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Der Reisetag kam beinahe schneller, als es Ellen lieb war. Auf einmal hieß es: »Morgen fahren wir.« Ellen hatte schon acht Tage Ferien, aber da Friedrich nicht früher mitreisen konnte, hatte sie die Abreise verschoben. Und der Tante in Wolkenburg war es recht gewesen, ja, fast meinte Ellen aus ihrem Brief herauszulesen, daß ihr an einem langen Besuche nicht allzuviel lag. Das dämpfte ihre Freude sehr, und sie schaute am Abend vor der Abreise ein wenig kummervoll auf den Koffer, der mitten in ihrem Zimmer stand. Er hatte noch seinen Deckel aufstehen, um das weiße Festkleid aus Mutter Bienerts Betttüchern aufzunehmen. Selbst Friedrich fand das Kleid wunderschön, und es war ein feierlicher Augenblick, als Ellen es zur Probe angezogen hatte. Mutter Bienert wachte ängstlich über seiner weißen Schönheit, und jedesmal, wenn sie es ansah, mahnte sie: »Aber recht oft anziehen, Fräulein Ellen, damit die in Wolkenburg es sehen, daß Sie auch fein einhergehen können.«
Ellen versprach es. Und zuletzt, als Mutter Bienert selbst das weiße Gewand in den Koffer legte, da fing doch wieder in Ellens Herz die Reisefreude leise zu singen an. Sie war noch so wenig herausgekommen in ihrem jungen Leben, und hatte deshalb eine große Sehnsucht, etwas von der schönen weiten Welt zu sehen. Am Abend vor der Abreise stimmte sie fröhlich das Lied an: »Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern.«
Am nächsten Morgen bestiegen die Geschwister vergnügt ein Abteil vierter Klasse. »Zweimal zwei ist vier,« hatte Ellen ausgerechnet, denn zur zweiten Klasse hatte Direktor Schilling ihr das Geld bewilligt. Geschickt hatte er es ihr nicht. Denn er hatte die Pensionsersparnis angerechnet. Das war ein bitterer Tropfen für Ellen gewesen, sie rechnete und rechnete, aber so niedrig sie auch alles veranschlagte, so recht reichen wollte es doch nicht. Schließlich redete ihr Frau Bienert die Sorgen aus. »Es wird schon alles gut werden,« sagte die dicke Frau gutherzig und rechnete dabei heimlich aus, ob sie es nachher den beiden nicht noch etwas billiger einrichten könnte. Und als Friedrich erklärte, er möchte doch lieber auf die Reise verzichten, da machte sie ihn darauf aufmerksam, daß er, auch wenn er hier bleibe, nicht von der Luft leben könne.
Friedrich sah das ein. Er war nicht minder unerfahren im Reisen als seine Schwester Ellen, Frau Bienert war nur einmal gereist, damals als ihr seliger Bienert sie heimholte, und so brachten denn diese drei einen Reiseplan zustande, der mit der lieben Wirklichkeit nicht recht übereinstimmte. Aber die vierte Klasse stimmte, und allen dreien, den Geschwistern, die drin saßen, und Frau Bienert, die draußen stand, gefiel dies Fahren ganz gut. Ellen hatte gesagt, in Wolkenburg springe ich gleich heraus, damit es die Tante nicht merkt, daß ich ›Vierter‹ komme, nachher erzähl' ich's ihr. Sie sagte beim Einsteigen auch zu ihrem Bruder: »Recht nahe an die Türe, damit ich flink hinaus kann.«
»Herzensschwester, wir müssen doch viermal umsteigen.«
»Ach du lieber Himmel, ja. Nun, da kommen wir immer wieder etwas in Bewegung.«
Ellen sah höchst vergnügt drein, Frau Bienert brummelte irgend etwas. Kein Mensch konnte es verstehen, und nachher, als der Zug schon langsam zur Bahnhofshalle hinausfuhr, sagte die dicke Frau noch einmal vor sich hin: »Wenn die Frau Hofrätin noch so zimperlich ist wie damals das Linchen, dann wird sie ja Augen machen.«
Und die Frau Hofrat Schilling machte neun Stunden später auch wirklich Augen. Sie stand im lichtgrauen Kleid und grauem Hut sehr vornehm und modern gekleidet auf dem Bahnhof der kleinen Stadt und musterte durch ein Augenglas alle Aussteigenden. Und weil in Wolkenburg nicht sehr viele Menschen ausstiegen, Ellen das flinke Herausspringen auch nicht gelang, denn eine sehr dicke Frau mit einem mächtigen Korb wollte vor ihr heraus, erkannte die Tante gleich die Nichte. Ganz starr und steif blieb Frau Hofrat Schilling mitten auf dem Bahnsteig stehen, und Ellen sah sich erst eine Weile unsicher um, ehe sie sich an die vornehme Dame heranwagte. War dies nun die Tante Caroline?
Sie knixte schüchtern und stammelte ihren Namen. »Du bist also doch Ellen Leander, und du kamst – vierter Klasse?« Es klang vernichtend. Die wasserblauen Augen der Dame musterten scharf und ohne Güte das junge Mädchen, und Ellen wäre am liebsten umgekehrt, wäre zu ihrem Bruder Friedrich gelaufen, der ferne stand und dreinsah, als wäre ihm Ellen wildfremd. Und doch mußte Frau Schilling das letzte rasche Abschiednehmen gesehen haben, denn sie fragte, als sie mit der Nichte dem Ausgang zuschritt: »Wer war denn der junge Mann, mit dem du gefahren bist?«
Ellen wurde so rot wie die Abendsonne, die gerade vor ihr hinter einem Waldberg niederging. »Er hat mir geholfen,« stammelte sie. Das war doch wenigstens keine Unwahrheit, aber ihre Antwort schien die Tante nicht recht zu befriedigen, sie kniff die Lippen zusammen und sagte unduldsam: »Es ist unschicklich für ein junges Mädchen, unterwegs mit fremden Herren zu sprechen. Freilich, wenn man vierter Klasse fährt!« Sie dehnte das vierter ganz lang und höhnisch.
Ellen Leander brauchte keine Antwort zu geben, der Ausgang war erreicht, und ein verdrossen aussehender Mann nahm ihr die Tasche ab.
»Wir müssen gehen,« sagte Frau Schilling, »allzuweit ist es nicht, ich wohne natürlich am Höhenweg.«
Warum dies so natürlich war, verstand Ellen nicht. Ihr war das Gehen nach der langen Fahrt gerade recht, und eben wollte sie beginnen, sich aufatmend ein wenig umzusehen, als die Tante streng mahnte: »Aber Ellen, passe doch auf, soeben hat uns die Frau Oberst von Baumüller gegrüßt. Wo hast du denn deine Augen?«
Ellen sah gerade noch eine kleine dicke Dame davoneilen, und sie vernahm von der Tante, Oberst von Baumüller hätte sich schon vor zehn Jahren eines Leidens wegen nach Wolkenburg zurückgezogen. »Sie gehören auch zu den ersten Familien der Stadt,« sagte die schmale blasse Dame, und Ellen Leander hörte aus den Worten heraus, wie stolz die Tante darauf war, ebenfalls zu diesen ersten Familien zu gehören. Und ein paar Minuten später erfuhr sie, daß der Höhenweg des Städtchens vornehmste Straße war, wer »Am Höhenweg« wohnte, gehörte unbedingt zur guten Gesellschaft. Dieser Höhenweg hatte helle freundliche Häuser, etliche von ihnen gehörten wohl schon einer vergangenen Zeit an, es waren behagliche Biedermeierhäuser, und Ellen dachte beim ersten dieser Häuser, ob hier die Tante wohnt. Die ging aber vorbei und blieb nach wenigen Minuten an einer kleinen, mit falschem Prunk überladenen Villa stehen. »Willkommen in meinem Hause,« sagte sie stolz aber ohne jede Herzlichkeit. Ellen schreckte leicht zusammen, als sie in den kühlen, eleganten Flur trat. Unwillkürlich mußte sie an den winzigen Vorplatz bei Frau Bienert denken, der immer nach der Küche roch und in dem kaum noch die dicke Frau Bienert neben Kleiderschrank und Kommode Platz hatte. »Marie kann dich in dein Zimmer führen,« klang die Stimme der Tante kühl. »In einer halben Stunde speisen wir, um deinetwillen geschieht es heute später.«
Ellen Leander senkte den Kopf. Dieses Um-deinetwillen klang, als hätte die Tante mit dem Warten auf sie ein ungeheures Opfer gebracht. Neben ihr sagte eine helle Stimme: »Hier herum geht es, gnädiges Fräulein,« und nun erst sah Ellen die neben ihr gehende Marie an. Sie war ein blasses, etwas verkümmertes Ding, hatte aber lebhafte braune Augen und um den Mund einen Schelmenzug. Im oberen Stockwerk schloß sie ein Zimmer auf, ließ Ellen eintreten, und da unten nach ihr schon gerufen wurde, sagte sie schnell: »Wenn das gnädige Fräulein etwas brauchen oder – mal etwas wissen wollen, ich helfe gern!« Und husch! weg war sie.
Ellen sah ihr verdutzt nach. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht ›gnädiges Fräulein‹ genannt worden, dabei hatte dies gar nicht sehr respektvoll geklungen, sondern eher, als hätte die kleine blasse Marie gesagt: »Du bist jung und einsam, ich bin es auch, da gehören wir zusammen.«
Sie begann seufzend ihre Sachen auszupacken, das weiße Kleid zuerst. Als sie es zum Schranke trug, dachte sie an den Eindruck, den die Tante auf sie gemacht hatte, und sie ahnte dumpf, diese würde ihre Kleiderpracht nicht gerade überwältigend finden. Sie zog sich dann schnell die neue weiße Bluse an und war gerade fertig, als es unten laut klingelte. Gleich darauf klopfte es draußen. Marie steckte den Kopf zur Tür herein und tuschelte: »Es hat zum Essen geläutet. Die gnädige Frau kann das Zuspätkommen nicht leiden.«
Weg war sie wieder. Ellen Leander stieg ein wenig beklommen die Treppe hinab und wurde unten von Marie in ein Zimmer gewiesen, in dem ein gedeckter Tisch stand. Die Fenster des Zimmers gingen nach dem Garten hinaus. Doch der war nicht wie sich Ellen Leander einen Garten dachte voller Blumen und dichter Büsche, ein wenig verträumt und geheimnisvoll; sondern sehr sauber, sehr gespreizt und etwas kahl. Alle Wege waren mit weißen Kacheln eingefaßt, nur ein paar Rosenbüsche gab es, sonst nur Rasenflächen und im Hintergrunde lange niedrige Buschreihen. Vielleicht waren es Himbeerbüsche. Ellen Leander mußte an Frau Bienerts Erzählung denken, aber das Lächeln, das ihr kommen wollte, erstarb gleich wieder, denn sie hörte die Tante kommen. Frau Hofrat Schilling rauschte in Wahrheit in das Zimmer. Sie trug jetzt ein seidenes Kleid, und sah sehr feierlich und sehr unnahbar in ihm aus.
Es war ein ungemütliches Mahl. Tee gab es und allerlei sehr dünne Schnittchen, auch eine Platte mit kleinen Kuchen. Von denen aß die Hofrätin selbst sehr reichlich, Ellen bekam nur einmal angeboten, und sie dachte mit einiger Sehnsucht an Frau Bienerts herzhafte Schnitten und Schüsseln voll Kartoffeln. Leckerbissen bekamen die Geschwister bei ihrer Beschützerin nicht, aber hungrig blieben sie nie, und es war gut, daß Ellen für diesen Abend noch etlichen Vorrat hatte. Freilich trotz aller Reisemüdigkeit kam sie nicht sobald zur Ruhe. Die Tante verlangte nach Tisch von ihr einen ausführlichen Bericht über ihr Tun und Treiben.
Als die Reise noch geplant wurde, hatte Ellen Leander immer gedacht: ich sage gleich alles, erzähle, wie es uns ergangen ist. Aber diesen kühlen Augen gegenüber verstummte sie, mühsam erzählte sie allerlei vom Seminar, und es wurde ihr schwer, die Worte zu finden. Frau Hofrat Schilling hatte eine Art zu fragen, als wäre sie ein Richter, und vor ihr säße ein armes angeklagtes Sünderlein. Endlich hörte sie aber doch auf, sie schob Ellens Verwirrung auf Schüchternheit, und so begann sie zu erzählen von dem Geheimrat von Thurn. Sie kniff dabei die Augen etwas zusammen, nannte ihn einen wunderlichen alten Herrn und ermahnte Ellen, ihn ja nicht weiter mit ihren Angelegenheiten zu behelligen. »Er liebt das nicht,« sagte sie, »liebt es ganz und gar nicht.«
In Ellen Leanders Herzen stürzte ein schönes lichtes Hoffnungstürmchen ein, das sie sich da aufgebaut hatte. Es war gut, daß sie mit der Tante im Dämmerlicht saß, da konnte diese die tiefe Betroffenheit auf dem Gesicht der Nichte nicht so sehen.
Frau Schilling hüstelte auf einmal, verlegen klang es, und dann sagte sie hastig, als möchte sie eine unangenehme Sache los sein: »Ja, morgen werden wir natürlich dem Geheimrat einen Besuch machen, und dann auch – hm – meiner Schwester.«
»Ihrer Schwester?« Ellen fragte es grenzenlos erstaunt, denn daß die schöne Regine, von der Frau Bienert erzählt hatte, auch hier leben könnte, daran hatte sie gar nicht gedacht.
»Ja, ich habe noch eine Schwester. Du bist darüber erstaunt, mein Kind, das konntest du freilich nicht wissen.«
Ellen hätte beinahe gesagt: doch, Frau Bienert hat es mir erzählt, aber sie hielt das vorschnelle Wort noch zurück, und die Tante begann verlegen von ihrer Schwester zu erzählen. Diese wäre leider etwas sonderbar, sehr derb und gegen sie sehr ungerecht. Sie hätte viel Not mit dieser Schwester auszustehen, und sie wünsche gar nicht Ellens Verkehr bei ihr. Einen Besuch müßten sie machen, das gehöre sich so, auch einmal zum Kaffee hingehen, doch damit wäre es genug. Und nach dem sie der Nichte noch von allerlei Bekannten erzählt hatte, durfte diese zu Bett gehen.
Ellen ging wie in einem wirren Traum die Treppe hinauf. Oben in ihrem Zimmer, das ihr jetzt erst als kahl und unwohnlich auffiel, blieb sie stehen und sann dem Gehörten nach. So fremd und kühl hatte ihr alles geklungen. Die Tante eine fremde, fremde Frau. Sie wußte es an diesem ersten Abend, Frau Caroline Schilling würde für Friedrichs schweres Ringen kein Verständnis haben, sie nicht, und wenn der Vormund ihrer Schilderung entsprach, auch er nicht. Und was dann? Über Ellens Wangen rannen die Tränen, ganz hilflos und verlassen kam sie sich vor, aber da war es auf einmal, als töne aus der Ferne zu ihr eine gute, herzwarme Stimme, die sagte: »Ja, und Fräulein Ellen, wenn's da nicht so recht bei die Verwandten ist, denken Sie an Mutter Bienerten, die verläßt Sie beide nicht, ih bewahre!«
»Mutter Bienert,« flüsterte Ellen leise, sehnsüchtig und doch wunderbar getröstet. Sie trocknete ihre Tränen, hielt sich selbst eine kleine Mahnrede, doch vernünftig zu sein, und trat dann ans Fenster, durch das eine frische, nach Wald und Blumen duftende Luft in das Zimmer strömte. Es war ein klarer schöner Abend, und Ellen konnte erkennen, wie sich die kleine Stadt am Berg entlang zog, auf dem Weg vom Bahnhof her hatte sie sich vor lauter Befangenheit gar nicht so recht umgeschaut. Nun erst ließ sich übersehen, wie hübsch der Ort lag. Sie sah tief im Tale etwas blitzen und blinken, das Flüßchen war es, an dem Wolkenburg lag. Und zur Seite des Hauses stieg der Weg höher und höher. Von dort her funkelten einzelne Lichter, die wohl anzeigten, daß der Höhenweg bis zu den Waldbergen sich hinzog. Und am Höhenweg, ganz oben, sollte des Vormunds Haus stehen. Kam das letzte einsame Licht von ihm, das Ellen noch leuchten sah? Von dem unbekannten Onkel gingen ihre Gedanken zu dem Bruder, wo weilte der, wo hatte er ein Unterkommen gefunden? Und wann würde sie ihn wiedersehen? Daheim in Mutter Bienerts Stube beim fröhlichen Plänemachen war ihnen allen das Zusammentreffen an jedem Tag ganz leicht erschienen. Jetzt zagte und bangte sie. Diese Tante Caroline sah ganz so aus, als würde sie alle ihre Schritte bewachen, wie sollte sie es da anfangen, Friedrich zu sehen?
Ihre Tür ging ganz leise auf und schloß sich leise wieder, und als sich Ellen erschrocken umwandte, sah sie die blasse kleine Marie im Zimmer stehen. Die legte den Finger auf den Mund und kam auf den Zehenspitzen näher. Da unten am Gartenzaun ist 'n Herr, der möchte das Fräulein sprechen, flüsterte sie.
»Mein Bruder,« rief Ellen erschrocken und unbedacht.
Marie sah sie erst erstaunt, dann nachdenklich an. Sie nickte langsam. »Ja, ähnlich sieht er Ihnen schon,« erwiderte sie leise. »Er sagt aber, die Frau Tante dürfe nichts wissen. Da kommen Sie nur, ich führe Sie die Hintertreppe runter, Sie müssen aber ihre Schuhe ausziehen.«
Ellen folgte stumm. Das heimliche Tun bedrückte sie. Vor ein paar Stunden hatte sie noch vergnügt neben dem Bruder im Abteil gesessen, nun mußte sie scheu auf Strümpfen zu ihm schleichen. »Hier herum!« Marie zeigte ihr den Weg, und sie gelangten beide an einen kleinen Vorbau. An dessen offenem Fenster lehnte Friedrich, der der Schwester ganz gemütlich entgegenschaute. »Ich mußte dich doch noch sehen,« sagte er, »mußte wissen, wie es dir ergeht.« – »Aber,« stammelte Ellen, »wie bist du denn hereingekommen?«
»O, ganz leicht,« sagte Friedrich vergnügt, »einfach über die niedrige Mauer, ich wohne – dicht nebenan.« Er hielt Ellen flink den Mund zu, denn diese hätte beinahe laut aufgeschrien vor Erstaunen. Und dann erzählte er, erst wäre er in Wolkenburg herumgelaufen, hätte sich umgesehen und nirgends ein rechtes Unterkommen gefunden. In einem Gasthaus, das den freundlichen Namen ›Zum Winkel‹ trage, habe er nach einem Zimmer gefragt, auch nach den nächsten Dörfern, aber alles wäre besetzt gewesen. Doch sei er mit der Wirtin in ein Gespräch gekommen, die hätte ihn dies und das gefragt, und mitten im Schwätzen hätte sie auf einmal gesagt, sie wüßte ein Quartier für ihn. Oben am Höhenweg, das Fräulein Andernach, hätte ein Zimmer frei, zu der solle er doch gehen und sagen, sie, die Wirtin vom ›Winkel‹ schicke ihn. Das hätte er auch getan, und Fräulein Andernach, eine ältere, sehr schöne Dame, hätte zwar erst allerlei Kreuz- und Querfragen getan, ihn aber dann doch aufgenommen. Am schwersten war's mit dem Namen,« schloß Friedrich, »sie hat mir zwar den Müller geglaubt, aber mir war's schimpflich, daß ich ihr nicht meinen richtigen Namen sagen konnte. Doch so in der Nachbarschaft hab' ich es nicht gewagt.«
Ein leises Husten ertönte, und gleich darauf trat die blasse Marie zu den beiden: »Die gnädige Frau läßt jetzt den Flick heraus,« sagte sie, »und der bellt dann, daß es nur so 'ne Art hat. Und dann wird sie unruhig und – herjeh, da ist er schon.«
Ein wütendes Gebell wurde laut, Friedrich tauchte erschrocken im Garten unter, durch den raste wie toll geworden ein Spitz, und Friedrich hatte Mühe, nach dem nachbarlichen Garten zu flüchten. Marie ergriff Ellens Hand, zog diese rasch mit fort, und beide waren gerade oben angelangt, als unten die Stimme der Tante scharf ertönte: »Marie, Marie, was ist denn das, Flick bellt ja so laut, ich höre Schritte im Haus? Marie, Marie, wo stecken Sie denn?«
»Hier!« Marie antwortete ganz gelassen, während sie Ellen gleich in ihr Zimmer schob, dann ging sie die Treppe hinab. Ellen hörte unten noch eine Weile sprechen, hörte Flick bellen, dann wurde es still im Haus.
Sie begann sich auszuziehen. Ganz mechanisch tat sie es. Ihr war das Herz so schwer. Sie sah sich in ein Gewirr von Heimlichkeiten verstrickt, und der froh ersonnene Plan kam ihr jetzt töricht vor. Wer weiß, ob sie dem Bruder helfen konnte, ja, vielleicht verschlimmerte sie noch alles. Sie wollte nicht, aber sie mußte weinen. So einsam, so unglücklich fühlte sie sich. Weinend legte sie sich in das etwas harte Gastbett, sie weinte und weinte, bis ein freundlicher Traum ihr die Tränen trocknete. Im Traum wirrten dann die Geschehnisse des Tages wild durcheinander, und als Ellen von einem Klopfen an der Türe erwachte, richtete sie sich schlaftrunken auf, und mußte sich erst besinnen, daß sie in Wolkenburg bei ihrer Tante Caroline war.
Draußen rief die Stimme der blassen Marie: »Es wäre nun aber Zeit zum Aufstehen, läßt die Frau Tante sagen.«