Walter Serner
Zum blauen Affen
Walter Serner

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Der rote Strich

Jaccoud, sternhagelbesoffen, brüllte durch Gekreisch und Rauch:

»Morgenroot, Morgenro-ot,
o, der Mensch ist ein Idio-ot.
Nein, es ist das Morgenrö-ötchen,
denn der Mensch ist ein Idiö-ötchen . . .«

Der Rest wurde von dem Radau zu Boden sausender Gläser verschüttet: Lucile war leidenschaftlich geworden.

»Bébé, hättest du jetzt das Näschen gerümpft, ich hätte dich wahrhaftig geschmissen.« Luciles übernasse Lippen verspritzten lieblich Moet-Chandon w. St.

»Nachdem er schon für vier Blaue geschmissen hat?« empörte sich Suntoff belustigt.

»Tais-toi, Iwan! Ich glaub einem die Begeisterung für meine Haut erst, wenn er sich déroutiert.« Luciles Kinn rieb sich schmeichelnd auf Bébés rundlich glitzernder Wange.

»Déroutiert?« Suntoff rülpste längere Zeit. »Ich wäre da stets im Zweifel, ob es sich nicht um reguläre Besoffenheit handelt.«

»Die Besoffenheit, c'est moi. Capito?« Lucile schluckte selbstbewußt.

»Capito,« benäselte sie nebenan Suzanne, deren Unteroffizier sich eben mit Ale beträufelte. »Schick doch mal ein Glas Schaum rüber! Ich möchte diesem Schwein die Hose putzen.«

»Morgenro-ot . . .« Jaccoud verkiekste sich, da Lucile, deren Achsel sein Mund benützen wollte, ihm einen Schluck Wein ins Gesicht spie.

Währenddessen flüsterte Madame Rosier, des Ensembles Besitzerin, da ihre Lippen ein roter Strich, Bébé ins Ohr: »Deux cents francs pour les verres cassés.«

»Deux . . .« lallte Bébé sulig und wühlte, von Luciles weißem Schenkel sehr lebhaft befeuert, ein Knäuel Banknoten aus seiner Hose, dem er fünf Fünfzigfrancs-Scheine entzupfte.

Einer flatterte zu Boden, in eine Weinpfütze: genau unter Suntoffs Schuhsohle.

Das soeben wieder weinfrei gewordene linke Auge Jaccouds hatte diesen sonderbaren Fall bemerkt. Sofort stieß er seinen Absatz auf Suntoffs Vorderfuß.

58 Der schrie entsetzlich auf. Vor Schmerz vornübergestülpt, kam er mit einem Elbogen in Mayonnaise zu liegen.

Als ihn Luciles Fußtritte auf seinen Stuhl zurückgeliefert hatten, trocknete Jaccoud längst wie besessen seine Beute zwischen Stuhl und Hemigloben.

Suntoffs singendes Pedal verbot jede Erhebung; umsomehr, als Madame Rosier entzückt seine Lendengegend streichelte, tröstend: »Ich pfeif dir Suzanne her, ja? Die soll hier mitsaufen.«

Suntoff küßte dankbar ihren fetten Hals.

»Nein, es ist das Morgenrö-ötchen . . .« schmetterten Jaccouds fünfzig Francs.

»Am schönsten ist die Natur, wenn sie jouissiert,« äußerte der Unteroffizier Blech, in Zivil Literat, derzeit bereits einsam, und beglotzte melancholisch Suzannes fabelhafte Hüften.

Majestics Earl Ragtime begann gummig aus dem Hauptsalon einherzugeilen.

Blechs kahlrasierter Edelschädel hing deshalb bereits wie getrennt über der Tischplatte. Plötzlich aber blieb er lüstern in der Luft stehen: Mouches zartbehemdete Beine quollen rundlich heran.

Von Blechs Tressen und Ale jedoch jäh entzaubert, lenkte sie ihren Schwung geistesgegenwärtig auf Jaccouds zitternde Knie ab, der sie, schnell wild, wenn auch heiser umfing: »Nein, du bist das Morgenrö-ötchen . . .«

»Es gibt nur eine einzige Lösung der Hypothesenlehre,« rief jetzt gänzlich unvermittelt Suntoff. »Man koitiere sich in einem Zuge zu Ende.«

»Nein, in einem Puff,« schrie Jaccoud gröhlend.

Sofort bemühte sich Mouche, seiner Besoffenheit beizubringen, daß er sich daselbst befinde.

Doch Jaccoud seufzte bereits wieder: »O, der Mensch ist ein Idio-ot . . .«

Mouche, durchaus dieser Ansicht geworden, hüpfte so heftig von Jaccouds Knien, daß er vom Stuhl glitt; befäustelte kurz ihre Äuglein ob dem Anblick der plattgesessenen Banknote; flatterte die getrocknete flugs hoch, barg sie zärtlich unterhalb der Coiffure und wogte alsbald beflügelter denn je hinweg.

Blech taumelte, dadurch und durch Suzannes unentwegte Zärtlichkeiten für Suntoff zur Rache geneigt, schwerfällig empor und entschlossen, Energie zu entwickeln, auf den immerhin entgeisterten Jaccoud zu: »Sie Morgenro-ot, die also Entschwebende hat sie beerbt«; hierauf an Bébés Tisch, bereits Suzannes krachendes 59 Händchen in den Schreibefingern: »Ich bin ein Genießer, kennt ihr meine Farben?«

»Bravo!« heulte Madame Rosier, drückte Blech ein Glas zwischen die Zähne und zerrte ihn dann an ihren Bauch.

Suzanne bog ihr Gelenk so genau gerade, daß sie zu schreien vergaß. Als es ihr einfiel, verhinderten sie Suntoffs fleißige Lippen bereits, es nachzuholen.

Lucile, die Blechs Hornhaut sich verdicken sah, setzte ihm ihr schuhloses Füßchen tremolierend in den Schoß, dessen Vergnügen Madame Rosier schnell auf sich zog, indem sie mit ihrem wulstigen nackten Unterarm so lange den dünnen Literatenhals massierte, bis der Edelschädel auf ihren zu diesem Behufe aufgesunkenen Mund niederhopste.

»Bébé, liebst du mich?« lispelte Lucile weinverschwitzt.

»Überall. Das sieht doch jeder Träumer.« Suntoff schob sich seitlich an Bébé heran, Suzanne als Deckung vor sich her küssend.

Und während Lucile, von Bébés lechzendem Kopfnicken wie hingerissen, sich in seinen Wanst verwalkte, preßte Suntoffs Knie die Faust Bébés, die seine letzten Banknoten umkrallt hielt, fest an das Fauteuilholz, so daß sie sich öffnete und mühelos leeren ließ.

Je mehr Bébé, nichts Gutes ahnend, sich unter Luciles Gluten wand, desto mehr steigerte er sie. Er schnaufte, schnappte, geiferte, quakte, quargelte, pfiff.

Lucile raste zweckentsprechend. Endlich stieß sie voll gut berechneter Begeisterung den Tisch um und schrie, Bébés Kopf von sich weisend: »Déroutier dich! Déroutier dich! Oder du liebst mich nicht!«

Madame Rosier nickte beifällig und versuchte vergeblich, Blech, der schon mit einem Fuße zwischen Suzannes von Suntoff verlassenen Beinen stand, zu betören.

Bébé hob erschüttert sein Fäustchen gen Himmel und ließ es drohend baumeln: »Suntoff, Suntoff, gib mir meine . . .«

Suntoff eilte überbeflissen herbei: »Galonen? Was, mein hehrer Gönner?«

»Meine, meine . . .« schwapperte Bébé verstört.

Suntoff warf ihm Lucile auf den Bauch.

»Bestohlen! Bestohlen!« Bébés zum Platzen rotgewordene Bäcklein erbebten gräßlich.

»Was?« Lucile fuhr vollendet beleidigt zurück. »Du Déroutenschwein! Das ist deine Liebe? Du kneifst? Ich – gestohlen?« Sie fetzte sich, nicht ohne Vergnügen, die Schwimmhose vom Leib. Und da sie Mouche, die gleichfalls splitternackt geworden war, 60 und Jaccoud sich prügelnd um die Ecke wanken sah, watschte sie, eine suggestive Kollegin, Bébé jämmerlich.

Madame Rosier warf sich heiter verzweifelt auf sie, Blech auf Suzanne, Suntoff auf die Tür.

Macioces Aristocratic Fox-Trot gab allem den Takt.

Als unter tatkräftiger Mitwirkung des Hauptsalons allmählich Gemessenheit in die Bewegungen kam, sauste Suntoff, achthundert Francs unablässig küssend, in ein Taxi, dessen Schlag Madame Rosier zublitzte.

Wieder im Salon, riß sie, weil geschäftstüchtig und auf Blech scharfsichtig hoffend, Suzanne aus dessen langen Armen, hieb ihr schallend auf den Hintern und keifte: »En avant! Au salon!«

Blech, der ohnedies sehr befürchtet hatte, fünf Francs würden nicht genügen, ließ sich unglücklich, aber doch auch ein wenig mit dieser Erledigung zufrieden auf die Weinreste nieder und lispelte: »O, wie lieb ich das Gelichter des Lebens!«

Lucile war längst verschwunden. Sie plätscherte sich in ihrer Wanne Wein und Wehmut aus, streckenweise hauchend: »Suntoff, du bist tipptoff!«

Bébé lag, eine dicke Weinleiche, in einer dunkelschillernden Pfütze. Sein Auge brach. Man ließ es geschehen.

Jaccoud jedoch, der seine fünfzig Francs endgültig verloren glaubte, fühlte sich plötzlich von hinten bedurft. Mouches flaumige Wange schob sich gegen die seine vor: »Komm, Bubi, du schläfst mit mir, du bist so stark . . .«

Jaccoud hatte soeben einen bläulichen Lichtstreifen oberhalb des Fenstervorhanges gesichtet und brüllte furchtbar: »Morgenrot, du Idio-ot!«

Madame Rosier aber feixte, an Blech heranwankend, niederträchtig. Ihre Lippen rollten sich langsam ein. Der rote Strich verschwand. 61

 


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