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Am nächsten Tage schickt Lisa zu Frau Dahl. Warum sie denn nicht mehr käme? Es wäre doch noch etwas zu tun.

»Das hab ich ganz vergessen«, sagt Frau Dahl, »Fräulein Emita kommt nämlich, die Tänzerin. Nun, das wißt ihr wohl schon. Ja, ich mußte das Zimmer in Ordnung bringen. Ich hatte auch vergessen, daß ich zu Frau Drees kommen sollte.«

»Zu Frau Drees«, fragt Lisa, »was gibt's denn da?«

Ein Dutzend Schürzen wären zu nähen, ein neues Kleid wohl auch. Frau Dahl kann ein Seufzen bei dieser Mitteilung nicht unterdrücken. Was sie gestern abend erlebt hat, liegt ihr noch schwer auf dem Herzen. Sie möchte es einem Menschen anvertrauen. Nun erzählt sie es Lisa. Ab und zu über die Arbeit fort prüft Frau Dahl Lisas Gesicht. Lisa nickt zufrieden. Darüber ist Frau Dahl verwundert. Lisa ist also ganz zufrieden, daß Christian mit Frau Drees nach Thorde fährt.

Etwas später kommt Iben Kars in die Stube. Gott, wie sieht der Mann aus! Er ist doch recht alt, denkt Frau Dahl. Nun ja, wenn die gewohnte Arbeit fehlt, altert der Mensch rasch. Es ist eine faule Zeit, der Winter. Im Frühjahr, wenn es wieder an die Arbeit geht, wird er sich bald erholen. Der Alte ist ein Mann, der in den Sielen bleiben muß. Das ist wie bei einem großen starken Pferd.

»Hast du's gehört?« fragt ihn Lisa.

Iben Kars wird aus dem, was Frau Dahl da erzählt, nicht klug. Nun wiederholt ihm Lisa alles noch einmal. Es ist viel Genugtuung in ihrer Stimme. Da gibt's keinen Zweifel mehr, man wird bald eine Hochzeit haben auf dem Hof am See.

Wie anders Lisa jetzt mit Iben Kars spricht. Vor ein paar Wochen war sie scheu und ängstlich. Hatte sie nicht sogar geweint, als sie mit Frau Dahl zusammen über der Näherei saß? Nun redet sie mit Iben Kars wie mit ihresgleichen. Sie wählt nicht einmal die Worte aus, die sie sagt. Sie spricht so, wie es ihr von Natur aus gegeben ist, derbe und zudringlich. Dazu kommt, daß sie heute einen Triumph nicht unterdrücken kann. Christian scheint also ihre Worte überlegt zu haben und hat nun wohl auch eingesehen, daß ihr Vorschlag die einfachste Lösung war. Es ist immer gut, wenn Männer das beachten, was Frauen in ihrer Schlauheit ihnen nahebringen.

Iben Kars hört sich das alles mit an. Er geht an den Schrank, öffnet ein Schubfach, wühlt darin und schließt es wieder. Er öffnet ein anderes und schließt es.

»Suchst du was?« fragt Lisa.

»Nein«, antwortet Iben Kars. Er sucht nichts in dem Schubfach. Weder in dem einen noch in dem anderen. Er hat sich nur diese Bewegung gemacht, weil er seine Erregung unterdrücken will. Das ist nun der alte Iben Kars. Sinnlos schließt er an dem Schrank herum, anstatt mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Was soll ein Mann tun, der nicht einmal eine Uhr in der Hand zerdrücken kann. Verträglich muß er kommen.

»So«, sagt Iben Kars. Weiter äußert er sich nicht zu Lisas Bericht. »So!«

Er geht hinaus, durch die Diele geht er, durch die andere Stube, durch die Küche. Er geht über den Hof. Man sieht ihm an, daß er viele Gedanken trägt.

»Was hat er?« fragt Frau Dahl besorgt.

»Es wird ihm nicht passen«, lacht Lisa. »Er hat ja selbst einmal bei ihr angeklopft. Nun, danach wird keiner fragen.«

Vielleicht hätt' ich's gar nicht erzählen sollen, denkt Frau Dahl. Was ein Mensch auch alles beachten muß. Überall sind Stricke gespannt und wehe, wenn er den Fuß über einen hinwegsetzt. Frau Dahl ist so verschüchtert, daß sie gar nicht mehr spricht. Auch aus Lisas Fragen antwortet sie nur Einsilbiges. Nicht einmal von Fräulein Emita, der Tänzerin, erzählt sie mehr. Stumm sitzt Frau Dahl am Tisch und näht.

Als sie nach Haus gehen will, trifft sie aus Iben Kars in der Diele. Er hat die dicke Joppe an und es ist viel Kälte um ihn. Er wendet sich zu Frau Dahl:

»Sag ihm, daß nichts daraus wird.«

Frau Dahl blickt nach der Küchentür hin, hinter der sie Lisa weiß. Lisa klappert gleichzeitig mit den Töpfen.

*

Nun sind schon Wochen seit dem Ringkampf in Dan Lebbers Laden vergangen. Man spricht beim Bier noch oft von dem Abend.

»Es ist alles ehrlich zugegangen«, sagt Dan Lebbers, »wir haben nach den Regeln gerungen. – Was verstehst du davon?« sagt er zu Lüßmann.

Es ist so, daß Dan Lebbers ärgerlich ist auf den Tischler. Er macht kein Hehl daraus, daß er sich Christian seit dem Kampf befreundet fühlt.

»So ein Seemann ist eine ehrliche Haut. Man muß ihm auch manches nachsehen. Er ist keiner von den Zaghaften. Es war nicht nötig, daß ihn hier jeder in den Mund nahm.«

Dan Lebbers hätte gern gesehen, wenn Christian öfter gekommen wäre, aber er ließ sich nur selten blicken.

Lüßmann ärgerte sich über Dan Lebbers' Vorwürfe.

»Du machst so, als hätt' ich alles aus der Luft.«

»Beinahe ist es so«, antwortete Dan Lebbers.

»Es gibt bloß Unfrieden«, sagte Patzke, »Dan Lebbers hat recht.«

Lüßmann warf die Türe hinter sich zu.

Er hat sich vorgenommen, Dan Lebbers' Laden nicht wieder zu betreten, aber ein paar Abende darauf ist er wieder da. Obenauf ist er und lacht Dan Lebbers ins Gesicht.

»Sie hat es mir selber gesagt. Was sagst du nun?«

»Was ein Mensch so zusammenschwatzt«, ruft Dan Lebbers.

Es ist gut, daß der Laden leer ist und keiner von dem Gespräch was hört.

»Das hat sie gesagt?« fragt Dan Lebbers ungläubig.

»Das hat sie gesagt«, bestätigt Lüßmann. »Sie hat gesagt, und wenn ich zehnmal bei ihm gewesen wär, hätt'st du nicht das Maul aufzureißen. – Also bist du bei ihm gewesen? hab ich gesagt. – Ja! Damit du's weißt, und nun geh hin und erzähl's den andern!«

Dan Lebbers schüttelt den Kopf. »Wann hat sie denn die Worte gebraucht?«

»Heut vormittag«, antwortet Lüßmann. »Ich war wegen des Stallfensters mit vorbei. Da soll ein neuer Rahmen eingesetzt werden.«

»Wie seid ihr darauf gekommen?« erkundigte sich Dan Lebbers. Er hatte Bier eingegossen und zwei Jagdkorn. Er war atemlos. »Sollte man's glauben?« sagte er immer wieder.

Lüßmann spuckte aus. »So ist sie«, sagte er, »nichts hab ich gesagt. Sie ist gleich über mich hergefallen. Frech angesehen hätt' ich sie. Ich hab's beileibe nicht getan. Schließlich kann ich mir die Augen nicht zubinden. So ist's gekommen. Ich muß sagen, wenn ich's nicht des Alten wegen täte, ich ginge nicht wieder hin.«

Sie setzten sich und tranken. Sie erzählten es sich immer wieder.

»Du hättest sie frech angesehen, da ist sie also gleich über dich hergefallen.« – »So wahr ich hier sitze. Ich hab zuerst kein Wort gesagt. Du hast recht, weshalb soll man sich immer den Mund verbrennen.« – »Das ist ein vernünftiges Wort, Lüßmann. Ich sag dir, Christian ist nicht der Schlechteste.« – »Das glaub ich, Dan Lebbers, glaub ich. Aber sie ist eine Hexe. Ich sage nichts gegen den Kars. Er ist ein Seemann und hat sein eigenes Gewissen.« – »So ist's. Nein, gegen ihn kann man nichts sagen, aber daß sie es so unverhohlen zugibt. Wie kann sie das bloß tun? Was sagt der Alte dazu?« – »Alt geworden ist er, man sieht's ihm an. Er wird wohl nichts sagen.«

»So was! Vor einem halben Jahr noch mochte ich ihm nicht in die Finger geraten sein.« – »Er ist alt geworden, Dan Lebbers, er tut keiner Fliege was.« – »Und was hat sie gesagt? Damit du's weißt, und nun erzähl's den andern. Das ist also möglich.«

Sie sitzen zusammen und trinken. Sie warten wohl auch darauf, daß noch jemand kommt.

Die Türe geht auf und Christian tritt ein. Er beachtet Lüßmann nicht. Nein, er will sich nicht hinsetzen.

»Gib mir eine Flasche Rum«, sagt er zu Dan Lebbers, »guten Jamaika. Wir wollen ihn zu Haus trinken.«

»Rum ist gut. Wenn so feuchtkaltes Wetter ist, gibt es nichts Besseres«, lobt Dan Lebbers. »Ihr wollt euch eine kleine Feier machen. Das kann ich mir denken –«, und er zwinkert mit den Augen.

Lüßmann hat heute mehr getrunken als sonst. Zuerst sitzt er stillschweigend und den Kopf gesenkt vor seinem Glas. Er starrt auf die Tischplatte. Was geht ihn Christian an? Nach und nach steigt ein Ärger in ihm auf. Der Mensch tut so, als wäre man Luft. Dabei hat er genug auf dem Kerbholz. Nicht einmal die Zeit hat er mir geboten, als er hereinkam. Er sollte froh sein, wenn man noch einen Blick für ihn hat. Geht hin und läßt sich einfach mit der Frau ein. Das läuft nun hier herum und hebt die Stirn.

Lüßmann steht auf, steht vor Christian und sagt laut: »Guten Abend!«

Dan Lebbers versucht, ihn mit Blicken zu beruhigen.

»Guten Abend«, sagt Lüßmann laut und läßt Dan Lebbers' Blick unbeachtet.

Christian wendet sich ab und dreht ihm den Rücken zu. Er bemäntelt das nicht einmal. Er dreht sich um und läßt Lüßmann stehen.

»Sie hat es selber gesagt«, schreit Lüßmann plötzlich, »damit du's weißt, so, und nun erzähl's im Dorf!«

Christian blickt Dan Lebbers fragend an. Der Wirt zuckt die Achseln.

»Eine Hexe ist sie, ein Teufel«, schreit Lüßmann. Er hat getrunken, nun kommt der Zorn dazu. Das gibt einen Aufruhr.

Christian hat keinen Blick für ihn. Er fragt Dan Lebbers:

»Wen meint er?«

Dan Lebbers weiß nichts anderes als die Schultern zu schütteln. »Erzähl's im Dorf!« schreit Lüßmann. »Sie hat's selber gesagt. Wen meine ich wohl? Das kannst du dir denken!«

Jetzt starrt Christian ihn an. Das ist ein gefährlicher Blick. Wenn dieser Blick in den Kneipen kam, saß das Messer locker. Christian hat die Hand geballt. Er hebt schon die Faust, aber er besinnt sich und packt Lüßmann in das Genick. Er packt gar nicht so fest hin, aber Lüßmann schwankt.

»Laß mich los!« brüllt er.

Christian reißt mit der anderen Hand die Türe auf und schon ist Lüßmann draußen. Dan Lebbers schmunzelt. Er ist nicht ärgerlich über den kleinen Zwischenfall. So ein Seemann hat Kräfte, das muß man sagen. Er greift bloß einmal zu, und schon liegt der andere draußen. Sie sprechen auch nicht weiter darüber. Christian steckt die Flasche Rum in die Tasche, zahlt und geht. Dan Lebbers kommt mit bis zur Ladentüre, steht in der Türe, dreht den Kopf nach allen Seiten und sagt: »Schlechtes Wetter.« Wenn er einen Kunden, auf den er Wert legt, bis zur Türe begleitet, pflegt er immer in dieser Weise seine Betrachtung über das Wetter zu machen. »Schönes Wetter heute« – oder: »Nun wird's sich wohl ändern« – oder: »Schlechtes Wetter!« Heute also war schlechtes Wetter. Ein häßlicher feuchter Wind, der nicht mit einem spielte, sondern sich wie ein Schrat an einen klammerte. Der Wind hockte einem auf dem Rücken und man mußte ihn nach Hause schleppen.

Dan Lebbers hatte nicht bloß nach dem Wetter ausgesehen. Sein Blick hatte auch die Straße abgestreift, so weit man sie im spärlichen Licht der Laterne übersehen konnte. Lüßmann war nicht mehr da.

Das glaub ich, er ist gleich aus dem Staub und davon. Damit hatte er nicht gerechnet. Ein Griff und draußen! Er wird es sich hinter die Ohren schreiben. Was bringt er auch das Gerede wieder auf. Aber diese Lisa! Sieh einer an: und wenn ich zehnmal bei ihm gewesen wäre – sie macht kein Geheimnis draus. So eine ist sie. An der stößt sich Iben Kars die Hörner ab. Alt soll er geworden sein, das kann man glauben.

Nein, Lüßmann läßt sich nicht sehen. Christian ist in den dunklen Abend verschwunden. Dan Lebbers schließt die Türe, er stellt die Gläser beiseite, blickt aus die Uhr, gähnt, nimmt ein frisches Glas und fängt wieder an zu trinken.

Wo die Dorfstraße zum See abbiegt, um dann hinter dem letzten Hof in die Straße nach Thorde einzumünden, ist ein schmaler Graben. Wenn das Wasser des Sees steigt, wird auch er angefüllt, und die Kinder aus Sureiken spielen dann mit seinem schmalen Wasser. Meistens aber liegt er trocken.

Vor vielen Jahren ist an dieser Stelle dem Tagelöhner Emil Panten, der ein Trunkenbold war und liederlicher Mensch, eines Nachts auf dem Heimwege ein weibliches Gespenst in langem weißen Kittel auf den Rücken gesprungen. Wie vom Teufel gejagt war der Mann gelaufen. Seine Trunkenheit ist in Schreck verflogen gewesen, doch das Gespenst hatte nicht locker gelassen und erst drei Schritte vor der Haustüre war es verschwunden. Von diesem Tage an wurde der Deputant Emil Panten ein gottesfürchtiger Mensch, und seine Frau, die eine tüchtige und arbeitsame Person war, hatte nicht nötig, sich noch einmal als weißer Geist in die gefahrvollen Bezirke der Unirdischen zu wagen.

An diesem Graben mußte Christian vorüber.

Die Zeiten der Mahrt, der Rodjackte, der Kobolde und Jülkes sind vergangen. Auch die Zeit des Hackupps und des wilden Alfs ist vorbei.

Was jetzt nachts im Graben kraucht, ist unlauteres Gesindel.

Verächtlich ist, wer sich der Finsternis verbinden muß. Nur wer allein in der Hellichtkeit der offenen Straße seinen Mann steht, verdient Achtung. Eigentlich sollte die Welt so sein und nicht anders.

Aber selbst hier am Graben von Sureiken will einer im dunklen Schild der Nacht seinen Streit ausfechten.

Es ist nur gut, daß auch die Dunkelheit sich verrät. Rechtzeitig kann Christian zur Seite springen, und der Stein poltert über den Weg abseits in die Nacht. Ehe Lüßmann den zweiten zu schleudern vermag, reißt Christian ihn an die Erde.

An die Erde reißt er ihn und reißt ihn hoch. Nur ein Spielball noch ist Lüßmann, ein Spielball, nichts anderes.

Christian weiß einen unentrinnbaren Griff. Solcherlei Griffe lernt man unter dem Schiffsvolk. Es ist gut, wenn man damit Bescheid weiß, sie retten einem das Leben.

Nun gibt's kein Entkommen mehr.

»Versuch keine Müh! Aus solcher Umklammerung sind ganz andere nicht herausgekommen als du. Auch wenn du treten und beißen willst, das wird dir nichts nützen. Tob dich aus, Lüßmann, tob dich aus. Wirst schon von selbst ruhig werden, ganz ruhig und still. Wie ein Kind, das über seinen Eigensinn müde wird, so wirst du müde werden. Zerschlagen könnte ich dich, zerdrücken, ins Wasser werfen.

Das alles könnte ich. Zerdrücken, zerschlagen. Ich könnte dir endlich dein Maul stopfen.

»Laß mich los«, winselt Lüßmann.

Christian hält ihn fest. Er schleppt ihn mit. Nein, er läßt ihn nicht los. Er schleppt ihn mit wie ein Bündel.

»Du sollst mich loslassen«, keucht Lüßmann.

Christian lacht. Das ist ein grimmiges Lachen. Er lacht, nein, er läßt Lüßmann nicht los. Er schleppt ihn die Straße zurück.

Da ist der Laden von Dan Lebbers. Das Licht brennt darin und durch die Scheibe steht man den Wirt sitzen vor seinem Bier. Auch Patzke steht man, der sich die Zeitung genommen hat. Christian schleppt Lüßmann weiter.

»Laß mich los! Laß mich los!«

Da ist das Haus von Jakob Kloth, von Jakob Kloth, dem Fischer. Er ist diesen Abend vom See heimgekommen. In der Bütte auf dem Hofe zappeln noch die Fische. Die vielen Kinder schlafen in den wenigen Betten. Der Fischer bessert das Netz aus. Es hängt an dem Haken, der in der Stubendecke befestigt ist, zwischen den beiden Betten hängt es herunter, es füllt fast die Stube aus. Auf der Kante des einen Bettes sitzt Jakob Kloth und schiebt die Holznadel mit dem Hanf über Eck durch die zerrissenen Maschen.

Das also ist das Haus von Jakob Kloth.

Christian schleppt Lüßmann weiter.

»Mach keinen Aufstand, sag ich dir. Jetzt kommst du mit. Nun wollen wir alles ins Reine bringen.«

Lüßmann fügt sich in das Unabänderliche. Er wehrt sich nicht mehr. Wenn ihnen hier und da jemand entgegenkommt, scheint es, als gingen da im Dunkeln zwei gute Freunde, untergehakt und ohne Hader gegeneinander.

Kein Wort sagt Lüßmann mehr, er weiß, daß es keinen Zweck hätte. Ach, der Ungebundene ist der Sieger.

Es ist nichts gegen Lüßmann zu sagen. Er ist ein arbeitsamer Mensch. Er müht sich, das Brot heranzuschaffen für seine Kinder und für die Frau, die mager ist und unschön und der nichts geblieben war von den Frühlingsblicken ihrer Mädchenzeit.

Auch Lüßmann ist nicht mehr der flotte Tischler, der Sonntags zum Tanz ging. Jahre sind darüber verblüht. Müde sind die beiden geworden neben einander.

Nein, es ist nichts gegen Lüßmann zu sagen. Für eine Zigarre hatte er Lewe Haart das letzte Haus gezimmert. Sägespäne schenkte er den Kindern in Sureiken und Überbleibsel von der braunen Borke der Kiefer und von der weißen der Birke. Boote machen sie daraus und kleine Segelschiffe. Nein, es ist nichts gegen ihn zu sagen. Aber wenn an diesem Abend und in diesem Augenblicke die Männer des Dorfes zugegen gewesen wären, Lebbers, der Kaufmann, Laabs, der Schuster, Patzke und Kuhse, der Sattler, und Jakob Kloth, – ja, auch der schweigsame Fischer – sie alle würden in dieser Entscheidung für Christian Partei genommen haben.

Was Recht, was Unrecht! Der Ungebundene ist der Sieger.

»Jetzt kommst du mit, so, nun wird alles in Ordnung gebracht.«

Von fern her hört man die Uhr schlagen.

Sie werden noch wach sein auf dem Chausseehof. Iben Kars wird noch am Ofen sitzen, schweigsam, in Gedanken, wie es seine Gewohnheit ist. Lisa will noch zur Nacht das Vieh füttern. Ja, sie werden noch wach sein auf dem Chausseehof.

Christian schleppt Lüßmann weiter. Lüßmann fragt nicht, er ahnt, wohin der Weg geht. Seine letzten Kräfte sammelt er noch einmal. Er geht noch ohne Widerstand. Er stemmt sich noch nicht. Er sammelt nur seine Kräfte.

Da ist nun der Hof. Es ist Licht in der Stube. Lisa ist eben vom Füttern gekommen. Sie hat sich an den Ofen gelehnt.

Draußen ist plötzlich ein Wutschrei. Ein Gebrüll, eine Flut von Worten.

Iben Kars horcht auf. ›Die Knechte‹, denkt er, ›sollen sich totschlagen, wenn sie betrunken sind.‹

Lisa ist vom Ofen weg an das Fenster getreten. Sie hat es geöffnet. Sie ist ängstlich.

Der Lärm draußen ist jetzt ganz nah. Man hört, daß zwei miteinander kämpfen.

Aber der Kampf ist kurz, und dann wird die Türe aufgerissen, und herein stolpert Christian und zerrt einen anderen hinter sich her, einen anderen, der auf den Knien kriechen muß, weil er unter Christians Griff sich nicht aufrichten kann.

Mitten in die Stube zerrt Christian diesen Menschen.

»Lüßmann!« schreit Lisa erschrocken.

Christian zwingt Lüßmann bis vor Lisa. Da läßt er ihn liegen.

Iben Kars ist aufgestanden, aufgerichtet hat er sich. Er ist alt, aber seine Augen funkeln.

Er blickt nicht auf den Verächtlichen, der da am Boden liegen muß. Er blickt auch nicht auf Christian, der noch gerötet vom Kampf schwer atmend dasteht. Er blickt auch nicht auf Lisa, die ihre Augen gesenkt hat.

An allen vorbei sieht Iben Kars.

Er atmet tief. Es ist ein großes, langes Atemholen, wie es ein Mensch hat, der aus den trüben Wassern der Flut auftaucht.

Iben Kars steht aufgereckt da, seine Augen sind klar. Er versucht, die Hände etwas ineinander zu legen, und er denkt: ›Er ist wie ich, und das Kind wird ebenso sein.‹

Vor einiger Zeit noch hatte Iben Kars einmal zu Lisa gesagt: »Wenn er auf den Baum steigt, gehört ihm nichts mehr.« Damit hatte er Christian gemeint.

In diesem Augenblicke hat Iben Kars dieses Wort ausgestrichen. Die Hände ineinander gelegt, sagt er leise:

»Er ist wie ich, und das Kind wird ebenso sein.«

Ja, ein Mann braucht nichts zu haben als die stolze Kraft.

*

Auf dem Hof am See hatte man auf Christian gewartet.

»Ich weiß nicht, wo er bleibt«, sagte Frau Drees, »er wollte doch bloß den Rum vom Kaufmann holen.«

»Es wird doch nichts passiert sein?« fragt Emilie ängstlich.

Frau Drees lacht sie aus. Was kann schon in Sureiken passieren? Räuber und Diebe gibt es nicht. Ordentliche Menschen wohnen in Sureiken, nicht alle liebenswert, aber keiner so, daß man vor ihm auf der Hut sein müßte. Seit einem Jahr ist kein fremder Handwerksbursche mehr durch den Ort gekommen. Es gibt auch keine Landstreicher, welche die Gegend unsicher machen. Man kann sogar in Sureiken nachts die Türen auf lassen.

Frau Drees lacht. Was sollte ihm wohl passieren? Natürlich, er könnte längst zurück sein. Aber wie Männer so sind. Da wird er wohl erst noch sein Glas Bier trinken. Wir Frauen können ja auch warten.

Eine Stunde später wird auch sie unruhig.

»Daß er gar nicht kommt«, sagt Frau Drees. Emilie hat den Mantel angezogen und will ihm entgegengehen.

»Paß auf, er sitzt noch bei Dan Lebbers und trinkt«, sagt Frau Drees, doch glaubt sie es nicht recht.

Emilie hat den Mantel umsonst angezogen. Noch ehe sie die Türe öffnet, kommt Christian. Er bringt auch die Flasche Rum. Man sieht ihm an, daß er guter Laune ist.

»Du hast uns schön warten lassen«, meint Frau Drees.

Emilie sieht Christian prüfend an. Er lacht und ist gut gelaunt, aber das ist es nicht allein. Sein Lachen ist zu laut und seine gute Laune zu forsch. In seiner Stimme, auch wenn er bloß Nebensächliches sagt, kann er eine Erregung nicht unterdrücken.

Emilie möchte am liebsten fragen: Was ist denn gewesen? Sie fühlt, daß er nur ungern auf solche Frage antworten würde, und so läßt sie es.

Für Frau Drees steht es fest, daß Christian getrunken hat. Warum auch nicht? Er wird einen Bekannten getroffen haben, Patzke oder Laabs, oder vielleicht auch Jakob Kloth. Sonntags sieht jeder zu, daß er noch zu seinem Gläschen Bier kommt. Frau Drees gefällt es, daß Christian so aufgeräumt ist. Sie ist eine starke Frau, die es nicht übelnimmt, wenn man sie derb anfaßt. Das Leben hat sie derbe genug angefaßt, und sie ist nicht darüber verzweifelt. Sie schimpft und zankt mit dem Leben, nicht immer, nein, im Grunde hat sie es gern. Sie schimpft mit dem Leben, wie man mit einem Kutscher zankt, der einen den falschen Weg fährt. Wenn es geradenwegs in den Abgrund ginge, würde Frau Drees bis zum letzten Augenblick zanken, poltern und lachen.

Nun trinken sie den warmen Rum. Ja, Christian hat was erlebt. Auch Frau Drees merkt es nun. Er möchte gern eine Andeutung machen, nicht erzählen, nein, das geht keinen was an, aber eine Andeutung hat er schon auf der Zunge.

Er geht mit starkem Schritt in der Stube auf und ab. Wie ein Löwe im Käfig, denkt Frau Drees. Ich möchte nicht im Ernst mit solch einem Seemann anbinden. Sie ist glücklich darüber, daß er so stark ist.

Eine Wolke herben Duftes ist über den heißen Rum aufgestiegen.

Emilie hat nicht viel getrunken, aber durch das Zimmer geht ein kleiner Rausch. Emilie hat warme dunkle Augen bekommen. Daß ich ihm so lange zürnen konnte, denkt sie und blickt Christian an.

Frau Drees hat den Blick aufgefangen und runzelt etwas die Stirne.

Nun steht Emilie auf und legt den Arm um Christian.

»Schade, daß wir nicht tanzen können«, sagt sie, »wenn jetzt Bolk hier wäre mit der Geige.«

Ach ja, der Schmied und die Geige. Keine Geige hat Bolk mehr angerührt, seit ihm der Bogen zerbrochen wurde. Vieles wohl wäre anders gewesen, wenn man wie früher hätte tanzen können. Trübe Gedanken und böse Gedanken, auch dumme Gedanken und nichtsnutzige kann man wegtanzen. Der Tanz ist die Seligkeit, vor der keine Pforte verschlossen bleibt. Ja, manches wäre gut geworden, wenn Bolk die Geige nicht beiseite gelegt hätte. Ein schwerer Mensch ist Bolk. Er ahnt das Dunkle. Zweierlei Mächte beherrschen die Welt, das Licht und die Finsternis. Wenn aber das Reich der Finsternis angebrochen ist, soll man sich dem nicht widersetzen, denn der Mensch wandelt nur seine Zeit, aber das Schicksal, das über Licht und Dunkel bestimmt, währt ewig.

Wenn ein Mensch kommt und das Licht zerbricht, tut er es nicht aus sich. Wenn Iben Kars nicht mehr will, daß die Geige spielt, hat nicht er, sondern das Schicksal gesprochen. Es wäre vermessen, wenn Bolk die Geige hervorsuchte, ehe ihm durch den Mund des Alten die Aufforderung wird. Nein, bevor Iben Kars nicht den Tanz verlangt, wird Bolk, der Schmied, ihn nicht spielen.

Emilie hat ihren Arm um Christian gelegt. »Soll ich euch eins singen?« fragt Frau Drees ärgerlich.

»Nein, aber wenn du noch einen Rum hast!« lacht Christian.

Es tut ihm wohl, daß ein weicher Arm um seinen Nacken liegt. Wie Katzen schnurren die Männer, wenn Liebe sie hätschelt. Nun hat er auch den Arm um Emilie gelegt, und sie stehen dicht aneinander. Frau Drees reicht Christian das Glas, doch Emilie muß zuerst daraus trinken. Frau Drees hat sich wieder gesetzt und überlegt.

Dieses letzte kleine Glas Rum, daran Emilie kaum die Lippen genetzt hat, ist von einer großen Süßigkeit gewesen. Ein Schmiegen und Schweben ist von diesem Glase ausgegangen. Ja, es ist schön, jung und verliebt zu sein.

»In Thorde ist der Rum nicht besser«, sagt jetzt Frau Drees. »Du hättest dabei sein sollen, Emilie! Nein, war das lustig.«

Emilie fragt nichts danach. Sie ist glücklich, neben Christian zu sitzen. Die süße herbe Duftwolke liegt über ihren Gedanken.

»Wir haben Wein getrunken«, sagt Frau Drees.

»Das nächste Mal kommst du mit nach Thorde«, unterbricht Christian und streichelt Emilie die Hand.

»Ja?« fragt sie erfreut.

»Jawohl, wir fahren nach Thorde. Am Hafen gehen wir spazieren, ich zeige dir auch den Leuchtturm. Einmal war ein Schiff da, ein Ausländer. Ich war an Bord.«

»Was war das für ein Schiff?« fragt Frau Drees. Sie will auch beteiligt sein an dem Gespräch über Thorde. Sie ist ärgerlich, daß sie überhaupt davon angefangen hat.

»Wir konnten uns kaum verständigen. War das ein Kauderwelsch!« lachte Christian. »Es war ein gewöhnliches Schiff für Frachtgüter, aber immerhin, es war von weither.«

»Ich möchte auch einmal mit so einem Schiff fahren«, schwärmt Emilie, »wie weit du schon herumgekommen bist.«

»Ja«, antwortet Christian nachdenklich. Er trinkt und erzählt. »Himmel, was gibt es für Länder in der Welt und was für Städte. Braune Menschen und gelbe und schwarze. Jeder hat seine Musik. Sie trommeln auf Holz und blasen auf Häuten, und was für Lieder! Ja, überall ist was los. Das ist eine kunterbunte Welt! Anders als hier«, sagt Christian. »Aber erst das Wasser! Ach, das Wasser! Das weite Wasser.«

Frau Drees erschrickt. Zum erstenmal hat Christian einen Vergleich gezogen. Er war schon drauf und dran, das alles zu vergessen. Welch dummes Ding, diese Emilie! Ihm davon zu reden. Wenn sie doch aufhören möchte. Aber nein, sie fragt weiter.

»Das ist alles Firlefanz«, sagt Frau Drees, »das verdreht dem Menschen bloß den Kopf.«

»Du sprichst wie Iben Kars«, lacht Christian.

Emilie sieht ihn ängstlich an. Nein, ohne Scheu spricht Christian den Namen aus. Er hat den Alten lange nicht erwähnt, aber jetzt sagt er einfach: Iben Kars und lacht.

Emilie atmet auf. Sie sagt: »Du mußt das verstehen. Sie haben ihren eigenen Boden. Ich habe ja auch nichts.«

Sie tut, als wäre das nun ein Vorzug.

Frau Drees fährt auf. »Man muß arbeiten können«, sagt sie. »Arbeiten, alles andere sind Flausen.«

»Ich arbeite wohl nicht?« erwidert Emilie.

»Natürlich arbeitest du«, antwortet Christian. Es ist viel Zärtlichkeit in seiner Stimme.

»Mein Gott, wie empfindlich du bist«, beklagt sich Frau Drees.

Am nächsten Morgen ist der Rum verflogen. Der Alltag ist da und die Arbeit. Es ist noch sehr früh im Jahr und die Arbeit frißt einen noch nicht auf.

Frau Drees und Emilie fangen an, sich aus dem Wege zu gehen. Wer den Vorteil davon hat, ist Christian. Er kann sich nicht beklagen, daß er vernachlässigt wird. Aber er ist doch oft in Gedanken. Frau Drees spricht von der Wirtschaft und Emilie von der Seefahrt. Frau Drees spricht vom Acker und Emilie von Thorde. Frau Drees geht mit Christian über Land. »Das alles gehört zu unserm Hof. Das auch noch! Und auch noch das Stück da drüben. Es ist ein schöner Hof. Man kann zufrieden sein. Nun ja, es gibt allerlei Sorgen, aber man wird sich schon durchbeißen. Es ist ja nun auch ein Mann auf dem Hof«, sagt Frau Drees und pufft Christian in die Seite.

»Wir werden die Karre schon ziehen«, antwortet Christian. Er weiß nun, wie mit dem Pflug umzugehen ist und wie mit der Egge. Er kennt auch den Kultivator.

»Wann wollen wir nach Thorde fahren?« fragt Emilie. »Ich war erst einmal in Thorde und hab den Leuchtturm gar nicht gesehen.«

»Wir wollen morgen hin«, verspricht Christian. Am Abend zeigt er ihr den blinkenden Lichtschein am Himmel.

Doch tags drauf hat Frau Drees dieses Anliegen, tags darauf jenes. Immer wieder weiß sie irgendeine wichtige Arbeit, die getan werden muß.

»Wir werden gar nicht mehr nach Thorde kommen«, klagt Emilie, »bald geht es mit der Frühjahrsbestellung los.«

»Wir fahren nach Thorde«, erklärt Christian, »versprochen ist versprochen.«

Doch vergehen noch Tage, ehe sie nach Thorde kommen. Frau Drees weiß es auch so einzurichten, daß sie nur den Nachmittag Zeit haben. Emilie fürchtet, daß aus der Fahrt überhaupt nichts werden könnte, und so ist sie wenigstens mit diesem Nachmittag zufrieden.

Das also ist Thorde.

Emilie möchte die Zeit langsam vergehen sehen.

»Wir wollen uns nicht überhasten«, sagt sie.

Vor jedem Schaufenster bleibt sie stehen. Alles muß Christian betrachten.

»Das ist hübsch«, sagt Emilie.

»Ja ja«, antwortet Christian. Damals mit Frau Drees war das anders gewesen. Wir wollen uns erst mal erwärmen, hatte sie gesagt. Frau Drees konnte lustig sein. Grog hatte sie getrunken und Liköre. Die Auslagen hatte sie kaum angesehen. Wir wollen nichts einkaufen heute, hatte sie gesagt, Gott sei Dank, daß wir mal aus dem Nest raus sind.

Emilie aber blieb vor jedem Fenster stehen. Wie sie sich wundern konnte über die bunten Dinge, die darin lagen. Wie viele Schaufenster gab es Thorde. Jedes war wie ein Wunder.

»Bei uns zu Hause gibt es größere Geschäfte«, sagte Emilie. »Aber wenn man so lange auf dem Dorf war, kommt einem das hier schon wie eine Herrlichkeit vor.«

»Das glaube ich«, sagte Christian. Er war ungeduldig, er wollte nach dem Hafen.

»Das ist hier nun der Hafen«, sagte er. »Ein kleiner Hafen ist es, es gibt ganz andere Häfen in der Welt, aber es ist ein Hafen. Da drüben hat damals das Schiff gelegen. Heute ist der Platz leer.«

»Schade«, sagt Emilie, »ich wäre gerne mit auf den Dampfer gekommen.«

Es ist überhaupt kein Schiff in Thorde. Emilie ist enttäuscht. Zwei oder drei Kähne liegen da, trübe, mißmutige Kähne. Das ist alles.

Aber wenn man sich zur Seite wendet, steht man das Licht des Leuchtturms. »Da drüben ist der Leuchtturm«, sagt Christian, »sein Licht kommt auf drei und sieben.«

Sie stehen ein Weilchen und zählen. Sie haben sich aneinander geschmiegt, zählen und küssen sich. »Drei, drei, sieben«, zählt Emilie.

Was ist das auf einmal für ein junger Übermut. Sie küssen sich nach dem Kreisen des Leuchtturmlichtes. »Drei, drei, sieben«, lacht Emilie.

»Das hast du dir schön ausgedacht«, schmunzelt Christian. »Drei, drei, sieben«, und er küßt das Mädchen.

»Sieben«, sagt sie, »sieben«, und küßt ihn lange. Nun ist eine große Glückseligkeit. Alle dunklen Tage sind vergessen.

»Ich habe dich lieb«, sagt Emilie.

Sie gehen zurück nach Thorde.

»Nun sollst du auch Kuchen haben«, sagt Christian, »wir wollen Kuchen essen und einen Likör trinken.«

»Nein«, antwortet Emilie, »wir wollen lieber zu Fuß nach Sureiken gehen.«

Was ist das für ein Einfall. Im Gasthof steht der Wagen. Ein Nachbar, Christof Braatz, hat in Thorde zu tun und hatte sie auf seinem Wagen mitgenommen.

»Wir können ihn nicht warten lasten«, sagt Christian.

»Er wird uns gar nicht vermissen«, antwortet Emilie. Sie weiß, wenn Braatz nach Thorde fährt, versäuft er Geld und Gedanken. Es ist gut, daß sein Pferd den Heimweg von selber findet.

»Es sind Sterne«, sagt Emilie. Seit Tagen ist es der erste Abend wieder, der Sterne hat. Emilie würde gerne durch diesen Sternenabend gehen. Wo wandelt die Liebe glückseliger als unter Sternen.

Christian will ihr das ausreden.

Ja, was ist das für ein Einfall. Zwei Stunden mindestens müßte man zu Fuß laufen. Damit wär's nicht einmal geschafft. Warum soll man gehen, wenn ein Waagen zur Stelle ist?

Emilie gibt nicht so schnell nach. »Wir wollen uns nicht zanken«, sagt sie schließlich. Sie gehen nach dem Gasthof zurück. In der Mitte der Stadt liegt er, dicht am Marktplatz. Die Bauern der Umgegend spannen hier aus, wenn sie nach Thorde kommen. Mittwochs und Sonnabends, wenn Wochenmarkt ist, findet man kaum einen Platz. An den weißgescheuerten Tischen sitzen sie, auf blanken rohen Holzstühlen. An der Wand hängt auch ein Bild von der Kirche in Sureiken. Das haben sie vor Jahren dort aufgehängt. Sie sind stolz aus ihre Kirche mit dem blanken, spitzen Turm. ›Ein Bleistift ist er‹, hatte Pastor Lorentz einmal gesagt, ›damit will sich Gott in euer Herz schreiben.‹ Nun saßen sie unter dem Bild von Sureiken und tranken.

Als Emilie und Christian in die Wirtsstube traten, war schon ein großes Gewirr. Über allen aber dröhnte die Stimme von Christof Braatz. Diese laute Stimme begleitet von vielerlei Bewegung nahm einen sofort gefangen. Christian und Emilie standen einen Augenblick in der Türe und hörten zu. Dann blickte Emilie zur Seite. Sie stieß Christian ängstlich an. Sie flüsterte etwas, das er nicht verstand. Christian blickte hin und sah Iben Kars hinter dem Tisch sitzen. Jawohl, da sitzt Iben Kars.

Was wird nun geschehen? Emilie zittert. Sie möchte Christian am liebsten aus der Gaststube haben. »Wir wollen gehen«, sagt sie leise, »er hat uns noch nicht gesehn.« Ach, sie zittert. Es ist ein schwerer Ruch von Bier und Spirituosen im Raum. Ein hitziger Nebel ist es, der die Köpfe verwirrt und böse Blicke, Zorn und Verachtung leicht aufspringen läßt.

»Laß uns lieber gehen«, bittet Emilie.

Aber was geschieht? Christian geht auf Iben Kars zu und gibt ihm die Hand, und Iben Kars zieht seine Hand nicht zurück. Nein, er hat sie ihm sogar entgegengestreckt, noch ehe Christian am Tisch ist.

»Nehmt Platz«, sagt Iben Kars. Und Emilie und Christian sitzen neben ihm, das Mädchen verwundert über die Wandlung.

Iben Kars zeigt sich heut von der großartigen Seite. Er ist nicht knausrig und zach mit dem Geld. Er läßt den Wirt ausfahren, was er Gutes hat hinter der Tonbank. Zwar spricht er nicht viel, doch die wenigen Worte sind ohne Arg.

Sie kommen auch nicht dazu, viel zu reden. Braatz hat sich mit an den Tisch gesetzt und führt das große Wort. Er beugt sich vor und erzählt mit halblauter Stimme. Vorsichtig spricht er und vermeidet jeden herausfordernden Ton. Wenn man von solchen Dingen spricht, sollte man sich nur des Flüsterns bedienen. Wer weiß, wer das laute Wort hört. Wohl glaubt man nicht mehr an Fremdes, das außerhalb unserer Augen lebt, aber was steht schließlich der Mensch? Kann er zum Beispiel sehen, was jetzt jenseits der Mauer vorgeht?

»Nein, das kann er nicht«, sagt Braatz. »Wenn er nicht einmal durch die Wand gucken kann, wie will er dann überhaupt was wissen?«

Es ist traurig, wie wenig der Mensch weiß.

»Dazu hat er sich die Wand selbst gebaut«, sagt Iben Kars.

Braatz biegt sich vor Lachen. »So ist's. Er hat sich selbst die Wand gebaut, damit er nicht weit gucken kann. So ist nun der Mensch.«

Braatz wendet sich zu den anderen. Er trinkt und lacht und ruft: »Wir haben uns die Wand selbst gebaut. Nun kommen wir nicht drüber weg. Wahrhaftig, das haben wir gemacht. Keiner kann durch die Wand.«

Irgendeiner ruft: »Bau dir ein Fenster rein!«

Braatz stutzt. Richtig, das Fenster, daran hat man gar nicht gedacht. Natürlich hat man sein Fenster. Man kann sich sogar rausbeugen. Dann sieht man, was hinter der Mauer ist. Natürlich kann man das. Bau dir ein Fenster rein, Braatz.

»Als die Krankheit in der Luft war, haben sie die Fenster verschlossen. Da wären sie froh gewesen, wenn sie gar keine Fenster gehabt hätten. Jawohl«, sagt Braatz, »so ist's gewesen. Nämlich –« Er beugte sich vor und flüsterte nur noch. Man mußte gut aufmerken, um jedes Wort zu erhaschen.

»Damals fuhr die Krankheit durch die Luft«, flüsterte Braatz. »Aus der Luft war eine Stimme: ›Habt ihr auch Brot?‹ fragte die Stimme. Die Stimme von der Krankheit war es. Ja, die Krankheit rief: ›Habt ihr genug Brot?‹ Die armen Leute hatten Türen und Fenster fest verschlossen. Hinter den dichten Fenstern saßen sie und antworteten: ›Ja, wir haben Brot.‹ Die armen Leute hatten nichts zu essen, nicht eine Brotrinde hatten sie. Aber sie riefen doch: ›Ja, wir haben genug Brot.‹ Sie wußten, daß die Krankheit die Hungernden zuerst frißt. Darum haben sie die Krankheit belogen.«

Braatz trank nachdenklich sein Bier aus. »Mein Vater hat es uns oft erzählt«, sagte er. »Das haben die armen Leute damals gemacht. In Thorde und in Sureiken und weitum.«

Iben Kars strich mit dem Rockärmel über den Tisch.

»Die armen Leute«, sagte er.

Emilie war traurig geworden über die Geschichte. Braatz wollte noch mehr erzählen, doch Iben Kars verwies ihm das.

»Das ist dummes Geklön«, sagte er, »mau soll sich nicht damit aufhalten. Es macht bloß den Kopf schwer und lähmt die Hand.«

»Du hast immer im Vollen gesessen«, knurrte Braatz, »dir ist alles geglückt. Wie man das macht, darüber könntest du mich belernen.«

Braatz blinzelte Christian zu: »Laß es dir sagen von ihm, du kannst es noch brauchen. Du bist jung und hast eine Braut.« Dabei wies er auf Emilie.

Das Mädchen war rot geworden. »So weit ist es noch nicht«, wehrte sie ab. Sie blickte Christian an. Ach, sie hätte wohl gerne gesehen, daß er jetzt widersprochen hätte. ›Jawohl, sie ist meine Braut‹, hätte er sagen sollen, ›wir sind zwar noch nicht öffentlich versprochen, aber das kommt noch.‹ So ähnliches hätte er wohl sagen können. Aber er schwieg und trank Braatz zu.

»Laß es dir vom Alten sagen«, rief Braatz. »Er hat's geschafft, da war nie ein leerer Tisch.«

Iben Kars achtete nicht auf Braatz. Er wandte sich zu Christian:

»Ich bin mit dem Fünfuhrzug noch gefahren. Ich mußte zum Rechtsanwalt wegen des Mühlwegs. Seit Jahr und Tag setzt mir der Müller zu wegen der Grenze. Es ist unser Weg, doch wurde er damals nicht ins Grundbuch eingetragen. Nun ist's eine ewige Schererei, aber es ist gut, daß ich noch gefahren bin. So habe ich Sie kennengelernt, Fräulein.« Er sah Emilien an und sagte zu Christian: »Sie macht einen guten Eindruck.«

Christian war darüber verwirrt. Der Alte tat, als wäre schon alles entschieden. Nun ja, Emilie ist ein gutes Mädchen. Sie ist tüchtig und hat ihn gern. Das hatte sie vorhin selbst gesagt. ›Ich habe dich lieb‹, hat sie gesagt. Ja, sie war hübsch gewachsen und man konnte Ehre mit ihr einlegen. Christian war verliebt in sie. Nein, das konnte er nicht leugnen. Es war wohl auch mehr. Warum sollte er nicht auch an eine Heirat denken? Schließlich mußte auch das einmal sein. Doch darüber war noch nicht geredet. Emilie war jung und gut, doch Frau Drees war eine erfahrene Frau und hatte den Hof. Das alles mußte überlegt werden. Mit Liebe allein ist schwer heiraten.

Christian ging nicht auf das ein, was Iben Kars da sagte.

Als sie aufbrechen wollten, war mit Braatz nichts mehr anzufangen. Er hatte an der Tonbank gestanden und Glas auf Glas geleert, weil Iben Kars ihm den Mund verboten hatte. Nun tanzte er vor der Tonbank. Er stampfte mit den Füßen, hockte nieder und warf ein Bein vors andere. »So tanzen die Rußki!« schrie er. »Rußki, Rußki«, sang er. Dazu spielte das Grammophon. Er schnellte hoch, die Hände in die Seiten gestemmt, drehte er sich. Er klatschte in die Hände. Nein, er war nicht totzukriegen, dieser Christof Braatz. Klein war er und dürr, aber zähe. Er war auch nicht mehr jung, er war schon über die Fünfzig hinaus. Er besaß einen kleinen Hof und schlug sich kümmerlich durch. Oft half er bei anderen. Er war ein tüchtiger Arbeiter und seine Hände waren nie müßig. Vom frühen Morgen bis in die Nacht konnte er schaffen. Aber wenn der Schnaps über ihn kam, tanzte er. Russisch konnte er tanzen und polnisch. Mit gebogenen Knien konnte er tanzen und mit steifen Beinen. Mit eingestemmten Armen und mit wirbelnden Händen. Mit geradem Kopf wie eine Wachspuppe und mit wackelndem Kopf wie ein Federwisch. Wie ein Kreisel konnte er sich drehen und langsam wie eine Kugel dahinrollen. Ja, Christof Braatz wußte auf vielerlei Art zu tanzen. Er stampfte, schnaufte und sang dabei. Wenn der Schnaps über ihn kam, war Christof Braatz ein großer Tänzer. Kein Weib brauchte er dazu. Er tanzte allein. ›Weiber verlieren den Atem beim Tanz‹, sagte er. ›Man muß durchhalten können mit der Lunge. Sie muß sich dehnen wie eine Harmonika.‹ Nein, keine Frau und kein Mädchen hatte solche Lungenkraft. Wie hätten sie mit Christof Braatz tanzen können. Nach einer Viertelstunde schon wären sie umgefallen. Welche Frau konnte eine halbe Stunde lang tanzen mit gebogenen Knien und mit steifen Beinen, die Füße vorgeworfen und zurück und die Schultern schüttelnd wie im heiligen Veitstanz. Ja, wie ein Besessener konnte Christof Braatz tanzen.

Die anderen standen um ihn und sahen zu. Sie lachten nicht und schrien nicht. Ernste verwunderte Gesichter hatten sie, sie verhielten sich still, nein, sie wollten ihn nicht stören.

Christof Braatz tanzte und tanzte, das Grammophon kreischte und zwitscherte, und die Männer standen in stillem Kreis schweigend in andächtiger Neugier. Ja, so sind die armen Leute. Die Krankheit fährt durch die Luft und fragt, ob sie Brot haben, und sie antworten: »Nein, wir hungern nicht. Du siehst doch, wir tanzen!«

›Wie soll nun die Heimfahrt werden?‹ denkt Emilie. ›Es ist nur gut, daß das Pferd den Weg weiß.‹

Immer bringt das Pferd den Tänzer gelinde nach Haus. Dieses Mal hat es gar keine Sorge. Christian ist ja dabei. Er wird die Zügel schon halten. Darum ist Emilie nicht besorgt, aber wie werden wir Christos Braatz mitkriegen? Er denkt nicht daran zu gehen. Nein, erst wenn der Wirt es gebietet, erst wenn er Feierabend sagt, bricht Christof Braatz auf. Keine zehn Pferde bekommen ihn vorher weg von der Tonbank.

Nun tritt Iben Kars zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter und befiehlt:

»Komm, die Braut ist müde!«

Da läßt Christof Braatz das Glas stehen und torkelt mit. Er leert es nicht einmal mehr. So ist nun dieser Christof Braatz. Was zehn Pferde nicht fertig bekommen, vermag dieses Wort: ›Die Braut ist müde.‹

»Wenn sie müde ist«, lallt er, »müssen wir sie ins Bett tragen. Sie soll keine roten Augen haben, wenn sie Hochzeit macht.«

Iben Kars hat die Leine genommen. Hinter ihm sitzen Christian und Emilie. Vor ihnen quer über den Sitz liegt Christof Braatz. Er ist gleich auf die Kutschbank gesunken, wie er es auf jeder Heimfahrt gewohnt ist. Das Pferd findet den Weg allein.

Der Wagen rollt in die Nacht hinein. Über die dunkle Straße ist nur das schmale Licht ihrer Laterne. Doch die Sterne glänzen groß und klar.

Eng haben sich die Liebenden umfangen. Sie fahren durch die Nacht. Iben Kars hält die Zügel.

Über den Himmel gleichmäßig huschte ein weißer Schein. Es war der Leuchtturm Thorde, weit weg schon hinter Feldern und brachem Land, weit weg schon, am Meer.

Wozu hat Gott die bunten zärtlichen Schmetterlinge in die Welt gebracht? Ihr blühendes Taumelspiel, ihren weichen glückseligen Düftetanz? Die Freude des Sommers sind sie, die bunten zärtlichen Falter. Was wäre eine Sommerszeit ohne sie, ohne ihre strahlenden Flügelaugen? Arm an den Wegen würden die Blumen stehen, gekettet an vielen Wurzeln. Blühen würden sie und vergehen. Es wäre eine traurige Blüte und eine bange Vergängnis, denn über sie hin wäre nicht ihre bessere Seele gegaukelt, nicht der sehnsüchtige Tanz der bevorzugten Schwestern, die sich loslösen durften vom Boden, Falter wurden und seliges Schweben. Ach, solch ein Sommer würde ohne Freude sein.

Ein Falter war Emita, die junge Tänzerin. Wenn sie die Jahre zuvor nach Sureiken kam, sprang sie leichtfüßig vom Wagen, wirbelte den Gärtner umher, der ihr behilflich sein wollte, drückte jedem die Hand, lachte, knickste und plauderte. Hundert Fragen hatte Emita auf einmal, und alle lachten ihr zu, winkten und riefen lustige Worte. Ein einziger froher Willkomm war dieser Tag.

Dann hatte Sureiken seine Freude. Emita, die Tänzerin, war gekommen, blau lag das große Wasser des Sees und lockte zum Bad. An solchen Tagen war immer Sonne, jedes Haus bekam etwas davon ab. Wieviel Sonne es doch in der Welt gibt. Die Dächer leuchteten, die Fenster prangten, und die kleinen Wellen des Sees flackerten und glitzerten vor Sommer und Sonne.

So war es all die Jahre gewesen. Nun kam die Tänzerin wieder. Da ist keine strahlende Sonnenstunde. Grau und feucht sind die Dächer, die Fenster starren erloschen und die Wellen des Sees sind langsam und schwer.

Wie grau doch die Welt sein kann.

Ja, Emita, die Tänzerin, ist gekommen. Bedachtsam steigt sie vom Wagen. Das ist eine vorsichtige Umständlichkeit. Verlegen sieht sie sich um. Da stehen sie alle wie jedes Jahr. Lachen wollen sie und sich necken. Sie wollen die Hand gedrückt bekommen und ein Knicksen sehen und Hopsen. Aber da steht nun Emita unter ihnen, befangen steht sie da, lächelt ein wenig und nickt ihnen zu.

Ach, welche hämischen Blicke hat doch die Enttäuschung.

Deswegen also ist sie gekommen. Nun ja, man konnte es sich denken. Wie wäre sie sonst so früh gekommen im Jahr? Die erste Schwalbe, hatte Patzke gesagt. Nein, das war keine Schwalbe, keine schlanke, selig hinschießende, keine blaue himmlische Seglerin. Schwerfällig stand sie da, befangen über das Ungeschick ihrer Glieder.

Viele Blicke trafen sie, es war eine Gasse von Blicken, durch die Emita schreiten mußte.

Grausam ist der Mensch, wenn ihm die Freude verwandelt wird in Enttäuschung.

Frau Dahl bekam Tränen in die Augen. Sie ging hinter Emita her und trug ihr den Koffer.

Die anderen standen noch und hechelten über die Tänzerin. Frau Seba sagte aber: »Das arme junge Ding, nun geht es in die Schule des Lebens.«

Sie wollte Mitleid erwecken für Emita, doch man zuckte die Achseln.

Wenn in Sureiken ein Mädchen ein Kind bekam, fand man nichts weiter dabei. Man würde es wohl auch Emita verziehen haben, wenn sie nicht die Freude von Sureiken gewesen wäre, und wenn man nach den trüben Monaten nicht Sehnsucht gehabt hätte auf ihren Lichtblick.

Emita saß in dem Lehnstuhl und weinte. Sie sagte zu Frau Dahl:

»Anfangs hab ich es wegtanzen wollen, aber nun bin ich doch froh. Andere Mädchen gehen zum Arzt. Meine Freundin Elvira hat gesagt: du bist schön dumm. Das ist ein Augenblick und du bist die Sorge los. Nein, ich wollte nicht zum Arzt gehen. Ich nehme mein Los auf mich«, beteuerte Emita.

Sie bewegte schwermütig die Hand dabei. Ja, manchmal merkte man, daß sie am Theater war.

»Ich nehme mein Los auf mich«, seufzte Emita, und ließ die Hand langsam durch die Luft gleiten. Mit müder Sorgfalt legte sie die Hand auf die Stuhllehne. Da hielt sie nun ihre weiße zierliche Hand bittend und halb geöffnet. »Ja, ich werde mein Los auf mich nehmen.«

Frau Dahl stürzten die Tränen aus den Augen.

»Liebes Fräulein Emita«, klagte sie, »liebes, liebes Fräulein Emita, ach Gott, ach Gott.«

Als sie sich gefaßt hatte, erzählte sie, daß es ihr ähnlich ergangen wäre. Verschämt und in vielen Wiederholungen berichtete sie die Geschichte ihrer Liebe. Eines Tages war Hermann Dahl gekommen, ein stattlicher Mensch, ein Müllergeselle. Später wurde er selbständig und Bäcker. Arbeitsam war er, ja, er war ein gutmütiger Riese. Er hatte das Kind auf die Hände genommen und geschluchzt über so viel Zierlichkeit. Ja, so war es gewesen.

»Ich habe es nicht bereut«, sagte Frau Dahl.

»Ich bereue es auch nicht«, erklärte Emita. Sie holte ein Bild aus der Handtasche. Das zeigte sie Frau Dahl.

»Welch schöner Mann«, lobte Frau Dahl. »Nein, welch schöner Mann!«

»Er ist Künstler«, sagte Emita, »Klaviervirtuose. Vor acht Tagen ist er mit seiner Kapelle nach Rio gefahren. Ein Künstler darf nicht gebunden sein. Ja, ich freue mich auf das Kind. Es wird ein Mädchen werden, passen Sie auf, Frau Dahl, es wird ein Mädchen. Sie soll Tanz lernen und Musik. Ich werde sie früh zum Ballett geben.«

Nun mußte Emita gestehen, was ihr noch auf dem Herzen lag. Sie sagte: »Ja, mit sechs Jahren könnte die Kleine zum Ballett. Ach, wenn sie doch erst sechs Jahre wäre.«

»Die Zeit vergeht schnell, Fräulein Emita«, tröstete Frau Dahl. »Was sind sechs Jahre. Das vergeht im Hui!«

»Ja ja, aber trotzdem. Wo soll ich mit dem Kind hin? Glauben Sie, daß man eine Tänzerin engagiert, die ein kleines Kind mit herumschleppt? Wo soll denn das Kind bleiben, wenn ich im Engagement bin? Ach, da hat man so wenig Zeit. Morgens Proben und nachmittags tanzen, nachmittags und abends bis in die Nacht. Den ganzen Tag tanzen.« Emita sagte das müde. »Wenn man nicht Solotänzerin ist und keinen Namen hat, dann ist das ein schweres Brot, das können Sie glauben, liebe Frau Dahl. Ach, die Leute denken immer, wir Tänzerinnen hätten's wie die Schmetterlinge. Nein, nein, so ist das nicht. Aber die Kleine soll einmal Solotänzerin werden, Ballettmeisterin, ja, Ballettmeisterin. Darum muß sie schon früh den Spitzentanz lernen.«

»Was alles dazu gehört«, sagte Frau Dahl, »ich hab ja keine blasse Ahnung davon. Nein, was alles dazu gehört.«

»Ja, und nun denken Sie, noch ein Kind dabei. Ein kleines Kind, das noch nicht laufen kann und den ganzen Tag weint, wenn die Mutter nicht da ist. Wenn ich wenigstens wüßte, wo ich es lassen könnte. Aber die Menschen find schlecht. Weiß man denn, was sie mit so einem Würmchen anstellen? Was muß man oft alles in der Zeitung lesen. Ja, wenn eine Frau darunter wäre wie Sie, liebe Frau Dahl.«

Nun war es gesagt, was Emita auf dem Herzen hatte.

»Wenn ich in der Stadt wohnte, würd ich's gerne tun«, sagte Frau Dahl.

Emita lächelte. »Es braucht gar nicht in der Stadt zu sein. Warum soll die Kleine in der Stadt aufwachsen? Nein, das wäre auch ebensogut auf dem Lande.«

Frau Dahl sah Emita bestürzt an. Sie hatte gedacht, daß die Tänzerin das Kind in der Nähe haben wollte. Nein, Frau Dahl hätte ihr Kind nie weit weggegeben. Eine Mutter muß doch ihr Kind im Auge behalten.

»Ach, liebe Frau Dahl«, sagte Emita, »Sie könnten mir eine große Sorge abnehmen. Ich kenne Sie genau, liebe Frau Dahl, Sie sind gut, Sie würden dem Kinde eine zweite Mutter sein. Ach, liebe Frau Dahl, können Sie mir nicht helfen?«

Emita hob beschwörend die Arme. Sie hatte weiße schlanke Arme, die sich nun zu Frau Dahl hin öffneten. Den dritten Finger und den Daumen hielt Emita leicht gebogen, so daß sie sich berührten. Die anderen Finger schwebten leicht hin, sie trugen glänzende Nägel mit schmalen weißen Monden. So war Emita, die Tänzerin, anmutig war sie und von großem Liebreiz.

Frau Dahl fühlte plötzlich den Strahl eines unverhofften Glücks. Ihr Gesicht hatte sich etwas gerötet, sie spürte, wie ihr Herz schlug.

»Ich will es gern tun, Fräulein Emita«, sagte Frau Dahl.

Nun war wieder das Lachen nach Sureiken gekommen und das Singen. Trällernde Freude war wieder in Sureiken. »Liebe gute Frau Dahl«, lachte Emita. Sie faßte sie um die Taille und tanzte mit ihr durch die Stube.

»Vorsichtig, vorsichtig«, warnte Frau Dahl. Gutmütig schüttelte sie den Kopf: »Vorsichtig, vorsichtig!«

Aber sie tanzte mit Emita durch die Stube. Ohne Widerspruch ließ sie sich herumdrehen und wagte selbst ein paar Schritte.

»Liebe gute Frau Dahl«, sang Emita. Danach tanzten sie: »Liebe gute Frau Dahl«, und sie küßte sie mitten ins Gesicht. Ja, die Tänzerin Emita küßte Frau Dahl. Da stürzten der Frau wieder die Tränen aus den Augen. Was konnte die gute Frau Dahl in solch einem Augenblick anderes tun? Sie weinte vor Freude.

Am Mittag kam Hanni aus der Schule.

»Wie du gewachsen bist«, sagte Emita und streichelte das Mädchen. »Möchtest du nicht gern ein Schwesterchen haben?« fragte Emita.

»Ach ja«, antwortete Hanni und ihre Augen leuchteten.

»Sie ist ein gutes Kind«, sagte Emita gerührt zu Frau Dahl. Sie kramte in ihrer Handtasche, und zwischen Briefen, Spiegel, Fläschchen und Schächtelchen brachte sie eine kleine Korallenkette zum Vorschein. Sie band Hanni die Kette um. »Das hab ich dir mitgebracht«, sagte sie. »Die Kette ist noch von meinem Vater.«

»Dann hätte ich sie doch an Ihrer Stelle behalten«, antwortete Frau Dahl.

Emita lächelte wehmütig. »Er hat meine Mutter geschlagen«, sagte sie.

Frau Dahl sah erschrocken auf die Kette. Es war ihr nicht recht, daß Hanni sie nun trug. Frau Dahl brachte es aber nicht fertig, etwas dagegen zu sagen. Kummer und Freude, so dicht wohnen sie in der Welt.

Zu Emitas Empfang hatte Patzke die blaue Mütze hervorgesucht, die er als Strandwärter trug. Nun lag die blaue Mütze wieder im Kasten. Mißmutig lief Patzke umher. Er war nicht einmal dazu gekommen, der Tänzerin die kleinen Schuhe zu überbringen, die kleinen Schuhe in Ilexgrün und in roten Beeren. Hämische Worte hatten ihm alle Lust daran verdorben.

Am nächsten Vormittag aber stand Emita vor dem Fenster und klopfte gegen die Scheibe. Patzke legte die Zeitung beiseite und seine Frau das Strickzeug.

»Kommen Sie doch rein«, lachte er. Frau Patzke holte ein Glas Milch und einen Apfel.

Da saß nun Emita und plauderte. Das war alles wie früher.

Emita besuchte auch Frau Seba, die Schmiedsfrau. Auch zum Schuster Laabs ging sie, und sie sprach bei Dan Lebbers mit vor. Nein, Emita versteckte sich nicht. Sie ging durch das Dorf, lachte und plauderte.

Es gab wohl welche, die über sie herfielen. Das waren giftige Zungen. Sollten sie Lust daran haben, wenn es ihnen gefiel. Die anderen verstopften die Ohren gegen die bösen Worte.

Es dauerte nicht lange, und Sureiken freute sich wieder an Emita, der Tänzerin. Patzke hatte ihr nun auch die kleinen Schuhe gebracht. Auf grünen Zweigen standen sie und in einem Gerank von Beeren.

Wenn Patzke setzt sagte: »Es wird Frühling, die erste Schwalbe ist schon da«, sagte niemand mehr etwas dagegen. Jawohl, es ging zum Frühling. Emita, die erste Schwalbe, war gekommen und in wenigen Wochen würden die frühen Narzissen blühn.

Einmal kam auch der alte Pastor Lorentz zur Tänzerin. Er glaubte sie trösten zu müssen und wollte ihr Mut zusprechen.

»Kind, was ist dir?« sagte Pastor Lorentz. »Nein, du mußt den Kopf hochhalten. Ein Kind ist ein Geschenk Gottes. Da war hier früher eine alte Frau, Lewe Haart hieß sie, nun ist sie schon tot. Der hatte der Himmel kein Kind beschert. Da hat sie sich eins ausgedacht. ›Josse ist nun beim Militär‹, sagte sie. Wenn die anderen Frauen von ihren Söhnen sprachen, erzählte sie von ihrem Josse. Da könnte ich dir manche Geschichte berichten von der Lewe Haart, liebes Kind. Nein, du darfst nicht den Mut verlieren. Wenn du mich mal besuchst, will ich dir von Lewe Haart noch mehr erzählen. Das wird dich aufrichten.«

Pastor Lorentz redete noch ein Weilchen über das Unglück des Menschen. »Da ist nichts gegen zu machen«, sagte er, »wir müssen es tragen, Leid und Freud. Du bleibst nun also vorläufig hier, liebes Kind?« fragte er.

»Ja«, antwortete Emita, »Frau Dahl behält dann das Kind bei sich. Bis zum sechsten Jahre, dachte ich, dann soll es Spitzentanz lernen.«

Pastor Lorentz konnte vor Überraschung keine Frage stellen. »Ja«, sagte Emita, »je früher es den Spitzentanz lernt, um so eher wird es Solotänzerin werden. Ach, ich möchte so gerne, daß das Kind einmal Ballettmeisterin wird. Dann ist es aus allem heraus.«

»So?« fragte Pastor Lorentz.

»Sie können es glauben, Herr Pastor«, sagte Emita, »ich freue mich auf das Kind. Ich habe es gleich Frau Dahl gesagt. Zuerst wollte ich es wegtanzen, doch jetzt bin ich froh.«

»Aber Kind, aber Kind«, sagte Pastor Lorentz erschrocken. Er blieb den ganzen Tag in Nachdenklichkeit.

Pastor Lorentz war ein guter Mensch. Er wußte, daß niemand ohne Schwächen war und er hatte sich seit Jahren bemüht, die eigenen zu erkennen und zu bekämpfen. Diese Einsicht veranlaßte ihn, Welt und Menschen milde zu beurteilen. Er versuchte alles zu begreifen und es kam selten vor, daß er aus der Fassung geriet. Nun saß er zu Hause und überlegte, was ihm da bei der Tänzerin Emita geschehen war. Er rief das kleine alte Fräulein Hoffenthal und sie saßen zusammen und schüttelten über die Tänzerin Emita den Kopf.

»Ich wollte ihr Trost zusprechen«, sagte Pastor Lorentz, »ich habe es auch getan, aber sie ist gar nicht zerknirscht gewesen. Sie hat gesagt, das Kind lernt Spitzentanz. Was sagen Sie dazu, Fräulein Hoffenthal?«

Was sollte nun das kleine alte Fräulein sagen? Auch sie hatte ihre kleine Bosheit im Herzen. Sie warf einen schiefen Blick auf die Weinflasche, die auf dem Schreibtisch stand, und antwortete:

»Wo die Sünde eingewurzelt ist, hilft auch kein Bußgesang.«

Pastor Lorentz merkte wohl, worauf sie hinauswollte. Etwas verlegen nahm er die Flasche vom Tisch und stellte sie neben den Stuhl. Er sagte nichts dagegen, als Fräulein Hoffenthal die Flasche mit hinausnahm. Seufzend setzte er sich an seine Predigt. Da kam es wohl, daß die Sätze, die er niederschrieb, mit jedem Worte zorniger wurden.

Am Sonntag gab es ein großes Aufhorchen in der Kirche. Pastor Lorentz, der gute alte Pastor Lorentz, wetterte. Er kämpfte gegen die Sünde an, die sich überall breitmachen wollte, so grimmige Worte fand er, daß die Andächtigen im Holzgestühl sich duckten. Sie wußten nicht, wen er meinte, aber sie ahnten, daß ihm Absonderliches widerfahren sein mußte. Jeder fragte sich ängstlich im stillen, ob auch ihn das angekündigte Strafgericht erreichen könnte.

Ja, es war schlimm, wie die Sünde sich breitmachte. Hoffärtig ginge sie einher, klagte Pastor Lorentz, und anstatt, daß sie in Scham und Reue an der Bank niedersänke, erhöbe sie das Haupt und tanzte auf den Spitzen.

Emita war nicht in der Kirche, dafür saß Frau Dahl wie auf glühenden Kohlen, als wäre sie die Sünderin, die nun alle Zornesworte einstecken müßte. Auch Lisa fühlte sich von jedem Wort getroffen. Zuerst hatte sie der Rede, die von der Kanzel herabdonnerte, Hartherzigkeit entgegengesetzt, doch nach und nach schmolz die Kälte, mit der ihr Herz die Predigt aufnehmen wollte. Sie begann zu weinen. Ach, sie war eine sündige Magd und mußte dankbar sein, daß man sie duldete. Sie hatte Mitleid mit sich und beklagte ihr Schicksal. Ach ja, es war ein großes Herzeleid. Sie war niedergeschlagen und nichts war mehr da von der Härte, mit der sie sich gegen Iben Kars aufgereckt hatte. Klein war sie geworden unter den zornigen Worten Gottes, und sie empfand es plötzlich als Glück, daß ein Mann da war wie Iben Kars, den sie in vielen Gedanken geschmäht hatte, daß er, der Alte, da war und seine Hand nicht von ihr zurückgezogen hatte.

Mit guten Vorsätzen ging Lisa nach Haus. In der Stube bei Iben Kars fand sie Christian.

Scheu noch vom eben Durchdachten trat sie ein. Sie verschloß das Gesangbuch und wollte sich lautlos wieder entfernen, doch Iben Kars hielt sie zurück.

»Ich habe Christian holen lassen«, sagte er, »du magst es mit anhören.«

Lisa setzte sich. Sie war ängstlich und wußte nicht, was daraus werden sollte. Sie blickte Christian an, und als sie sah, daß er ohne Verlegenheit war, dämmte auch sie ihre Angst.

»Ich bin alt«, sagte Iben Kars.

Lisa wollte widersprechen, aber er wehrte es ab. »Ich bin alt«, sagte er. »Es ist gut, wenn der Mensch es rechtzeitig erkennt. Ich wollte es lange nicht sehen, gut, nun hab ich's gesehen. Darüber brauchen wir nicht zu reden.«

Er senkte etwas den Kopf und mit dem Blick auf seine schweren Hände, die wie hartes Holz dalagen, sagte er:

»Es ist eine besondere Gnade des Himmels, daß er mir noch einen Erben bescheren wird. Es ist eine große Gnade«, sagte Iben Kars.

Lisa schluchzte leise. Sie war noch durchschüttert von der Predigt, und nun gingen ihr diese einfachen Worte nahe. Auch Christian hatte den Blick gesenkt. Er wünschte, daß diese Stunde vorüber wäre.

»Ja, es ist eine große Gnade«, sagte Iben Kars. »Ich wollte das hier einmal vor euch klarstellen. Ihr seid jung und glaubt eigene Wege zu haben. Auch ich habe das geglaubt. Wenn aber der Mensch die Uhr nicht mehr zerbrechen kann, weiß er, daß es keine eigenen Wege gibt. Ja, ich konnte die Uhr nicht zerbrechen. In meinen Händen ging die Zeit weiter.«

Iben Kars machte eine Pause, man hörte nur Lisas Schluchzen.

»Weine nicht«, sagte Iben Kars, »es ist alles zum Guten beschlossen.«

Da trocknete Lisa schnell ihre Tränen und sah ihn an.

Wenn es Iben Kars gegeben wäre, in der Frühzeit seines Lebens das Lächeln gelernt zu haben, würde er jetzt wohl dieses Lächeln zurückfinden. Wie schnell hatte doch Lisa die Tränen getrocknet. Doch das Gesicht von Iben Kars blieb unverändert, wie es immer ohne Veränderung war im Guten und im Bösen. Nur wenn der Zorn aufkam, stand er dickfällig zwischen den Brauen.

Nach dem Stillschweigen sagte Iben Kars zu Christian:

»Du warst neulich mit deiner Braut in Thorde.«

Christian wollte etwas dagegen sagen, doch schwieg er vor Iben Kars still. Lisa sah überrascht auf. Sie wußte nichts davon, daß Christian mit Emilie in Thorde gewesen war. Sie nahm an, daß Iben Kars Frau Drees meinte, von deren Fahrt nach Thorde Frau Dahl ihr damals erzählt hatte. Nun schien also auch Iben Kars für diese Heirat zu sein.

»Ich habe einen guten Eindruck von ihr«, fuhr Iben Kars fort.

Lisa lachte leise: wie konnte es anders sein? Er hatte sie selbst einmal sich zur Frau gewünscht. Das wußte jeder in Sureiken. Ja, Lisa mußte leise lachen.

Iben Kars sagte jetzt ohne Unterbrechung:

»Ich hab einen guten Eindruck von ihr und weiß, daß sie eine tüchtige Frau sein wird. Du wirst nicht falsch fahren. Es ist hier im Dorf mancherlei Geschwätz aufgekommen. Ich habe mich nicht darum gekümmert. Weil du nun aber meinen Namen trägst, wünsche ich, daß es nicht fortdauert. Auch um deines Vaters willen, meines Bruders, will ich es nicht. Wenn ich auch sein Leben nicht billigen konnte, habe ich doch immer eine Zuneigung gehabt. Ich bin froh, daß du dich vom Wasser getrennt hast. Ich weiß, es ist schwer, auf dem Land festen Fuß zu fassen. Ich will dir behilflich sein.«

Aber Iben Kars gibt seine Hilfe nicht dem, der ihrer nicht wert ist. Darum sagt er: »Hinter dem See hab ich sechs Morgen Land. Unland wäre es, könnten die Leute sagen. Ich hab es als Hütung benutzt. Die will ich dir als Heiratsgut überschreiben lassen. Zeig, was du kannst.«

Noch antwortete Christian nichts darauf. So also war der Alte. Hartes Brot warf er hin und befahl: Friß! Man hat keinen eigenen Weg, hatte er gesagt. Nein, es gab keinen eigenen Weg. Iben Kars jedoch wollte ihn anderen vorschreiben. Nicht mit lauten Schritten kam Iben Kars, wie er es früher getan hatte, vorsichtig trat er auf. Ich bin alt, sagte er, aber ich bin der Herr! Doch das verschwieg er.

Iben Kars wartete ein Weilchen, und als Christian nichts erwiderte, sagte er:

»Ich Hab das Land selbst urbar machen wollen, es ist liegengeblieben, weil es nicht dringend gebraucht wurde. Ich habe es nicht urbar gemacht, es gab Wichtigeres. Man kommt nicht zu Dingen, zu denen man nicht kommen soll. Es ist gut, daß das Land liegenblieb. Nun ist es dein Weg. Ich bin kein Freund von langem Hin und Her. Ich habe dir meinen Vorschlag gemacht. Nimmst du ihn an, soll alles gut zwischen uns sein.«

Weiter sprach Iben Kars nicht. Das andere konnte Christian sich ergänzen.

Lisa war kein Wort entgangen. Sie erschrak über den letzten Satz. Bittend blickte sie Christian an. ›Sei vernünftig‹, bat ihr Blick, ›und tu es. Du kennst den Alten, er kann hart sein und ohne Mitleid.‹

Christian lächelte etwas. Es war ein verlegenes Lächeln. Er wollte nicht zugeben, daß er in dieser Stunde der Schwächere war und keinen Rat wußte, wie er sich der Schlinge entziehen sollte. Er sah ein, daß es zum mindesten für Lisa böse ausgehen konnte, wenn er sich weigerte. Mit Samtworten war der Alte gekommen, aber unter der Milde waren Haken und Widerhaken verborgen.

›Ich will Zeit gewinnen‹, dachte Christian. Er lächelte verlegen und sagte:

»Du willst, daß ich mich gleich entscheide. Ich habe wohl daran gedacht. Doch so ein Entschluß will überlegt sein. Ich bin von der See gekommen, und ich gebe zu, daß es mir schwer fällt auf dem Lande. Ich hab zwar den Willen, doch weiß ich nicht, ob ich es schaffe.«

Iben Kars unterbrach ihn. Seine Stimme war gereizt.

»Du traust dir's nicht zu. Jeder Knecht würde es schaffen.«

Christian fuhr auf. »Ich würde mit deinem Ödland schon fertig.«

»Beweise!« rief Iben Kars. Er hob sich im Stuhl.

»Das will ich«, erwiderte Christian. Er stand zornig auf.

»Also ist es abgemacht«, antwortete Iben Kars wieder ruhig.

»Es ist abgemacht«, sagte Christian erregt.

»Dann werde ich am nächsten Sonntag mit Frau Drees sprechen wegen Emilie«, sagte Iben Kars.

Christian ging ohne eine Antwort.

»Emilie?« fragte Lisa verwirrt. Sie begriff erst jetzt, wen Iben Kars gemeint hatte. »Emilie?«

Doch Iben Kars hatte die Stube schon verlassen. Er ging durch die Ställe. Man merkte ihm nichts an. Er klopfte das Vieh auf den breiten Rücken und sprach zu ihm.

*


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