Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Bald hernach fand sich Doktor Havelmüller ein, zog mit geheimnisvoller Miene etwas in Seidenpapier Gewickeltes hervor und sagte: »Denkt euch nur, liebe Freunde, mein Grundstück Neugarten in Tegel ist unerschöpflich in Überraschungen. Seit ihr im vorigen Mai dort wart, habe ich seine Fauna mit einundzwanzig Spezies und seine Flora gar um neununddreißig bereichern können. Und unter der Gruppe der Raubtiere befindet sich etwas ganz Großartiges, nämlich ein Bär, ein unzweifelhafter wirklicher Bär, Ursus arctos. Der ist aber auch mit einem dicken roten Strich ausgezeichnet. War seinem Führer, einem braven Polacken weggelaufen, hatte sich durch eine Zaunlücke gezwängt, hatte mir sämtliche Johannisbeeren abgefressen und sonst noch schauderhafte Verwüstungen angerichtet. Und ich genieße das Glück, darüber zuzukommen. Sie sagten nachher alle, ich könne Entschädigung von dem Kerl verlangen. ›Was Entschädigung‹, sagte ich, ›ich bin ja selig. Soll ich dem armen Vagabunden, der seine kümmerliche Nahrung aus diesem hungrigen Tier zieht, seine paar Groschen abzwacken? Nein, meine Entschädigung steht hier‹, sagte ich und zeigte auf mein Buch, wo es angemerkt war, wie gesagt, schön dick rot unterstrichen: Ursus arctos, festgestellt am 16. Juli abends 7 Uhr 3 Minuten. –

Mit den Pflanzen ist es aber scheinbar nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen. Ich hege einen düsteren Verdacht gegen meinen Freund Johannes, der im vorigen Jahr, wenn wir Pflanzen bestimmten, sich oftmals dort in höchst verdächtiger Weise zu tun gemacht hat. Denn in diesem Jahr zeigte sich eine ganz merkwürdige Bereicherung der Flora mit Pflanzen, die hier gar nicht vorkommen, wie zum Beispiel roter Fingerhut, Zimbelkraut und ähnliches. Da ich nun weiß, daß er sich allerlei Samen von seinen Reisen mitbringt oder aus Erfurt bezieht, um ursprünglich wildwachsende Pflanzen in seinem Gärtchen zu ziehen, so vermute ich hier schändlichen Betrug. Doch dies alles nur nebenbei. Denn was ich eigentlich erzählen wollte, ist noch viel merkwürdiger. Als ich aufgefordert wurde, hier Gevatter zu stehen, da sagte ich mir: was schenkst du deinem Patchen? Da ich nun, wie ihr wißt, des Gebrauches der Wünschelrute kundig bin, so dachte ich: ›Wer weiß, ob mir nicht mein Grundstück Neugarten, das so unerschöpflich reich an Merkwürdigkeiten ist, auch hier aushilft?‹ In der letzten Vollmondnacht machte ich einen Versuch mit der Rute und richtig, nach einigen Hin- und Widergängen schlug sie mächtig, ganz in der Nähe von Kiefer Nummer 11. Ich grub und grub nun in fieberhafter Aufregung ein fürchterliches Loch so tief, daß ich fast schon die Antipoden Hurra schreien hören konnte, und endlich, endlich stieß ich auf etwas Hartes. Es war ein Stein von der Größe eines Kinderkopfes. Unter diesem Stein aber – wer beschreibt mein Staunen, meine Wonne, meine Überraschung – fand ich dies hier, verehrten Freunde.«

Damit beseitigte er rasch das Papier und bot einen Becher von sogenanntem oxydierten Silber dar.

»Offenbar römische Arbeit«, sagte Havelmüller und betrachtete das Gefäß wohlgefällig von der Seite. »Jedenfalls zur Zeit der Völkerwanderung dort vergraben.«

Merkwürdige Ahnungen beschlichen mich, als nun Bornemann, rot und leuchtend wie der Vollmond beim Aufgang, ebenfalls mit einem Paket von höchst verdächtigem Aussehen in der Hand, eintrat. Dieser machte nicht viel Worte, sondern wickelte sein Papier auseinander und zog daraus, wie das bei seiner durstigen Gemütsart ja auch gar nicht anders zu erwarten war, ebenfalls einen Becher hervor und zwar einen, der gegen die anderen ein Riese war.

»Geräumiges Lokal, was?« sagte er wohlgefällig. »Daraus soll dein Sohn immer trinken.«

Ich bedankte mich natürlich herzhaft und stellte den Becher zu den übrigen. »Warum«, dachte ich seufzend, »hast du nicht sieben Paten geladen? Bei so seltener Einmütigkeit hätte dein Sohn für jeden Tag der Woche einen Becher gehabt und reizvolle Abwechslung hätte bereits die Tage seiner frühesten Jugend verschönt.«

Dann kam der Pastor mit seinem würdevollen Adjutanten und die feierliche Handlung nahm ihren Anfang.

Mein Sohn benahm sich während dieser sehr angemessen, und sämtliche Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes rechneten ihm das hoch an und betrachteten dies als einen schlagenden Beweis seiner frühzeitigen Klugheit und Bildung. Nachdem nun der kleine neue Christ, der ganz grell aus seinen weißen Spitzen und rosa Schleifen hervorschaute, genügend gelobt und bewundert war – selbst Bornemann ließ sich hinreißen, ihn für ein »ganz manierliches Würmchen« zu erklären – verabschiedete der Geistliche sich, und der Täufling zog sich unter Aufsicht einer Frau aus den unterirdischen Regionen, die Frieda für diesen Tag angenommen hatte, wieder in seine Gemächer zurück. Wir aber »erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahl«.

Es war natürlich, daß wir alle seit jener Zeit zum erstenmal wieder vereinigt waren, daß wir des Polterabends, der Hochzeit und ihrer lustigen Zwischenfälle gedachten, und Hühnchen sagte dann ganz traurig. »All die kleinen behaglichen Räume, wo wir damals so lustig waren, sind nicht mehr. Bald nachher mußte ich mein Häuschen verkaufen, wie ihr wißt. Es wurde abgebrochen und in wahnsinniger Hast ein großer Kasten dort aufgeführt. Jetzt ist er schon bewohnt, und gerade dort, wo sich mein kleiner Garten befand, hat sich ein Materialwarenhändler eingemietet. Ich war heute morgen dort, um mir eine Kleinigkeit zu kaufen, und bei dieser Gelegenheit mit wehmütigen Gefühlen die schaudervolle Veränderung zu betrachten, die dort stattgefunden hat. Ach, wo sonst an dem Weinspalier unser Fliegenschnäpperpärchen sein Nest zu bauen pflegte, war jetzt die Backplaumenschiebelade. Wo mein Springbrunnen seinen feinen Strahl in die Lüfte sendete, lief jetzt die Essigtonne. An der Stelle, wo meine Rosen blühten in üppiger Pracht, dufteten Berliner Kuhkäse, Limburger und andere liebliche Sorten, und an dem Ort meines Napoleonsbutterbirnbaums stand ein fettglänzender Kommis und verkaufte mit einem Lächeln wie Sirup für'n Sechser Essig und für'n Sechser Öl. Sic transit gloria mundi

In diesem Augenblick schallte draußen die Haustürglocke und der Postbote brachte ein Paket an mich von Onkel Nebendahl, dem vierten Paten. Zu meiner Beruhigung war es ziemlich umfangreich und gab deshalb zu einer von uns bereits gehegten stillen Befürchtung keine Veranlassung. »Auspacken!« hieß es allgemein. Obendrauf lag ein Brief, und nachdem ich ihn durchflogen hatte, mußte ich unwillkürlich auflachen. Ich las die Stelle vor, die diese Wirkung auf mich gehabt hatte. »Meine Frau hat ein paar fette junge Hähne eingepackt, davon soll Frieda sich ordentlich stärken, und von mir ist das andere kleinere Paket. Aus dem silbernen Becher, der darin ist, soll euer Wolfgang – warum habt ihr ihm aber so einen schnurrigen Namen gegeben, der gar keine Mode mehr ist – daraus soll er also viele schöne fette Milch trinken, daß er strebig und stämmig wird und ein tüchtiger Jung'.«

Das war nun der vierte Becher, und ich stellte ihn unter dem donnernden Gelächter der Anwesenden zu den übrigen. »Sie wollen deinen Sohn mit Gewalt zu einem Saufbold machen«, sagte Bornemann, dem diese Sache offenbar eine gewaltige Freude bereitete.

Wir hatten die Suppe, den Zander und die Hammelkoteletts mit Gemüse hinter uns, und nun erschien ein Gericht, das Hühnchen zu kühnen Vergleichen mit den schwelgerischen Gastmählern der alten Römer anfeuerte, nämlich Krammetsvögel, die mit den Füßen durch die Augen gespießt und mit Speckschürzchen angetan, stilvoll zugerichtet, bräunlich und schön eine große Schüssel füllten. Alle sahen mit Wohlgefallen auf dieses Gericht, nur Frieda schien mir es mit einer scheuen Ängstlichkeit zu betrachten, was ich auf den Umstand schob, daß sie sich bisher noch nie mit der Zurichtung dieser wohlschmeckenden Tierchen befaßt hatte. »Sehr gut!« sagte Hühnchen, nachdem er den ersten Vogel zerlegt und gekostet hatte. »Vorzüglich!« rief Havelmüller. »De-li-kat!« schmunzelte Bornemann. Doch alle diese schmeichelhaften Urteile reichten nicht hin, Friedas Unruhe zu beseitigen, die immer größer wurde, und es schien mir, als wenn ihre Blicke angstvoll von Teller zu Teller schweiften. Hühnchen war mit dem zweiten Vogel beschäftigt und es herrschte eine Weile Schweigen, nur das geschäftige Klappern der Messer und Gabeln war vernehmlich. Da sagte Hühnchen plötzlich mit einem Ausdruck leichten Schauers vor dem Geheimnisvollen und Unerklärlichen: »Die Wunder der Natur sind doch unerschöpflich. Dies ist nun schon der dritte Magen, der aus diesem Krammetsvogel hervorkommt.«

»Mir dagegen«, sagte Havelmüller, »ist es höchst angenehm aufgefallen, daß der Krammetsvogel, den ich soeben zerlegte, zwar durchaus keinen ungenießbaren Magen, dagegen eine Fülle von delikaten Lebern und zwei Herzen enthielt.«

»Da muß meiner sehr gefräßig gewesen sein«, rief Hühnchen.

»Und meiner sehr gefühlvoll«, sagte Havelmüller. Frieda aber saß da hochrot und mit einem Ausdruck zwischen Weinen und Lachen und rief nun endlich: »Ja, nun ist es heraus! Es ist nämlich ein Unglück geschehen. Lotte hat die Dinger noch niemals zurechtgemacht, und als ich nun heute im Berliner Zimmer mit Tischdecken zu tun hatte, da fiel mir mit einem furchtbaren Schreck ein, daß ich ihr gar nicht gesagt hatte, sie dürften nicht ausgenommen werden. Fast in demselben Augenblick war ich auch schon in der Küche. ›Lotte‹, sagte ich ›sind die Krammetsvögel schon gerupft?‹ ›Jawoll‹, sagte sie ›und ausgenommen hab' ich ihr auch schon‹. Ich dachte, der Boden sollte unter mir wegsinken. ›O Lotte‹, rief ich, ›was hast du gemacht, die dürfen ja nicht ausgenommen werden‹. ›Ja, wo kann ich das wissen‹, sagte Lotte, ›ich hab' das Eingetüm da all in die Schal' gemacht‹. Das war ein Hoffnungsstrahl. Ich holte zwei Teelöffel und nun saßen wir und füllten das ›Eingetüm‹ sorgfältig wieder hinein und dachten, es sollte niemand was merken. Zuletzt war noch was übrig, das haben wir verteilt, wo Platz war. Zuletzt banden wir sauber die kleinen Speckschürzchen darüber und gaben uns den schönsten Hoffnungen hin. Aber Papa ist zu schlau, der läßt sich nichts vormachen.«

»Anatomische Kenntnisse, mein Kind!« sagte Hühnchen und schmunzelte pfiffig dazu.

Frieda war aber noch immer dem Weinen nahe und bat nun in rührend kindlichem Ton: »Nicht wahr, es schadet doch nicht so sehr, es ist doch nicht so unverzeihlich schlimm.«

Ich nickte ihr freundlich zu, und während Hühnchen und Lore sie von beiden Seiten streichelten, legte Bornemann seine mächtige Hand auf die Stelle seines ungeheuren Vorhemdes, wo er sein Herz vermutete, und strahlte voller Wohlwollen auf sie hin. Havelmüller aber sagte: »Sie haben die Anziehungskraft dieses an und für sich schon köstlichen Gerichtes nur vermehrt, indem Sie ihm durch das eingeschlagene Verfahren alle Reize des Glückspiels verliehen haben. Wäre ich ein Kochbuchschreiber, so würde ich diese Zubereitungweise unter dem Namen Krammetsvögel à la Lotto in mein Werk aufnehmen.«

Diese Wendung, die Havelmüller der Sache zu geben verstand, ward mit Zustimmung begrüßt und wir alle priesen den Geist unseres Freundes, der es so geschickt verstanden hatte, die Nessel des Irrenden in den Lorbeer des Erfinders zu verwandeln.


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