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1. Kapitel. Kleidersorgen.

»So was, das geht nun nicht, Fräulein Ellen, mit den paar alten Kleidchen, diesen Lümpchen, können Sie nicht zur Frau Hofrätin fahren. Ja, und fahren müssen Sie!«

»Muß ich es wirklich, Mutter Bienert?« Ellen Leander sah bedrückt auf die paar Kittelkleider, die Frau Berta Bienert, ihre Zimmerwirtin, sehr kritisch und sehr nachdenklich betrachtete. Groß war die Pracht wirklich nicht. Die dicke Frau Bienert stieß einen recht hörbaren Seufzer aus, hob ein schon verblichenes grünes Kleidchen empor und sagte vorwurfsvoll und mitleidig zugleich: »Und das hier ist nun Ihr Feinstes. Nä, nä, Fräulein Ellen, da muß was her, sonsten macht die Frau Tante gar zu hofrätliche Augen, so was das kenne ich.«

Ellen Leander mußte in all ihrer Sorge nun doch über die hofrätlichen Augen lachen, gleich darauf aber stürzten ihr die Tränen aus den Augen, sie umhalste die dicke Frau und rief klagend: »Aber Mutter Bienert, ich habe doch kein Geld.«

»Hä, so schlimm ist das nicht. Der Herr Direktor schickt doch das Geld alle Vierteljahr, na, und so knauserig wird er doch nicht sein und die Ferien abziehen. Das nehmen wir dann für'n Kleid. Na, hat die Bienerten nicht mal wieder recht?«

Frau Bienert sah sehr triumphierend drein, aber das trübe Gesicht Ellens hellte sich nicht auf. »Nein,« sagte sie leise, »für das – das Geld – soll Friedrich mitreisen, er muß mit!«

»Er muß mit!« Frau Bienert wollte das nicht so einleuchten; sie wiederholte deshalb die Worte langsam und fragte dann erstaunt: »Ja wieso denn? Die Frau Tante hat ihn doch gar nicht eingeladen. Und der Herr Direktor?«

»Nein, das hat sie nicht, weil sie ihn nicht kennt. Aber sie soll ihn kennen lernen, sie und der Onkel Gerhard,« rief Ellen eifrig. »Sie kennen ihn nicht, darum sind sie ungerecht gegen ihn. Und Onkel Gerhard ist doch unser rechter Vormund – ich denke immer, er weiß gar nicht, wie Friedrich von seinem Stellvertreter behandelt wird.«

Mutter Bienerten war zu erstaunt über diese Rede, sie mußte sich setzen. Sie sank mit einem lauten Ruck auf einen Stuhl nieder, faltete die Hände über den Leib und sagte fast andächtig: »Nä, was Sie klug sind, Fräulein Ellen.«

In dem lieben jungen Gesicht hellte ein Lächeln auf. Rasch kuschelte sich Ellen neben die dicke Frau und enthüllte derselben ihren ganzen Plan. Ihr Bruder Friedrich sollte mitreisen nach Wolkenburg, in die Heimat der Tante Hofrat Schilling. Dort sollte er in irgendeinem kleinen Gasthaus wohnen, und sie wollte der Tante und dem Onkel, der auch in Wolkenburg wohnte, allmählich erklären, wie ungerecht Friedrich behandelt würde.

»Das wird er nu wirklich,« sagte Frau Bienert. »Ist das 'ne Art, einen jungen Mann, weil er nicht werden mag, was der Herr Vormund will, einfach – nu sagen wir mal, vor die Türe zu setzen.«

Ellen nickte traurig. Ja, so war es. Vor ein paar Jahren hatten weder sie noch ihr Bruder gedacht, daß sie einst beide einmal das Gnadenbrot der Verwandten würden essen müssen. Da lebten ihre Eltern noch. Der Vater, der schon jung einen großen Ruf als Gelehrter hatte, und die heitere, tätige Mutter. Und dann starben beide kurz hintereinander, der Vater nach langem Siechtum, die Mutter erschöpft von der unermüdlichen Pflege und dem tiefen Gram. Es fand sich, daß für die Kinder nichts geblieben war. Das Vermögen hatte der Professor Leander für kostspielige Reisen und Forschungen aufgebraucht und war viel zu früh gestorben, um die Früchte seiner Arbeit noch ernten zu können. Zum Vormund der Kinder hatte er einen Verwandten, den Geheimrat Gerhard von Thurn bestellt. Doch dem alten Herrn schien das Amt zu mühsam. Er übergab alles einem Neffen, dem Bankdirektor Schilling, der erstattete ihm nur von Zeit zu Zeit Bericht über das Ergehen der Kinder. Für die Erziehungskosten hatte Geheimrat von Thurn eine Summe ausgesetzt, er hatte dafür Professor Leanders Sammlungen angekauft. Wie hoch der Preis war, wußten die Geschwister nicht, sie wußten auch nicht, wie weit des Onkels Interesse an ihnen ging, es fehlte ihnen jede Verbindung mit diesem, denn Direktor Schilling hatte stets betont, der Geheimrat wünsche nicht belästigt zu werden. Der Direktor war ein selbstherrlicher, kalter Mann. Er wünschte, die Kinder sollten widerspruchslos gehorchen und bestimmte, Friedrich Leander solle Bankbeamter werden. Als darauf der junge Mann, der seines Vaters Neigung zur Wissenschaft geerbt hatte, sich weigerte, dies zu tun, erklärte der Direktor kurz, dann möge er sehen, wie er durchkomme. Zum Studium erhalte er keinen Pfennig. Und dabei blieb es. Wille stand gegen Wille. Friedrich Leander dachte, es hat sich schon mancher durch seine Studienjahre durchgehungert, warum soll ich's nicht auch tun. Er hatte aber einen kleinen tapferen Kameraden zur Seite, das war seine Schwester Ellen. Die sollte nach Bestimmung des Direktors Lehrerin werden, und sie fügte sich, obgleich ihre Sehnsucht heimlich auch einen anderen Weg ging. Direktor Schilling hatte sie in einer guten und teuren Pension untergebracht und wunderte sich, als Ellen ihm eines Tages schrieb, sie möchte gern die Pension wechseln und zu Frau Bienert ziehen, dort wäre sie noch besser untergebracht. Meinetwegen mag sie, hatte der Direktor gedacht und dann die Sache über seinen vielerlei Geschäften vergessen. Er ließ vierteljährlich das Pensionsgeld an Ellen Leander anweisen und ahnte nicht, daß davon fortan die beiden Geschwister lebten. Er ahnte auch nicht, daß sie bei Frau Bienert zwei kleine einfache Stuben hatten und daß sich beide kümmerlich durchhalfen.

Friedrich hatte erst das Opfer der Schwester nicht annehmen wollen. Aber da hatte Frau Bienert, die in ihren jungen Jahren im Elternhaus bei Frau Leander diente, ihm herzlich zugesprochen. Zwischen dieser Zeit und der späteren Krankheit von Frau Leander hatten Jahre gelegen, aber der Zufall führte die beiden Frauen dann noch einmal zusammen, und die Professorin hatte die schlichte Frau dabei gebeten: »Denken Sie ein bißchen an meine Kinder.«

Frau Berta Bienert vergaß das Wort nicht. Von Zeit zu Zeit tauchte sie in der Pension auf, in die Direktor Schilling Ellen gebracht hatte, und Ellen war es dabei immer so, als brächte sie ihr ein Stück Heimat mit. Professor Leander war schon krank in die große fremde Stadt übergesiedelt, und das schwere Erleben hatte die Kinder nie recht heimisch darin werden lassen. Wie wurzellos waren sie, voll Sehnsucht nach der kleineren Stadt, aus der ihre Mutter stammte, in der sie ihre ersten glücklichen Jugendjahre verlebt hatten. Und Frau Bienert wußte von dieser kleinen Stadt, sie wußte von der Mutter Jugendzeit, von dem Haus im Garten, in dem diese groß geworden war. Frau Bienert war auch in der großen Stadt nie recht heimisch geworden. Sie ist nach dem Tode ihres Mannes, der Briefträger war, in der Stadt geblieben und vermietete, wie dies viele einsame Frauen tun, ihre Zimmer.

Irgendein Studentlein befand sich immer wohl in Frau Bienerts Obhut. Reichtümer erwarb sie sich nicht, aber jeder, der sie verließ, bewahrte ihr im Herzen ein gutes Andenken.

Zu Frau Bienert war Ellen Leander in ihrer Sorge um den Bruder geflüchtet, und Frau Bienert hatte gemeint, für das, was Ellen verbrauche, könnten zur Not alle beide leben, gerade nicht üppig, aber – und da war Ellen der dicken Frau um den Hals gefallen und hatte gerufen: »Wir ziehen zu Ihnen, Frau Bienert, ach, dann ist's ein bißchen wie zu Hause!«

Es war wirklich ein bißchen wie zu Hause, denn Frau Bienert sorgte mütterlich für die beiden jungen Menschen. Die hausten zufrieden in ihren kleinen Zimmern, waren fleißig und redeten manchmal von der Zukunft und von erreichten Zielen. Friedrich Leander tat dies mit dem Frohmut eines jungen Menschen, der seinen rechten Lebensweg gefunden hat. Ellen wurde dann mit dem Bruder froh und verhüllte unter dieser Freude ihre eigene Sehnsucht. Über ein Jahr schon wohnten die beiden zufrieden zusammen, als für Ellen unvermutet eine Einladung der Frau Hofrat Schilling, der Mutter des Direktors, kam, die eine Base des Professors war. Sie hatte sich bisher nie um die verlassenen Kinder gekümmert, aber nun schrieb sie auf einmal, Ellen möchte die Sommerferien bei ihr zubringen. Zugleich kam ein Brief, in dem Direktor Schilling sie ermahnte, der noch unbekannten Tante, seiner Mutter, ja eine zusagende Antwort zu geben. Sie möchte es indessen vermeiden, in Wolkenburg von ihrem Bruder zu sprechen, auf den sei man sehr erzürnt. Der letzte Nachsatz hatte Ellen jede Freude an der Einladung verdorben. Erst dann wurde sie wieder froh, als ihr zum Bewußtsein kam, daß ja auch in Wolkenburg ihr eigentlicher Vormund wohne, der vom Vater ausgewählte Beschützer für sie. Nun würde es ihr gelingen, ihn endlich zu sehen, und vielleicht konnte sie dann auch trotz des Direktors Verbot mit ihm von Friedrich sprechen. Und heimlich schmiedete sie den Plan, Friedrich sollte mit nach Wolkenburg reisen, um dort zu wohnen wie irgendein Sommergast. Sie wollte dann zu dem Oheim von ihm sprechen und vielleicht, nein, ganz sicher, würde der schließlich verlangen, Friedrich zu sehen, und dann –.

»Und dann wird er ihn schon verstehen, wird ihn lieb gewinnen,« rief Ellen Leander, die der guten dicken Frau Bienert ihren schönen heimlichen Plan enthüllt hatte. »Wird er nicht, Mutter Bienert?«

»Nu freilich, ja doch, er wird schon.« Frau Berta Bienert nickte gleich dreimal. Und dann sagte sie weiter: »Sie sind wirklich klug, Fräulein Ellen.«

»Onkel Gerhard ist doch selbst ein Gelehrter, sein Name ist berühmt, sagt Friedrich, der muß doch verstehen, daß einer lieber studiert als zur Bank geht.« Ellen spann ihre Gedanken weiter aus, und ihre Beschützerin nickte wieder und wieder. »So einer, der immer mit Geld und mit weiter nischt als Geld zu tun hat, der kann das eben nich verstehen,« sagte diese. »Wie Ihre Mutter selig sich verlobt hat, dazumal hatt' ich ja schon meinen guten Bienert, da hab' ich gleich gesagt: Fräulein Lottchen muß was Gelehrtes freien, die ist fürs Geistige.«

»Ach, erzählen Sie mir doch etwas von Mutter und den Großeltern,« bat Ellen, »ich habe heute nicht so viel zu lernen, ich arbeite ein bißchen dabei.«

»Ist recht,« sagte Frau Bienert, die nur allzu gern die schon oft erzählten Geschichten wiederholte. »Aber,« fügte sie seufzend hinzu, »mit den Kleidern sind wir noch nicht im reinen. Herrjeh, jetzt fällt mir was ein« – unterbrach sie sich selbst, sie sprang trotz ihrer Dicke mit großer Behendigkeit auf, lief aus der Stube und kehrte nach einer Weile mit einem sorglich umhüllten Paket zurück. Sie wickelte es aus, und ein paar feine wie Seide glänzende Linnentücher kamen zum Vorschein. »Die hat mir dazumal Ihre Großmutter selig geschenkt, als es mit Bienerten richtig wurde,« erzählte sie. »Aber alleweile sind sie mir zu fein gewesen, und nu machen wir 'n Staatskleid draus. Sie sticken was um Hals und Ärmel, Fräulein Ellen, das geht ja bei Sie wie's Brezelbacken, das wird 'n Staat. Und aus dem alten Weißen nähen wir 'ne Bluse, na, die Frau Hofrätin soll schon staunen, wenn unser Fräulein Ellen ankommt!«

Ellen Leander strich behutsam über das seidenzarte Linnen. »Das geht doch nicht, Mutter Bienert,« sagte sie bedrückt, »das ist doch –«

»Unsinn,« unterbrach sie die dicke Frau. »Möchte wissen, was dabei ist, wenn Sie aus den Tüchern von Ihrer Großmutter selig ein Kleid bekommen. Oder ist man zu vornehm, so was von der Mutter Bienerten, die kein Kind und kein Kegel hat, anzunehmen, hä?«

Da fiel Ellen Leander lachend und weinend der treuen Schützerin um den Hals und sagte fröhlich zu allem ja, was diese ihr vorschlug. Sie machte sich auch gleich auf den Weg, um ein Schnittmuster zu holen, denn der teure Schneiderinnenlohn sollte gespart werden; Mutter Bienert meinte zuversichtlich: »Das kriegen wir alleine.« Sie suchte gleich ihre große Schere hervor und sah die weißen Tücher so kampfbereit an, daß Ellen Leander eiligst davonlief, um den Schnitt zu holen, sie merkte schon, Mutter Bienert war tatendurstig, das Zuschneiden mußte heute noch begonnen werden. Und schließlich war ein neues Kleid, ein weißes Leinenkleid dazu, schon lange ein heimlicher Wunsch von ihr gewesen, der nun in Erfüllung gehen sollte und als Ereignis in Ellens Leben zu werten war. Sie hüpfte die enge steile Treppe eilfertig hinab, bog beim letzten Absatz etwas schnell um und wäre wohl zur Haustüre hinausgefallen, wenn sie unten ihr Bruder Friedrich nicht aufgefangen hätte. Der hielt sie fest, sah ihr erstaunt in das heiße, noch etwas verweinte Gesicht und fragte betroffen: »Ellen, was gibt es, was ist geschehen?«

»Komm mit!« Ellen sah auf des Bruders Büchertasche, sie war klein, und sogleich überlegte sie, zu schwer hatte er nicht zu tragen, und kam er jetzt schon heim, so hatte er auch von der Universität aus keinen Umweg gemacht. Etwas Luftschnappen an diesem warmen Junitag konnte ihm daher nur gut sein. Sie bettelte noch einmal: »Komm mit, begleite mich, ich erzähle dir alles unterwegs, ich habe mit dir viel zu besprechen.«

»Es ist recht, ich gehe mit,« sagte Friedrich, und die Geschwister schritten aus dem grauen Haus auf die im Sonnenglanz liegende Straße.


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