück zur Weiterreise! Sie scheinen ja ein mutiges Ding zu sein, aber ein bißchen Mut werden Sie schon brauchen können.«
»Hoffentlich treffe ich keine bösen Menschen dort?« fragte Jeanie.
»Na, Gott geb's,« erwiderte der Wirt, »aber Mangel hat's dort nicht daran, das dürfen Sie mir schon glauben. Wie Vater Kliff noch da war, haben sie bessere Zucht gehalten, jetzt marodiert jeder auf eigne Rechnung, und seitdem ist's gar schlecht geworden hierzulande. Nun, Kind, nehmen Sie einen guten Schluck mit auf den Weg. Vor Mitternacht werden Sie kaum was anderes als einen Trunk Wasser finden.«
Jeanie lehnte dankend ab und fragte, was sie schuldig sei?
»Schuldig?« rief der Wirt und wollte sich ausschütten vor Lachen, »na, das wär noch schöner! Sie haben ja kaum was verzehrt, und wenn man im Sarazenenkopfe für eine schmucke Jungfer, die nicht 'mal eine christliche Sprache redet, nicht ein Stück Brot und einen Schluck Bier mehr übrig hätte, dann täte er gescheiter, auf der Stelle einzupacken! Also noch einmal und ein andres Mal, denn aller guten Dinge sind drei, auf Ihr Wohl, liebe Jungfer, und dann Gottes Segen auf den Weg!«
Jeanie nahm von dem treuherzigen Gastwirte Abschied und setzte ihren einsamen Weg fort, hatte aber die öde Ebene, die sich am Fuße des Gunersbury dehnt und die, von Sumpf und Morast, dazwischen Gestrüpp und Buschwerk bedeckt, dort eine Art Bruch bildet, noch immer nicht hinter sich gebracht, als sich die Dämmerung einstellte. Von unsäglicher Angst vor Räubern und anderm schlimmen Gesindel befallen, beflügelte sie ihre Schritte, als sie Pferdetrab hinter sich vernahm. Unwillkürlich trat sie so weit auf die Seite, als der Sumpf neben der Straße ihr erlaubte; sie hoffte, ungesehen zu bleiben, aber als das Pferd näher kam, erkannte sie, daß ein paar Weiber drauf saßen, die eine auf einem Quersattel, die andere auf einem Reitkissen.
»Ei, guten Abend, Jeanie Deans,« rief ihr die vorderste zu, indem sie das Pferd ein wenig anhielt; »was sagst Du denn zu dem stattlichen Berge, der mit der Spitze zum Monde reicht? Meinst wohl, das sei das Himmelstor? Hinauf willst Du ja, nicht wahr? Na, vielleicht kommen wir heute nacht noch hin! Wenn bloß die Mutter nicht so faul wäre!«
Während die, die so gesprochen, sich mit halbem Leibe nach ihr herumdrehte, trieb die andere und, wie Jeanie jetzt sah, die ältere, sie zur Eile an. »Still doch,« rief sie ihr zu, »mondsüchtiger Balg! Was scherst Du Dich um Himmel oder Hölle?«
»Freilich, Muttchen, was schert man sich drum! was um den Himmel, wenn man Dich hinter sich hat; was um die Holle, wohin man immer kommt
zur rechten Zeit, fürs Feuer bereit, und zum ewigen Streit!
Na, Hengstchen, trab, trab, trab! Renne, als seist du der Besenstiel, auf dem zwei Hexen galoppieren!
Mit der Mütze am Fuß und dem Schuh auf der Hand, juchhe! Jag ich als Flamme durch Busch und Land, juchhe!«
Der Pferdetrab und die zunehmende Distanz erstickten den weiteren Gesang, aber noch eine ganze Zeitlang schallten die wilden, abgerissenen Töne über die Einöde her zu ihren Ohren. Von tausend bangen Besorgnissen gequält, blieb sie wie betäubt zurück. Sich in fremdem Lande auf so seltsame Weise, von so seltsamem Wesen ohne weitere Erklärung bei ihrem Namen gerufen zu hören, kam ihr schier übernatürlich vor. Sie setzte aber ihren Weg fort, und ihr gutes Gewissen, wie ihr Vertrauen auf die gute Sache, der sie diente, hatten ihr bald die Ruhe wieder gegeben, als sie gleich nachher wieder in Schreck und Angst gesetzt werden sollte. Aus einem Gebüsch neben der Straße sprangen zwei Männer hervor und traten ihr drohend in den Weg. Der eine, ein gedrungener, kräftiger Mensch, in einem schmutzigen Mantel, wie ihn Fuhrleute tragen, schrie sie an: »Steht und ergebt Euch!«
Der andere, eine große, hagere Figur, sagte: »Was weiß das Weib von unserm Komment? Sprich deutlich: Geld her, Dirne, oder das Leben!«
»Ich habe wenig Geld, meine Herren,« antwortete die arme Jeanie, ihnen das wenige reichend, das sie von ihrer eigentlichen Barschaft geschieden und für solchen besonderen Fall bereit hielt! »doch wenn Sie es mir armen Frauensperson nehmen wollen, dann muß ich es schon geben.« »Das langt nicht, Dirne,« rief der andere wieder, »oder meinst Du, wir trügen unsre Haut zu Markte um solcher Lappalie willen? Jeden Silberling wollen wir haben von Dir, und wenn Du nicht alles, was Du bei Dir führst, gutwillig herausrückst, dann ziehen wir Dich aus bis aufs Hemde!«
Sein Kamerad schien mit der Todesangst, die sich in Jeanies Gesicht malte, Mitleid zu haben.
»Nein, Tom,« sagte er, »das ist eine von den frommen Puritaner-Dirnen, der man aufs Wort glauben darf. Ich will Dir was sagen, Du,« rief er, dicht an sie herantretend, »guck mal zum Himmel 'nauf und sag, Du hättest keinen Heller weiter, und wir lassen Dich frei laufen.«
»Alles, was ich bei mir habe,« antwortete Jeanie, »kann ich Ihnen nicht geben, denn von meiner Wanderung hängt Tod und Leben eines Menschen ab. Wenn Sie mir aber soviel lassen wollen, um bei Brot und Wasser mich weiter zu schleppen, so will ich mich drein finden und Ihnen danken und für Sie beten.«
»Dein Gebet soll der Teufel holen,« rief der erste wieder, »auf solche Münze pfeifen wir hier!« und er machte eine Bewegung, wie wenn er Jeanie packen wollte.
In dieser äußersten Not fiel ihr Ratcliffes Zettel ein. »Haltet!« rief sie; »kennt ihr das?«
»Von Vater Kliff,« sagte der Große, nachdem er den Paß angeguckt hatte, »wir müssen sie frei passieren lassen.«
»Das wäre!« rief der andere, »Ratcliffe ist ein Abtrünniger geworden, ein Bluthund.«
»Aber nützen kann er uns allemal noch,« sagte der andere.
»Und was sollen wir machen?« fragte der andere; »haben wir nicht versprochen, die Dirne bis aufs Hemd auszuplündern und in ihr Bettelland zurück zu spedieren? Jetzt kommst Du damit, sie laufen Zu lassen?«
»Das nicht,« erwiderte der andere, seinem Kameraden etwas ins Ohr flüsternd, worauf der sagte: »Na, dann tummle Dich und schwatz nicht länger, sonst werden wir gar noch hier erwischt.«
»Du mußt mitkommen,« fuhr der erste jetzt Jeanie an.
»Gott im Himmel!« rief das Mädchen, »wenn Ihr vom Weibe geboren seid, dann seid menschlich! Haltet mich nicht auf, sondern nehmt lieber alles, was ich habe.«
»Wovor hat das Frauenzimmer Dampf?« fragte der andere wieder; »es soll ihr ja nichts passieren? wenn sie aber nicht parieren will, so schlage ich ihr den Schädel ein!«
»Tom, Du bist ein rauher Grobian. Ich sage Dir, wenn Du sie anrührst, so schüttle ich Dich, daß Dir die Knochen knacken ... Schere Dich nicht weiter um ihn, Kind,« wandte er sich an Jeanie; »ich leide nicht, daß er Dich mit einem Finger anrührt, sobald Du ruhig mit uns mitkommst. Willst Du uns aber noch länger aufhalten, dann mag er sehen, wie er mit Dir zurecht kommt.«
Jeanie, entsetzt durch diese Drohungen, erblickte in dem Anerbieten desjenigen von beiden, der ihr als der mildere erschien, ihren einzigen Schutz gegen die roheste Behandlung, der sich ein Weib ausgesetzt sehen kann. Sie folgte ihm nicht bloß, sondern hielt ihn fest am Arm, damit er sie nicht im Stiche lasse; jener aber, ein so verhärteter Bösewicht er sein mochte, schien durch solchen Beweis von Zutrauen gerührt zu werden und versicherte wiederholt, daß er nicht litte, daß ihr irgendwelches Leid geschehe.
Eine halbe Stunde lang marschierten sie nun zu dritt, die Straße verlassend, auch das Gebüsch meidend, auf einem Seitenwege bis zu einer alten, einsam gelegenen Scheune, die aber, wie man an dem herausschimmernden Lichtstrahle sah, bewohnt war. Einer der beiden Räuber klopfte an das Tor. Ein Weib öffnete, und sie traten mit der unglücklichen Gefangenen ein. Ueber einem Steinkohlenfeuer bereitete eine andere Frau eine Mahlzeit. Sie sah auf, und Jeanie sah, daß es die Alte war, die am Abend an ihr vorbeigeritten war.
»Warum bringt ihr den Balg hierher?« keifte sie; »warum habt ihr sie nicht ausgeplündert und die Straße zurückgejagt?«
»Ruhig, Blutmutter!« sagte der Lange, »wir tun Euch gern zu Gefallen, was angeht; aber nicht mehr schlecht sind wir zwar, aber so schlecht doch nicht, wie Ihr uns gern macht. Eingefleischte Teufel sind wir doch eben noch nicht!«
»Sie hat einen Paß vom Ratcliffe,« sagte der andere, »und Frank will's nicht leiden, daß man sie mißhandelt.«
»Nein, ich leide es auch nicht,« antwortete Frank, »wenn aber die alte Blutmutter sie hier eine Zeitlang festhält und dann wieder nach Schottland schafft, so sehe ich weiter nichts Schlimmes dabei.«
»Ich will Dir was sagen, Frank Lewitt,« keifte die Alte, »nennst Du mich noch einmal Blutmutter, dann tauch ich das Messer da« – und sie hielt drohend das Messer hoch, mit dem sie an dem Feuer hantiert hatte – »in Dein bestes Leibesblut!«
»Hoho!« rief Frank lachend, »es muß im Norden jetzt faul stehen, daß unsre Blutmutter bei so schlechter Laune ist!«
Kaum war das Wort aus seinem Munde, so flog, von dem wilden Weibe geschleudert, das Messer auf ihn zu. Sie hatte gut gezielt, das Messer flog dicht an seinem Ohr vorbei und blieb hinter ihm in der Lehmwand stecken; nur durch eine schnelle Bewegung des Kopfes war er dem tödlichen Wurfe ausgewichen.
»Heda, Mutter!« schrie er, sie bei beiden Armgelenken packend, »es wird gut sein, Dir wieder zu zeigen, wer hier Herr ist.« Er stieß die Alte mit solcher Gewalt rückwärts, daß sie auf ein Strohbund sank. Jetzt gab er ihr zwar die Hände frei, hielt ihr aber den Finger drohend entgegen, in der Weise etwa, wie ein Wärter eine Irrsinnige in Respekt hält. Der Eindruck, den er beabsichtigte, blieb nicht aus, denn sie getraute sich nicht, aufzustehen, sondern rang nur ihre magern, runzligen Hände in ohnmächtiger Wut und schrie und heulte wie eine Besessene.
»Mein Wort will ich halten, alter Teufel!« rief der Mann, den sie Frank Lewitt genannt hatte, »die Dirne soll nicht weiter nach London hin wandern; aber Ihr krümmt ihr kein Haar, das sage ich Euch.«
Durch dieses Versprechen aus seinem Munde schien die Alte ruhiger zu werden, und während sich ihr Geheul zu einem schwachen Gebrumm wandelte, bekam die seltsame Gesellschaft Zuwachs durch eine neue Person, eine jüngere Frau, die mit einem Satz vom Scheunentore bis zwischen die um das Kohlenfeuer gescharte Gruppe sprang.
»Oho, Frank Lewitt!« rief sie, »Du willst doch nicht unsre Mutter erschlagen? Oder der Sau, die Tom heut früh gebracht hat, die Ohren absäbeln? oder hast Du Dein Abendgebet rückwärts gelesen, um meinen alten guten Freund, den Papa Satan, herzurufen?«
Gleichwie Jeanie schon vordem die Alte erkannt hatte, so erkannte sie jetzt an der seltsamen Rede der Hinzugekommenen die andere der beiden Frauen, die auf der Straße an ihr vorbeigeritten waren und die närrischen Verse gesungen hatte; und der Leser wird nicht ermangelt haben, in ihr die Zigeunerin zu erkennen, deren Bekanntschaft er im ersten Bande gelegentlich des Porteous-Krawalls gemacht hat.
»Heda! Und wen habt Ihr denn da?« schrie sie, Tom beiseite schiebend, der aus einem zerbrochenen Geschirr Branntwein trank und auf die Alte schimpfte und die andere zu allen Teufeln wünschte – »ich glaub gar, die Tochter vom frommen David Deans aus Sankt-Leonard? Was will denn die bei nachtschlafender Zeit in unsrem Zigeunerstalle? Ist das ein Anblick für so heilige Augen? Wie tief sind doch die, so da selig in Gott sind, gesunken, meine Herren! Und die andere Schwester, die im Kerker von Edinburg? Mir tut sie ja leid, das muß ich sagen; und ich hab ihr nicht übelgewollt, sondern die Mutter, wenngleich ich auch Ursache genug dazu hätte.«
Als sie fertig war, tanzte sie zu Jeanie hin, um sie sich genau zu begucken; Jeanie aber, so entsetzt sie über all das Ungeheuerliche war, das ihre Augen hier sahen, beobachtete doch alles aufs schärfste, fest gewillt, sich keine Gelegenheit zur Flucht und auch nichts, was sie über ihre Lage und die ihr drohenden Gefahren aufklären könnte, entgehen zu lassen.
»Madge,« sagte der Lange, sich an die Tanzende wendend, »soviel Satansblut wie die Mutter, die Deine Großmutter sein könnte, hast Du nicht im Leibe; nimm das Mädel mit in Deine Kammer und laß selbst den Satan nicht hinein, und sollt er's gleich im Namen Gottes verlangen.«
»Ja, Frank,« antwortete Madge, Jeanie am Arme fassend und hinter sich herziehend, »das tu ich, denn für ein paar anständige Dinger, wie uns beide, ziemt es sich nicht, mit Tom und andern von Deinem Kaliber in solcher nächtlichen Stunde Gemeinschaft zu halten. Also schönste gute Nacht, meine Herren, und noch mehr schöne gute Tage! Schlaft, bis euch der Henker weckt, bis Satan euch am Ohre neckt, da bleibt das Land doch ohne Plage.«
Dem Impuls folgend, den ihre gestörte Phantasie ihr eingab, tanzte sie ehrbarlich zu ihrer Mutter hin, die, vom Schein des Kohlenfeuers getroffen, mit ihren greisen, von wilden Leidenschaften zerrissenen Zügen ganz so aussah wie Hekate am Höllenfeuer, ließ sich plötzlich auf ein Knie vor ihr nieder und flehte, Ton und Art eines kleinen Kindes annehmend: »Lieb Mütterchen, will Babeichen machen, will beten; komm, Mütterchen, segne mich und sprich, wie Du es früher getan – aber das ist schon lange her – Gott behüte Dein hübsches Gesichtlein!«
»Soll Dir Satan die Haut davon ziehen und sich die Schuhe damit besohlen, Du Luder!« schrie die Alte und wollte der vor ihr Knieenden mit der Faust ins Gesicht einen Denkzettel zeichnen; aber diese, wahrscheinlich durch Erfahrung klug gemacht, wich dem Schlage klug und geschickt aus. Nun sprang die Hexe auf und griff nach einer Feuerzange, und wäre nicht Frank Lewitt neuerdings ihr in den Arm gefallen, so hätte sie ihre Absicht, der Tochter oder Jeanie das Gehirn einzuschlagen, sicher ausgeführt.
»Madge!« rief er, »scher Dich Und nimm sie mit, die Muckerdirne! Verkriech Dich in Deine Höhle, sonst setzt's hier noch einen Teufelsspuk. Und Du, verdammtes Rabenaas!« herrschte er die Alte an; »nur einmal noch muckse Dich in meiner Gegenwart! und ich zerbreche Dir ein Paar von Deinen Satanskrallen!«
Madge befolgte den Rat und schlüpfte, Jeanie hinter sich her zerrend, in einen im Hintergrunde der Scheune angebrachten Verschlag, worin ein paar Schütten Stroh lagen. Durch einen weiten Spalt in der Decke drang der Mond und beleuchtete einen Packsattel, ein Reitpolster und ein paar Felleisen, die Reisegerätschaften von ihr und ihrer Mutter.
»Hast Du schon 'mal in Deinem Leben solch feines Schlafzimmerchen gesehen? Sieh nur, wie der Mond auf das frische Stroh blinkt. Ist sein süßer Strahl nicht kühl und labend? Im ganzen Narrenspital gibt's kein so schmuckes Kämmerchen, so stattlich auch das Haus von außen aussieht. Hast Du schon mal im Narrenhause gesteckt, Jeanie Deans?«
Jeanie fühlte bei der Frage, wie ihr ein Schauer durch die Glieder rann. Mühsam stieß sie ein mattes Nein! hervor, um die kranke Person nicht zu reizen, denn in ihrer schrecklichen Lage gewährte ihr die Anwesenheit selbst solcher Wahnsinnigen einen gewissen Schutz.
»Was Du sagst! Noch niemals im Tollhause? Na, es scheint fast, als schickten die dummen Michel vom hohen Rate von Edinburg bloß mich, und sonst niemand, hinein! Sie müssen's doch recht auf mich abgesehen haben! Aber weißt Du, Jeanie, verloren hast Du nichts dabei,« rief sie vertraulicher, »der Wärter ist ein bissiger Hund und macht einem den Ort zur Hölle, wenn man ihm nicht aufs Wort pariert. Ich hab ihm zwar oft genug ins Gesicht geschrieen, er sei der schlimmste Narr im ganzen Narren-Hause. Heidi! Was machen denn die da drin für Spektakel? Laß keiner sich's beikommen, den Fuß hier über die Schwelle zu setzen! So was schickt sich nicht, meine Herren! Ich setz mich mit dem Rücken vor die Tür, und mich da wegzubringen, soll keinem glücken!«
»Madge! Madge! Madge Wildfire!« schrieen die Männer draußen, »wo hast Du den Gaul gelassen?«
»Er ist beim Fressen, das arme Biest!« antwortete Madge.
»Beim Fressen?« fragte der wildere der beiden, »was soll das heißen, Kanaille? sag, wo Du den Gaul hast, oder es ist um Dich geschehen!«
»Er steckt in Gaffer Gabblenwoods Weizenfeld, und das ihr Kerle, kennt ihr doch, gelt?« versetzte sie, lachend.
»Im Weizenfeld, verrücktes Balg?« schrie Tom im wildesten Grimm. –
»Ja doch, mein feiner Galgenstrick! Lauf nur zum Dick! Was kann der Weizen dem Gaule schaden?«
»Schwatz keinen Unsinn, Madge,« rief jetzt Frank, »dem Gaule ja nicht, aber uns kann's schaden, wenn morgen das Biest auf fremder Leute Grund und Boden angetroffen wird. Geh, Tom, und schaff's her! Aber laß keine Spuren hinter Dir! Hörst Du?«
»Na, da haben wir's! Ich muß zuletzt immer den Packesel machen,« brummte Tom.
»Marsch, Du Faultier! Hast nun lange genug die Glieder geruht!« rief der andre, worauf Tom ohne weitere Einwände aus der Scheune ging.
Mittlerweile hatte sich Madge eine Stelle auf der Strohschütte zum Schlafen hergerichtet, saß aber noch immer, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, so daß sie, da die Tür nach innen zu aufging, den Eingang durch das Gewicht ihrer Person versperrte.
»List hilft durchs Leben, Jeanie, und Mausen auch,« schwatzte sie, »wenn's auch die Mutter nicht glauben mag. Wer käme wohl auf den Einfall, den Rücken als Riegel zu brauchen? Stärker sind ja die Riegel im Kerker von Edinburg freilich! Einen so tüchtigen Schmied wie in Edinburg scheint's wirklich nirgendswo mehr zu geben. Was für Stangen und Schlösser und Angeln und Riegel der schmieden kann! O, und die Zwangsjacken, die er macht, sind auch nicht schlecht! Teufel! schneiden einem die in die Knochen! Die Mutter hat 'mal einen prächtigen Zwangsgurt gehabt. Ach, wie gern hätt ich Kuchen drauf gebacken für meinen kleinen Balg! Die wären doch sicher schön knusprig geworden! Aber, Jeanie! sterben müssen wir ja doch alle 'mal! da hilft alles nichts ... Ihr Puritaner seid doch rechte Schafsköpfe! stellt euch den Himmel vor wie eine Hölle; bloß damit ihr die Erde nicht gar so ungern verlaßt! Aber das Narrenhaus, wovon ich eben gesprochen, Jeanie, das rat ich keinem, keinem, Jeanie! und ich will weder Gutes davon reden noch Böses! Aber Du kennst doch das feine Lied:
Ich saß in dunkler Narrenzelle,
Ums Handgelenk klirrte die Schelle,
Ich war noch keine zwanzig alt,
Da hat mir die Peitsche ums Ohr schon geknallt!
Da mußt ich fein fasten und beten,
Fein zupfen und stampfen und kneten,
Da mußt ich sein beten und fasten,
Fein sputen, fein schuften, fein hasten.
rallala! Trallala! Jup heidi, jup heida!
Jeanie, schade, daß ich heut ein bißchen heiser bin und nicht, wie sonst, fein singen kann! Aber komm, wir wollen jetzt schlafen!«
Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken, und Jeanie, die sich auch nach einem Augenblick Ruhe sehnte, um über Flucht und Mittel dazu zu sinnen, vermied ängstlich jede Störung. Aber Madge hatte kaum einige Minuten genickt, so kam der unstete Geist wieder über sie. Den Kopf emporrichtend, schwatzte sie, aber leiser, bis zuletzt die Ermüdung der ungewohnten Reise zu Pferde sie übermannte und ihre Stimme zu einem bloßen Lallen machte. »Weiß gar nicht, was mich heut so müde macht! Schlaf doch auch sonst erst, wenn Mond vom Himmel lacht. Und nun tritt er gar voll ans Firmament mit seinem großen silbernen Wagen, ach! wie oft ich da lustig getanzt, das ist nicht zu sagen! Aber es kamen auch Tote gesprungen, haben gar wohl mitgesungen, zum Beispiel John Porteous und noch einer, den ich gar gut gekannt hab, ein kleiner, lieber Kerl ist's gewesen, aber die hab ich bloß, als ich lebte, gekannt, war nämlich 'mal tot schon, Du dummer Fant!«
Und nun sang die Irre mit leiser Stimme, und doch gar wildem Klange:
Fern überm Meer auf dem Kirchhofe ruht
Mein bleichendes Gebein,
Und was sich mit Dir jetzt unterhält,
Ist bloß der Geist allein!
»Aber, Jeanie!« faselte sie weiter, »es weiß eigentlich niemand, was tot ist und was lebt, wer im Feenland oder hienieden wandelt. Dann und wann glaub ich, mein Kind sei tot, sie haben's begraben, mit Wangen so rot, ach! wie oft hab ich's geschaukelt auf meinen Knien, seit sie es haben begraben! und hätt ich's je wieder können anziehn, wenn's gewesen wär tot mit Wangen so rot? Nein, Jeanie, nein! So was kann ja nicht sein!«
Da war es plötzlich, als träte etwas aus ihren Tränen deutlicher hin vor sie; denn sie schrie auf einmal auf: »Ach! weh mir! weh!« Dann aber versank sie endlich, unter Flüstern und Schluchzen, in festen Schlaf, wie ihr tiefes Atemholen verriet, und Jeanie sah sich mit ihren trüben Betrachtungen allein.