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Iben Kars saß neben dem Pastor. Sie besprachen den Bau eines Konfirmandensaales. Der alte Raum war eigentlich nichts anderes als eine Scheune, in die einige rohe Bänke gestellt waren. Bei anhaltendem schlechten Wetter regnete es sogar durch.

Pastor Lorentz hatte Iben Kars für den Neubau schon gewonnen. Er wußte, daß dieser Vorschlag nun so gut wie angenommen war. Die anderen Mitglieder des Gemeinderates tranken und redeten durcheinander. Sie warteten auf Lüßmann, der in diesem Falle als Sachverständiger galt.

Endlich kam er. Iben Kars warf ihm ein heftiges Wort hin. Er hatte es nicht nötig, auf den Tischler zu warten. Auch die anderen nicht. Ein bestellter Mann hat pünktlich zu sein. So herrschte von Anfang an eine gereizte Stimmung.

Lüßmann hatte bei Dan Lebbers gesessen und Bier getrunken. »Da muß solch Seemann kommen, was, und den Weibern den Kopf verdrehen. Hättest es sehen sollen, Lebbers, wie er sich da auf dem Seehof breit macht. Den Zaun baut er neu, und das Mädchen ist um ihn herum wie die Katze um die Milch. Na, und Frau Drees? ›Er kann's ebensogut!‹ hat sie gesagt. Was denn? Was kann er denn?«

Dan Lebbers lachte breit. »Was wohl? Was kann ein Kars? Da mußt du dich bei dem Alten erkundigen. ›Er kann's ebensogut!‹ hat sie gesagt. Das ist ein Witz! Verstehst du? das ist ein Witz.«

Und Dan Lebbers lachte.

Lüßmann erregte sich immer mehr. »Dazu muß ein Seemann kommen! Natürlich, paß auf, sie laufen ihm nach. Das kriegen sie fertig. Ich sage bloß, ›da gibt's wohl bald 'ne Verlobung in der Verwandtschaft‹. Wie man sich so erkundigt, – und Lisa bekommt gleich einen roten Kopf. Was sagst du dazu, Lebbers?«

Dan Lebbers schlitterte vor Vergnügen. Er beugte sich zu Lüßmann und sagte ihm laut ins Ohr: »Der kriegt's fertig, seinem Onkel ins Bett zu steigen. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben! Warte ab.«

Wenn Dan Lebbers sich ausschüttete vor Lachen, kam er leicht ins Husten. Es war ein gewaltiger Husten, der den Mund weit aufriß, die Nasenlöcher blähte und die Augen zublies. Lüßmann sah ohne Bewegung auf diesen großen, offenen Mund, darin es wie in einer unheimlichen Höhle fauchte, gurgelte, krächzte und stöhnte. Es dauerte lange, bis Dan Lebbers wieder zu sich kam. Dann sagte er, noch erschöpft von der Anstrengung: »Dem alten Kars gönn ich es. Nicht für einen Dreier kauft er hier.«

Lüßmann erhob sich. Er hatte mehrere Schnäpse getrunken. Nun rief er:

»Man muß ihnen einmal ordentlich auf den Kopf geben!«

Als er aus dem Laden trat, blieb er plötzlich stehen und sah gespannt nach dem Nachbarhaus. Er schob sich vorsichtig in das Dunkel von Dan Lebbers' Torbogen. Er hörte Christians Ruf: »Lisa!«

›Sie brauchen mich nicht zu sehen‹, dachte Lüßmann, und ging durch den Torbogen an dem Tanzsaal vorbei über den Hof davon.

Nun saß er neben Iben Kars. Pastor Lorentz hatte eine kleine Zeichnung von dem geplanten Konfirmandensaal angefertigt.

»Fast so groß wie der Tanzsaal«, sagte Lüßmann.

Iben Kars ärgerte sich über diesen Vergleich. »Das sitzt bei euch alles auf einem Brett«, sagte er vorwurfsvoll.

»Besser als wenn es tanzt«, antwortete Lüßmann.

Iben Kars, gewohnt, mit Hochachtung behandelt zu werden, wurde zornig.

»Du kannst dein Maul zügeln«, fuhr er ihn an.

Lüßmann wurde bedenklich. Er hatte Lisa gesehen. Sie ist eine junge Frau. Warum soll sie nicht einmal mit einem Verwandten tanzen gehen. Es wird schon so sein, sie wird Christian abgeholt haben. Was ist dabei? Womöglich weiß es Iben Kars überhaupt. Lüßmann fürchtet, zuviel gesagt zu haben. »Besser als wenn es tanzt«, hatte er geantwortet. Nun will er den Alten nicht weiter in Harnisch bringen. Der Mut der fünf Schnäpse ist verflogen. Er sagt einlenkend:

»Es bleibt in der Verwandtschaft.«

»Was soll das heißen?« begehrt Iben Kars auf.

Die andern horchen verwundert auf den Wortwechsel. Sie bedeuten den Tischler mit Blicken stille zu sein.

»Was soll das heißen?« schrie Iben Kars noch einmal. Pastor Lorentz wollte ihn beruhigen.

»Er soll mir antworten, darauf besteh ich«, rief Iben Kars.

Lüßmann zögerte. »Es ist ja schon gut«, sagte er.

»Du willst was wissen«, sagte Iben Kars hartnäckig. »Nun sollst du es auch sagen. Entweder kommt man ins Haus oder bleibt draußen. Man bleibt nicht in der Türe stehen.«

Pastor Lorentz wandte alle guten Worte auf, um Iben Kars zu besänftigen. Aber es gelang ihm nicht.

»Dann sag's ihm schon«, seufzte er.

Lüßmann stand auf. Er wollte gehen.

Iben Kars brüllte ihn an: »Keinen Schritt! Hier vor allen sagst du es, Feigling!«

Lüßmann zuckte zusammen. Er stützte sich auf die geballten Fäuste. Er zitterte vor Aufregung. ›Feigling‹, hatte eben Iben Kars gesagt. Lüßmann duckte sich. Er stand wie zum Sprung. Er schrie nur ein Wort.

»Hahnrei!« schrie er.

Iben Kars erhob sich langsam. Er ließ keinen Blick von Lüßmann. Er stand dicht vor ihm und sah ihm in die Augen. Dann spuckte er weit aus, nahm seinen Hut und ging.

Die anderen drangen mit Vorwürfen auf Lüßmann ein.

»Ich hab sie gesehen«, verteidigte er sich, »sie hatte sich gegen die Mauer gedrückt, aber ich hab sie deutlich bemerkt.«

Lüßmann schlug auf den Tisch. »Feigling, hat er gesagt, Feigling.«

Pastor Lorentz rückte erschrocken mit dem Stuhl. Auch die anderen starrten schweigend auf Lüßmann.

»Jawohl«, schrie der, »ein sauberer Neffe!«

Dann sprang er auf und lief hinaus.

Im Saal bei Dan Lebbers tanzte man.

Wenn Bolk die Geige spielt, achtet man nicht viel auf die Tür. Man hat nicht gesehen, daß der alte Kars gekommen ist.

In einer Nische an der Wand steht er und mustert die Tanzenden. Da ist keiner, den sein Blick ausläßt. Auch die an den Tischen sitzen, prüft er. Es ist keine Erregung in seinem Blick. Jedes Gesicht betrachtet er, wie er die Tiere betrachtet, die er kauft oder zum Verkauf bringt.

Weil er nicht das findet, was er nach Lüßmanns Andeutung finden soll, tritt er einige Schritte vor. Er schiebt auch Tanzende beiseite, um die Leute hinter dem Pfeiler zu sehen.

Nun haben sie ihn bemerkt, und der Tanz stockt. Man hat ihm Platz gemacht, man ist beiseite getreten.

Bolk hat die Geige sinken lassen, der Tanz ist zu Ende.

Iben Kars geht mit langsamen Schritten durch den Saal. Kein Fleck entgeht ihm.

In den Augen der Leute ist eine große Verwunderung.

Auf einmal sieht Iben Kars, daß ein junger Knecht grinst. Es ist eine dumme grinsende Neugier, aber der Alte deutet es anders. Je fester er den Knecht ins Auge faßt, um so breiter wird dessen Grinsen. Iben Kars will auf ihn zugehen, er will ihm dieses Grinsen zerschlagen. Aber er besinnt sich, steht da und sieht sich um. Plötzlich deucht ihm, als grinsten sie alle. Ein blödes grinsendes Wissen scheint es ihm.

Da dreht sich der Alte um und geht auf Bolk zu. Der Schmied hat die Geige auf den Tisch gelegt. Den Bogen hält er noch in der Hand. Was hier im Saale vor sich geht, will ihm nicht recht in den Kopf.

Nun steht Iben Kars vor ihm und nimmt ihm den Bogen aus der Hand.

Der Schmied läßt ihm den Bogen ohne Widerstand. So verwundert ist er.

Iben Kars hält den Bogen und wendet sich zu den Leuten, die tanzen wollen. Zu den Knechten wendet er sich. Sie starren ihn an, da ist kein Grinsen mehr.

Iben Kars hält den Bogen in beiden Händen. Er bricht den Bogen entzwei. Nun muß die Geige still sein.

Er wirft den Bogen in den Saal, greift in die Tasche, Geld klimpert in seiner Hand. Er wirft die harten Geldstücke hin, klingelnd rollen sie durch den Saal.

Dann ist Iben Kars gegangen.

Zwischen den Leuten, die tanzen wollen, liegt der zerbrochene Bogen. Es hat keiner gewagt, sich nach dem Geld zu bücken. Das Geld liegt irgendwo unter den Tischen.

Bolk, dem Schmied, hat es die Worte zerschlagen. Endlich faßt er sich, nimmt die Geige und ruft:

»Der Tanz ist aus!«

Über den zerbrochenen Bogen hinweg geht er aus dem Saal.

In diesem Winter war kein Tanz mehr in Sureiken. Dan Lebbers beschwor zwar den Schmied, einen neuen Geigenbogen zu besorgen. Er erbot sich selbst, in die Stadt zu fahren. Aber der Schmied lehnte es ab.

*

Welches Gesicht tragen jetzt die Tage, diese Tage, die grau aus den Nebeln des Sees aussteigen, kurze eintönige Stunden haben und über den fahlen Bäumen der Landstraße versinken wie dichtes Gewölk.

»Man kriegt's mit der Angst«, sagt Frau Dahl manchmal. Öfter noch denkt sie es. Seit Jahren pflegt sie in diesen Wochen sich täglich auf dem Chausseehof einzustellen. Die Feldarbeit ist getan, man kann an das Häusliche denken. Da gibt es vielerlei, Kleidung und Wäsche, was im Laufe des Sommers zu schaden kam, beiseite gelegt wurde und nun wieder hergestellt werden kann. Frau Dahl versteht sich auf Weißnähen und etwas auch auf Schneider». Nun kann sie diese Handfertigkeiten auf dem Chausseehof anbringen. Sie hat ihr Essen frei und ein wenig Geld obendrein.

Früher saß man über dieser Arbeit und schwatzte. Man ließ den Sommer in seinen Gesprächen wieder aufleben, seine Heiterkeit und seine Zerstreuung. Man erinnerte sich der Gäste, die in Sureiken frohe Tage verbracht hatten, man stellte jedes kleine Erlebnis wieder in das winterliche Lampenlicht.

Dieses Mal aber ist die Arbeit wortkarg. Man wagt kaum, den Blick zu heben. Am sichersten fühlt man sich tief über die Nadel gebeugt. Immer ist es, als läge ein Gewitter in Sureiken, das irgendwo zur Entladung kommen will.

Es sind viele Andeutungen gemacht worden. Als Frau Dahl die Geschichte von dem zerbrochenen Geigenbogen hörte, hatte sie voller Schrecknis aufgeschrien. Sie fürchtete, daß sich nun eine große Entsetzlichkeit vorbereiten würde. Aber die Tage waren gleichmäßig weitergegangen, doch schien ein Gespenst heraufbeschworen zu sein, das hechelnd durch das Dorf lief. Es wagte sich nicht auf die offene Straße, aber es verstand, durch Wände und verschlossene Türen zu huschen, nirgends greifbar und doch überall. Frau Dahl war eine gute Frau. In einem Hause mit Strohdach und blauen Wänden, dicht an der Straße, wohnte sie mit ihrer achtjährigen Tochter.

Hanni war ein zartes Kind, das ein wenig hinkte. Trotz dieses Leidens war Hanni flink und half überall, wo ihre kleinen Kräfte es zuließen.

Vor Jahren war ein breiter Müllergesell auf der Wanderschaft in Sureiken hängengeblieben. Hermann Dahl hatte er geheißen. Das war Hannis Vater. Er hatte Arbeit bei dem Müller Wieling gefunden, und dann, als er sich mit seinem Meister überwarf, hatte er sich selbständig gemacht. Ohne viel Fragen bemächtigte er sich eines alten Backofens und begann nach eigenem Rezept Brot zu backen. Es war ein festes, etwas trockenes Brot, das den Leuten in Sureiken mundete. So fand er täglich seinen Verdienst. Er zog zu Frau Dahl, die damals noch Johanne Schwartz hieß und sich mit allerlei Handfertigkeiten ernährte. Dann gab es sich, daß sie wie Mann und Frau lebten. Sie kamen nie auf die Idee zu heiraten. Johanne fragte niemals danach, und er sagte nichts. Wenn er von ihr sprach, sagte er »meine Frau«, und so geschah es, daß aus dem Fräulein Johanne Schwartz Frau Dahl wurde. Das Land hat sein eigenes Gesetz.

Als sie damals das Kind erwarteten, war der Mann davon überzeugt, daß es ein tüchtiger Junge werden würde. Doch wurde es ein kleines zierliches Mädchen. Darüber war der breite Bäcker Dahl immer wieder von neuem verwundert. Aus dieser Verwunderung wuchs eine große Zärtlichkeit für das schwache Geschöpf. Als sich dann herausstellte, daß die Kleine zeitlebens hinken würde, ergriff ihn eine rührende Liebe zu dem Kind. Er, der starke Mann, der nicht viel nach Recht und Unrecht fragte, mochte es am liebsten auf den Händen tragen.

»So zierlich ist sie«, sagte er oft voll Staunen.

Er arbeitete mehr als früher. Er legte Pfennig um Pfennig zurück, und weil ihm dieses Sparen zu langwierig erschien, kaufte er eines Tages eine Anzahl Lotterielose. Er hatte Glück und gewann so viel, um das kleine Haus an der Straße zu kaufen. Allerdings reichte das Geld nur für das Haus und nicht mehr für den Streifen Land davor. Wenn sie über die Schwelle traten, standen sie schon auf fremdem Besitz.

Dieses Haus ließ er durch einen Rechtsanwalt in Thorde seiner Tochter überschreiben. Als er die Zustellung des Gerichts bekam, war er außer sich vor Freude. Mit den großen Händen, daran noch Mehl und Teig saß, hob er Hanni in die Höhe und drehte sich mit ihr durch das Zimmer, daß Frau Dahl erschrocken dazwischen fuhr.

Das ist seine letzte Freude gewesen. Bald darauf warf ihn eine plötzliche Krankheit um.

Frau Dahl konnte es nicht fassen. Eine Zeitlang waren ihre Sinne verwirrt. Aber das Leben ist mächtiger als Trauer oder Jubel. Gleichmäßig geht es weiter und streicht beides fort.

So beruhigte sich auch Frau Dahl wieder und ging wie früher ihrem Broterwerb nach. Sie war glücklich, das Kind zu haben. Sie wußte nun, wofür sie arbeitete.

Frau Dahl kannte das Leben und hatte ihre eigene Auslegung. Es gab nichts, das ihr fremd gewesen wäre, nicht etwa so, daß ihr Verstand für alles eine Auslegung gefunden hätte. Nein, es gab vieles, was Frau Dahl nicht begriff. Aber sie suchte alles in ihrem guten Herzen unterzubringen. Wenn sie eine böse Nachrede über andere hörte, schmerzte es sie, und sie glaubte, jedes bösen Mundes wegen sich schämen zu müssen.

Nun saß sie schon vormittags gebeugt über zerschnittener Leinewand in der Stube aus dem Chausseehof. Oft ging ihr Blick zu Lisa, die stillschweigend ihr gegenüber saß.

Frau Dahl wartete oft, daß Lisa etwas sagen würde, doch der Mund blieb verschlossen, und Frau Dahl fragte nicht.

Manchmal kam Iben Kars in die Stube, stellte sich an den Tisch und betrachtete ihre Arbeit. Einmal hob er so ein Hemdchen, das nicht viel größer war als seine Hand, gegen das Licht.

Da stand nun ein starker alter Mann mit so einer Zierlichkeit in den Fingern für ein noch nicht Geborenes.

Frau Dahl mußte an ihren Mann, an den breiten Müllergesellen Hermann Dahl denken, und all die wunderliche Freude, die er um so ein Ding gehabt hatte. Da blickte sie auf und wagte Iben Kars anzusehen. Es war viel Nachdenkliches in seinem Gesicht.

Frau Dahl wollte ein gutes Wort sagen, doch Iben Kars hatte das Hemdchen aus den Tisch geworfen und ging schon hinaus.

Man merkte Lisa nichts an. Ihr Gesicht blieb still.

Seit jenem Abend, wo Iben Kars Lisa auf dem Tanzboden gesucht hatte, war ihr Gesicht stumm geworden.

In jener Nacht ging der Bauer in großer Bedachtsamkeit nach Hause.

Schwatzhafte Augen sind im Dunkel und neugierige Münder. Unsichtbar sind sie, und man kann ihnen nicht zu Leibe rücken. Am Morgen jedoch ist jedes Haus von ihren bösen Worten voll. Man muß langsam und mit Bedacht hinschreiten, wenn man weiß, daß sie einem aufpassen wollen. Bis zum Hoftor haben sie ihr nächtiges Gebiet. Dahinter ist die eigene Schwelle.

Bis zum Hoftor geht Iben Kars, wie es seine Gewohnheit ist. Sein Schritt ist nicht anders, als ginge er zu einer Gemeindesitzung oder zu einer Arbeit auf dem Felde.

Am Hoftor bleibt er stehen, sieht sich um und sieht in die große Dunkelheit. Dann wendet er sich und geht. Aber sein Schritt ist jetzt hart und kurz. Härter und kürzer als sonst. Das ist ein jäher Antrieb, jäh und rücksichtslos. Er knallt die Tür ins Schloß. Er steht im Haus.

Er steht vor der Tür zur Stube. Was wird er tun, wenn Lisa nicht da ist? Er reißt die Türe auf, er sieht Lisa im Bett liegen, ihre Augen voll Verwunderung.

Sie denkt: Er wird ärgerlich sein. Irgend etwas ist in der Sitzung nicht nach seinem Kopf gegangen. Manchmal rotten sich die Kleinen zusammen und widersprechen ihm.

Lisa hat sich aufgerichtet und fragt. Sie bekommt keine Antwort.

Iben Kars ist dicht vor ihr Bett getreten und starrt sie an. Er sieht ihr unverwandt in das Gesicht.

Sein Blick ist so starr, daß sie ängstlich wegsieht. Ihr Kopf ist ihm noch zugewandt, nur die Augen hat sie jetzt auf die Decke gerichtet. Es ist ein derbes rotweiß gewürfeltes Bettuch.

Iben Kars lacht kurz. Es kann auch ein Aufhusten sein, es kann auch Zorn sein.

Lisa wagt nicht sich zu bewegen.

Plötzlich ist er bei ihr. Wie ein mächtiger unerbittlicher Feind bricht er auf sie ein. Er hat sich über sie gestürzt, als wollte er in ihr etwas töten, das ihm zuwider ist. So gewaltig ist sein Ausbruch, daß Lisa hilflos aufschreit.

Am nächsten Morgen ist Iben Kars lange vor ihr aufgestanden. Als sie in die Küche tritt, ist er schon über die Felder.

Mittags kommt er zurück. Beim Essen spricht er kein Wort, auch am Abend nicht und nicht am Morgen. Tags darauf stellt ihm Lisa nur das Essen hin. Dabei bleibt es. Sie ißt jetzt früher oder später.

Iben Kars nimmt keine Notiz davon.

Vierzehn Tage lang geht das so.

Inzwischen ist Christian zu Frau Drees auf den Hof am See gezogen. Darüber spricht man in Sureiken, auch Lisa erfährt es und Iben Kars.

Bei dieser Nachricht belauert Iben Kars Lisa um irgendeine Äußerung ihres Gefühls. Doch scheint sie es gleichmütig hinzunehmen.

»Er weiß an den Tisch zu kommen«, sagt Iben Kars geringschätzig.

Lisa widerspricht ihm nicht.

»Ein Vagabund ist er«, sagt Iben Kars, »von der See ist er gekommen und will sich hier breit machen.«

Lisa sagt nichts darauf.

»Hast du mir nichts zu sagen?« schreit Iben Kars wütend.

»Doch«, antwortet Lisa, »aber du willst es wohl nicht hören.«

Sie blickt den Bauer fest an, ihr Blick ist ohne Zorn und ohne Liebe.

»Was willst du mir sagen?« fragt Iben Kars etwas verwirrt.

Lisa blickt über den Hof. Sie stehen beide am Brunnen unter dem leeren Baum.

Ihr Blick umfaßt das Haus, Stall und Scheunen. Langsam in die Runde geht ihr Blick.

Iben Kars wartet auf Antwort. Er läßt ihr Zeit dazu; dieser Blick von ihr scheint ihm Besonderes.

Nun wendet sie sich zu ihm und langsam, als müßte sie jedes Wort weither holen, sagt sie:

»Ich bekomme ein Kind.«

Sie scheint auf keine Antwort zu rechnen. Sie ist schon gegangen.

Iben Kars will ihr nach. Eine ungläubige Freude ist in ihm. In diesem Augenblick denkt er an nichts anderes als an dieses Wunder.

»Lisa«, ruft er über den Hof. Sie hat seinen Ruf nicht gehört.

Sein Mund wird wieder hart.

Er geht über die Felder. Es ist ein schöner Besitz von der Chaussee bis weithin zu der Wielingschen Mühle.

Über den Feldern ist eine rauhe Kälte. Der Winter meldet sich. Durch dieses Kaltwerden geht einsam Iben Kars. Manchmal sagt er leise vor sich hin: »Es wird ein Sohn sein.«

Am nächsten Tage verlangt er, daß Lisa ihren Teller holt. Sie wollen wieder gemeinsam essen wie früher.

Das ist alles. Schweigend nehmen sie ihre Mahlzeiten.

Ein paar Tage darauf bestellt er Frau Dahl. Es wird noch lange Monate dauern, bis man diese Nähereien gebrauchen kann. Aber jetzt sind die stillen Wochen. Später ist wieder viel zu tun.

Nun sitzt Frau Dahl schon tagelang und näht. Manchmal seufzt sie: »Ach Gott«, und tut, als habe sie sich in den Finger gestochen. Es soll keiner erraten, wie bedrückt sie ist über Lisas Augen, die ohne Freude über all diese Arbeiten hingehen.

›Wenn sie doch sprechen möchte‹, denkt Frau Dahl. ›Sie müßte sich alles von der Seele reden.‹

Sie blickt Lisa aufmunternd an, aber die Frau schweigt nach wie vor.

Eines Tages kann Frau Dahl nicht an sich halten und sagt:

»Das wird eine Freude sein, wenn er erst darin herumstrampelt.« Sie hält eine Windel hoch, der sie aus rotem Zwirn einen Saum gegeben hat.

Diese Worte machen Lisa kopflos. Sie kann sich nicht mehr beherrschen, sie wirft den Kopf in die Hände und weint. Über den Tisch liegt sie. So wild sind ihre Tränen, daß ihr Rücken bebt, und daß Frau Dahl, die mit sanftem Streicheln sie beruhigen will, angstvoll fühlt, wie ihre streichelnde Hand auf und ab springt unter dem jähen Schmerz der anderen.

Nun findet Lisa auch Worte. Wie gehetztes Wild jagen diese Worte hin.

»Was ist das für ein Leben«, schreit Lisa. »Ich halte das nicht mehr aus!«

Ihr ganzes Unglück schreit sie hinaus.

Frau Dahl wehrt erschrocken. Sie blickt furchtsam nach der Tür, als könnte Iben Kars jeden Augenblick eintreten. Sie bedeutet Lisa, leiser zu sprechen. Sie macht ihr verlegene Zeichen.

Sie will sagen: »Das weiß ich ja alles«, aber Lisa läßt sie nicht zu Worte kommen.

»Alles wißt ihr!« ruft Lisa, »jawohl, alles wollt ihr wissen. Den ganzen Tag ist es ein Getratsch. Was noch nicht entzwei ist, macht ihr kaputt!«

Nun weint auch Frau Dahl. Sie ist eine gute Frau, die nie einem Menschen ein Wörtchen Schlechtes angehängt hat. Nun muß sie für das Geschwätz der anderen herhalten. Lisa fährt mit ihren Anklagen gegen sie, als wäre Frau Dahl das Dorf.

»Das ist ein Unrecht«, jammert Frau Dahl.

Lisa kommt zur Besinnung. »Du kannst nichts dafür«, sagt sie, »du nicht. Nein, du nicht, das weiß ich.«

Frau Dahl trocknet ihre Tränen. Sie greift wieder nach der Leinewand. Eine letzte Träne fällt darauf. Über diese letzte niederfallende Träne ist Frau Dahl so gerührt, daß sie wieder zu weinen beginnt.

Da wird nun alles für den Empfang eines neuen Menschenkindes bereitet, und noch eh ihm das erste Lallen vergönnt ist, sind schon Not und Herzeleid um ihn.

Lisa ist aufgesprungen und läuft durch das Zimmer.

»Keine ruhige Minute hab ich mehr, so aufgeregt bin ich. Du siehst es mir nicht an, das ist alles bloß Schein, aber hier innen, ach Gott, hier innen.«

»In deinem Zustand ist das oft so«, sagt Frau Dahl, »nach der ersten Zeit gibt es sich. Da war hier die junge Frau von einem Sommergast, Frau Macke hieß sie, oder Frau Matthes, ich weiß es nicht genau. Richtig, sie hieß wohl Macke. Die ist ihrem Mann davongelaufen. Einen ganzen Tag war sie fort. Überall hat man sie gesucht, weil man dachte, sie wäre ins Wasser gegangen. Am nächsten Tag kam sie von selbst wieder. Sie war einfach einen Tag fort. In deinem Zustand kommt das schon vor.«

»Ich laufe auch weg«, schreit Lisa.

»Willst du dem Kind das Bett nehmen?« fragt Frau Dahl erschrocken.

»Das Kind?« wiederholt Lisa und besinnt sich. »Ja, das Kind«, sagt sie und fügt nach einem Weilchen hinzu: »Hierher gehört's. Ich will es.«

Sie sagt das mit so ruhiger Bestimmtheit, daß Frau Dahl die Tränen, die sie noch in den Augen hat, fortwischt und ihr zunickt.

Lisa hat sich wieder an den Tisch gesetzt. Das Vorhergegangene scheint sie vergessen zu haben. Bis in den Abend hinein nähen sie gemeinsam. In friedlichem Gleichmut bewegen sich die Nadeln.

*

Eines Tages ist Christian nach Thorde gefahren. Emilie hat Geburtstag, und er will ihr ein Geschenk besorgen. Auch für Frau Drees kauft er eine Kleinigkeit, und da ihm in dem Kaufladen Lisa in Gedanken kommt, ersteht er für sie ein Tuch. Er weiß nicht, wie er es ihr geben soll, doch hofft er, daß sich eine Gelegenheit findet.

Als er in einen Gasthof in Thorde einkehrt, trifft er Dan Lebbers.

Christian ist lange nicht in der Wirtschaft des Kaufmanns gewesen. Seitdem er auf dem Hof am See sein Zimmer hat, geht er abends kaum noch aus. Er tut es schon nicht des Geredes wegen, das über ihn in Sureiken umlief.

Als er jetzt Dan Lebbers in der Gaststube sieht, möchte er am liebsten wieder hinausgehen, aber er will nicht als Flüchtling erscheinen und setzt sich. Dan Lebbers hat ihn sofort bemerkt. Er tut, als wäre noch die alte Freundschaft zwischen ihnen, hebt sein Glas und trinkt ihm zu. Er nimmt auch die Mappe, die auf dem Stuhl neben ihm liegt, und bedeutet Christian, dort Platz zu nehmen. Christian tut es. Die Einkäufe in Thorde haben ihn auf andere Gedanken gebracht. Er hat sich an den Auslagen in den Schaufenstern erfreut, hat zwischen den Männern und den Frauen an dem Markt gestanden, vor allem aber hatte er in dem kleinen Hafen in Thorde die Fahrzeuge betrachtet, die mit rüstigem Segelzeug zur Fahrt sich bereit machten. Er war mit einem Schiffer ins Gespräch gekommen, hatte sich von dem letzten Wetter erzählen lassen, und war dann weiter geschlendert bis zu der Stelle, von der aus man den Leuchtturm sehen konnte.

Das alles waren für ihn Erlebnisse geworden, wie man sie auf großen Reisen hat, denn er war seit langer Zeit nicht mehr ans Sureiken herausgekommen. Ja, diese Eindrücke hatten ihn das Dorf fast vergessen lassen, und als er nun neben Dan Lebbers saß, wurde er neugierig aus die kleinen Geschehnisse, deren Berichterstattung der andere mit aufgebauschten Worten immer parat hatte.

Zwischendurch sagte Dan Lebbers:

»Es ist schade, daß du das alles aufgegeben hast.«

Christian zuckte die Achseln:

»Ich kann den Bauern nichts aufschwatzen. Was hat es für Zweck, Agent für eine Fabrik zu sein, wenn man in all der Zeit nicht eine einzige Maschine unterbringt.«

Dan Lebbers widersprach.

»Ausdauer«, sagte er, »Ausdauer und Zähigkeit, verstehst du? Wozu hat der liebe Gott einem die Sprache gegeben? Immer reden! Viele Worte kriegen den dicksten Kopf mürbe. Man muß bloß tun, als glaubte man das, was man schwatzt. Nein nein, du hast zu früh die Flinte ins Korn geworfen.«

»Von dem Eierhandel könnt ich nicht leben«, sagte Christian.

»Das war ja auch bloß ein Vorwand, der Handel. Du hast das bloß nicht begriffen«, antwortete Dan Lebbers. »Mit 'ner Stiege Eier kommst du nie auf 'nen grünen Zweig. Das ist klar. Aber durch solchen Handel wurdest du mit den Bauern bekannt. Da liegt nämlich der Hase. Sie müssen erst mal Vertrauen fassen. Und so nebenbei erzählst du, verstehst du, von deinen Maschinen. ›Da habe ich noch so was in petto, Bauer, eine feine Sache, ein raffiniertes Ding, das drischt das Korn von selbst.‹ Na, und so weiter. Du hätt'st ihnen das Maul wässrig machen müssen. Na ja, das alles will natürlich gelernt sein. Da kann ein anderer nichts zu sagen. Aber deswegen keine Feindschaft. Du könntest dich schon mal wieder bei uns sehen lassen.«

Christian versprach es zögernd. Dan Lebbers unterbrach ihn:

»Nicht so zaghaft, Junge, ich weiß schon, woran es liegt. Man hat allerhand in Sureiken geschwatzt. Na schön, das geht uns nichts an. Man braucht sich nicht darum zu kümmern. Was kannst du dafür, wenn der Onkel die Geige kaputt schlägt. Lüßmann ist ein Waschweib. So was mußt du dir gar nicht zu Herzen nehmen.«

Dan Lebbers schlug plötzlich Christian auf die Schulter und lachte:

»Aber das muß ich sagen, du bist schon so ein Heimlicher. Du verstehst es bei den Frauen an die Suppe zu kommen, alle Achtung! Du denkst auch, lieber die Tante mit 'nem Taler, als die Nichte mit nichts. Nun, sie ist ja auch noch sehr reputierlich, die Frau Drees. Da wird der alte Kars schöne Augen machen. Er ist auch mal bei ihr umgegangen.«

Man merkte jetzt deutlich das viele Bier, das Dan Lebbers getrunken hatte. Er sprach mit schallender Stimme und sah vergnügt auf die Umsitzenden. Es waren Leute, die Christian nicht kannte und deren Mienen man anmerkte, daß sie aus den Worten des Dan Lebbers nicht klug wurden. Aber sie lachten trotzdem. Es ist gut, wenn man beim Bier guter Laune bleibt.

Christian ärgerte sich über das Geschwätz. Da er es aber nicht auf einen Zank ankommen lassen wollte, entgegnete er nichts, doch stellte er den Absatz seines Schuhes so hart auf Dan Lebbers Fuß, daß der Kaufmann zusammenzuckte. Er starrte sprachlos in Christians lachendes Gesicht. Er spürte deutlich, daß es kein freundliches Lachen war. So lenkte er ein und sagte:

»Also bleibt's beim alten!«

Er wollte Christian zutrinken, aber der übersah das.

»Nun wird's ganz verrückt«, brummelte Dan Lebbers. Er kratzte sich verlegen am Ohr, verabschiedete sich auch bald und meinte:

»Du hast wohl doch noch in Thorde zu tun, Christian, aber laß dich mal wieder sehen.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, antwortete Christian.

Dan Lebbers sah ihn fragend an. »Na na«, meinte er etwas besorgt und ging. Christian lachte hinter ihm her.

Christian Kars kam mit seinen Geschenken nach Sureiken zurück. Er legte sie bis zum Sonntag beiseite. Dann war Emiliens Geburtstag.

Er bewohnte eine Stube, die nach dem See hinausging. Es war ein kleines Zimmer, aber man konnte sich darin behaglich fühlen. Emilie hatte für allerlei kleine Bequemlichkeiten gesorgt.

Als er das Zimmer bezog, fand er diese Dinge vor. Stillschweigend hatte sie alles eingerichtet. Er erkannte es dankbar an, denn das Zimmer war, als es ihm von Frau Drees vor dem Einzüge gezeigt wurde, kahl und ungemütlich gewesen. Er glaubte, Emiliens Sorgfalt herauszufühlen, mußte aber eine Ablehnung erfahren, als er ihr für diese Anzeichen ihrer Liebe danken wollte.

Sie war gekränkt, daß er sie an jenem Sonnabend hatte warten lassen, daß sie vergebens an das dunkle Fenster geklopft hatte, und daß er ihr am nächsten Tage mit einer leeren Ausrede gekommen war.

»Eine ganze Stunde habe ich bei Dan Lebbers gewartet. Jeden Tanz habe ich ausgeschlagen«, sagte sie, »nachher bin ich gegangen.«

»Du mußt das verstehen«, antwortete er, »es handelte sich um eine Maschine. Der Bauer ließ mich nicht aus mit seiner Fragerei, ich saß wie auf Kohlen. Ich hab dann bei Lebbers noch reingesehen. Du warst nicht da, es war auch schon spät.«

Er war gleich früh morgens zu Emilie gegangen und hatte noch nichts von dem zerbrochenen Bogen gehört. Das erfuhr er erst am Nachmittag. Er erschrak darüber und wußte nicht, wie er sich nun Emilie gegenüber verhalten sollte. Er fürchtete sich vor ihrer Frage. Aber sie überging das alles. Sie wollte dem Gerücht nicht glauben, und doch konnte sie sich vor all den hämischen Worten nicht verschließen.

Lüßmanns Andeutungen, die heimlich von Mund zu Mund gingen, entsetzten sie. Später gab man zu, daß weder Lisa noch Christian in dem Tanzsaal gewesen wären. Doch waren nun einmal Zweifel in ihr aufgetaucht, und so konnte auch diese Feststellung sie nicht beruhigen.

Früher würde sie geglaubt haben, daß Christian ihretwegen auf den Hof am See gezogen war. Jetzt sah ihr Zweifel eine kluge Berechnung darin. Sie stellte sich vor, daß Christian durch diesen Wechsel jede Gemeinschaft zu Lisa ableugnen wollte. So dachte Emilie oft. Dann wieder waren Stunden, in denen sie sich dieses Unglaubens wegen Vorwürfe machte, Christian vor ihrem Herzen verteidigte und es voll Glück empfunden haben würde, wenn ihre Liebe ihn von jedem Verdacht freigesprochen hätte.

Nach solchen Augenblicken kam sie Christian freundlicher entgegen, ließ es auch zu, daß er ihre Hand drückte oder um einen Kuß bat, doch wenn er dann in Aufwallung seines Gefühles die Geliebte an sich ziehen wollte, konnte sie sich oft unsanft losreißen und weinend davonstürzen. Er blieb betroffen zurück und wußte nicht, mit welchem guten Wort er sich ihr wieder nähern sollte.

So war diese Liebe, die ihn nur allzu kurz hatte glücklich sein lassen, in einen unausgesprochenen Zwiespalt verkehrt worden, der ihn im gleichen Grade wie Emilie quälte.

Manchmal dachte er wohl, daß ein offenes Wort alles in einen guten Weg einmünden lassen könnte, doch scheute er sich vor dem Mädchen über Lisa zu sprechen, wohl weil er sich mit Recht sagte, daß ihre Jugend nicht dem besonderen Maß gerecht werden könnte, mit dem Lisas härteres Los bemessen werden mußte. Das allein war es wohl auch nicht. Er fürchtete, für seine eigene Handlungsweise nicht das rechte Wort zu finden. Darüber hinaus konnte er sein Gefühl für Emilie nicht überprüfen. Er spürte, daß ihn zum ersten Male eine große und innige Zärtlichkeit ergriffen hatte. Er sah ein, daß seine Empfindungen Emilie gegenüber tieferen Wurzeln entsprangen, als seine Beziehungen zu den Frauen zuvor. Schon daß er darüber nachdachte, um sich Klarheit zu verschaffen, erschien ihm bedeutsam. Wieweit jedoch diese Hinneigung von Bestand sein würde, darüber wagte er nicht zu entscheiden.

Als Seemann ist er viele Wege der Liebe gegangen. Ungeordnete Pfade find es meistens gewesen. Zum ersten Male will sich hier ein fester Weg ankündigen. Aber noch ist nichts da als diese erste Schau.

Wenn Emilie mit verweinten Augen durch das Haus geht, folgt er mürrisch den Arbeiten, die er freiwillig übernommen hat. Vor seinem guten Wort ist sie geflohen, und so bleibt ihm nichts anderes als eine unzufriedene Miene.

Manch einmal möchte Frau Drees vermittelnd eingreifen. Sie steht, daß die beiden, besonders Emilie, sich quälen. Aber Frau Drees' gutgemeintes Wort ist von plumper Vertraulichkeit und scheint Emilie noch mehr zu beleidigen. So glaubt Frau Drees, daß Christian sich scheinbar im Recht befände, und sie tröstet ihn mit dem Hinweis auf die Launenhaftigkeit junger Mädchen.

»Das ist wie mit dem Frühling«, sagt sie, »heute Sonne, morgen Regen. Mein Gott, man war ja auch mal verliebt. Das kommt alles wieder zur Vernunft.«

Für Emilie hat sie oft Vorwürfe.

»Du wirst ihn wieder aus dem Haus graulen. Ich bin froh, daß er hier wohnt und uns zur Hand geht. Natürlich ist's angenehmer, wenn man für sich allein lebt, aber du weißt genau, daß es mir übel ergangen wäre, wenn er das Geld nicht rausgerückt hätte. Es sind seine ganzen Ersparnisse gewesen. So was muß man anerkennen.«

Frau Drees hatte ihre Zinsen nicht aufbringen können. Auch im Vorjahre war es ihr schwer gefallen, doch hatte damals Iben Kars ihr die Summe zur Verfügung gestellt.

Zu jener Zeit sprach er öfter auf dem Hof am See mit vor. Abends kam er auf ein Stündchen, manchmal auch Sonntags, wie es die Zeit erlaubte. Seine Besuche hatten eine gewisse Umständlichkeit, man konnte mehr darunter vermuten als Zufälliges.

Fran Drees merkte bald, daß Iben Kars in Gedanken mit einer neuen Heirat umging. Warum sollte sie es nicht sein, die er dazu ausersehen hatte? Sie war eine tüchtige Person, die allen Widerwärtigkeiten zum Trotz mit zusammengebissenen Zähnen versuchte, ihren Hof zu halten. Zwar wußte sie nicht für wen, denn ihre beiden Kinder waren kurz nacheinander in frühem Alter gestorben, doch hatte sie nicht die Hoffnung aufgegeben, daß das Leben noch eine Freundlichkeit für sie im Schoß trüge. Wenn sie sich diese auch anders vorgestellt hatte als einen späten Sommer auf dem Chausseehof, so würde sie doch zufrieden gewesen sein, weil sie durch diese Ehe aus allen wirtschaftlichen Nöten herausgekommen wäre.

Iben Kars wußte, daß es mit dem Hof am See nicht zum besten stand, und ohne daß Andeutungen von ihrer Seite notwendig gewesen wären, bot er von sich aus seine Hilfe an. Sie sah darin ein untrügliches Zeichen für seinen Entschluß.

Eines Abends war es dann schon so weit, daß er nach ihrer Familie fragte. Er wußte wohl einiges, auch, daß sie aus einem kleinen Ort hinter Thorde stammte, wo ihr Vater etwas Land gehabt hatte. Nun im Gespräch erfuhr er, daß ihre Mutter bis zur Heirat etwa ein Jahr lang in Sureiken gedient hätte. Sie holte ein Photographiealbum und zeigte ihm ein frühes Bildnis, das ihre Mutter als Braut in Thorde hatte aufnehmen lassen.

Iben Kars trat mit dem Bild näher zum Lampenlicht und betrachtete es. Der Frau Drees, die in dem Album nach einer Photographie ihres Vaters suchte, entging sein jähes Erschrecken. Iben Kars blickte hastig zu ihr hin, legte das Bild auf den Tisch und schob es etwas zittrig über die Decke zu Frau Drees hin. Sie nahm das Bild und sagte:

»Sie soll in der Jugend sehr hübsch gewesen sein. Später kommen Kummer und Sorgen. Aber ich weiß, daß mein Vater immer stolz auf sie gewesen ist. Ulli nannte er sie.«

»Ulli?« wiederholte Iben Kars.

»Ja, sie hieß Ulrike wie meine Großmutter«, antwortete Frau Drees, »ich hätte auch gern so geheißen, aber da war eine Tante, die den Namen für mich hergeben mußte. Man hielt in der Familie viel von ihr, sie war mit einem Kantor verheiratet. Nun heiße ich Milda. Wie das so ist.«

An diesem Abend ging Iben Kars früher als sonst. Er konnte eine Hast nicht unterdrücken. Auf der Schwelle stolperte er und knickte mit dem Fuß um. Er verbiß sich den Schmerz, doch sah Frau Drees, daß er Mühe beim Gehen hatte. Sie wollte ihn stützen und bot ihm ihre Begleitung an, aber er lehnte es ab.

Iben Kars war nicht wieder auf den Hof am See gekommen. Frau Drees konnte es sich nicht erklären und glaubte schließlich, daß der Unfall an der Schwelle schuld daran wäre. Sie wußte, welcher Aberglaube über den Hof am See im Dorfe verbreitet lag.

Als er längere Zeit nicht mit vorbei gekommen war, machte sie sich eines Tages auf und besuchte Iben Kars. Sie fühlte, daß er sie verstohlen betrachtete, sie glaubte auch zuweilen ein Wohlgefallen zu merken, aber seine Worte waren von einer Verlegenheit, die man sonst nicht bei ihm gewohnt war.

Beim Abschied wußte Frau Drees, daß er sich anders entschlossen haben mußte. Sie war eine verständige Frau und hatte längst gelernt, daß es keinen Sinn hatte, nach dem Hasen zu greifen, wenn er schon um die Ecke war. So kehrte sie, wenn auch ärgerlich, aus ihren Hof zurück.

Im Sommer heiratete Iben Kars dann Lisa.

Einmal in dieser Zeit mußte er gehört haben, daß Frau Drees wieder in Sorge gekommen war. Er schickte ihr Geld. Da sie jedoch nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, ließ sie es ihm wieder hintragen.

*


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