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Frau Bienert mußte an diesem Nachmittag samt ihrer großen Schere sich in Geduld fassen, denn Ellen Leander, die sonst in allen Dingen flink wie ein Wiesel war, kam und kam nicht wieder. »Wenn se den Stoff mit hätte, dächte ich, sie machte gleich das Kleid,« brummte Frau Bienert, als sie zum fünften Male aus dem Fenster blickte und Umschau nach der Ausbleibenden hielt. »Na, und nu mach' ich das Abendbrot, dann wird se schon kommen.«
Vielleicht war es gerade in dem Augenblick, als Friedrich Leander zu seiner Schwester sagte: »Jetzt wollen wir umkehren, sonst wartet Mutter Bienert mit dem Abendessen auf uns.«
Sie liefen beide einen grünen, etwas vom Großstadtlärm entfernten Weg entlang und hielten sich dabei wie die verlaufenen Kinder im Märchen an den Händen. Ellen hatte dem Bruder ihren Plan enthüllt, und der hatte erst nein gesagt, er wollte sich den Verwandten nicht aufdrängen. Doch der Schwester sanftes Zureden hatte das Nein in ein Ja verwandelt. Ellen hatte recht, der Vormund selbst kannte ihn ja gar nicht, und vielleicht gelang es doch, Anerkennung bei ihm für sein Studium zu finden. Auch fiel er ja den Verwandten nicht zur Last, wenn er irgendwo wohnte. Es war ein freudiges Rechnen, das beide anstellten, Ellen kletterte mit ihren Ansprüchen für den Bruder ein bißchen in die Höhe, behauptete, sie brauche selbst gar nichts, er aber redete von einem Bauernhaus in Wolkenburgs Nähe, in dem er vielleicht Aufnahme finden würde. »Billig, billig, billig muß es sein,« rief er lachend.
Doch Ellen klagte: »Dann bist du doch nicht in meiner Nähe, wenn du irgendwo auf dem Dorfe wohnen willst.«
»Holde Schwester, vertrau auf diese hier,« erwiderte Friedrich und schlug auf seine langen schlanken Beine. »Die überbrücken jede Entfernung, sie sind meine Elektrische und mein Auto zugleich.«
»Und die meinen kommen den deinen entgegen, und wir treffen uns unterwegs,« rief Ellen froh. »Nun aber komm flink. Lieber Himmel, Mutter Bienert und ihre Schere, was werden die sagen, wenn ich so spät komme!«
Dann eilten sie heimwärts, und sie kamen gerade, als Frau Bienert mit einem befriedigten »So« den letzten Teller auf den Tisch stellte. Die Flurtüre, etwas altersschwach, wie alles im Hause, knarrte und rasselte, und die fröhlichen Stimmen der Geschwister wurden laut. »Nu schimpfe ich,« dachte Frau Bienert, aber sie schimpfte nicht. Ellen hing ihr auf einmal wieder am Halse, Friedrich drehte die beiden rundum, die dicke Frau pustete, lachte, schrie, und dabei erfuhr sie, daß Friedrich mitfahren wolle, den Plan der Schwester guthieße und daß Ellen den Schnitt nicht besorgt hätte, weil, ja weil sie eben mit dem Bruder spazieren gegangen war.
»Nä so was!« Frau Bienert schüttelte den Kopf, und dann ließ sie sich von den beiden fröhlichen jungen Menschen in ihre Stube ziehen, atemlos sank sie auf ihr Sofa nieder, vor dem der gedeckte Tisch stand, und als sie sagen wollte: »Nu eßt,« reichte ihr Friedrich schon die Kartoffelschüssel hin und bat: »Essen Sie, verehrte Mutter Bienert, ich geb's Ihnen gerne! Dies ist eine ganz seltene Frucht.« Es war ein vergnügtes Mahl, das die drei zusammen hielten. Sehr reich war der Tisch freilich nicht bestellt, außer den Kartoffeln, die Friedrich bald Lukullusfrüchte, bald Hesperidenäpfel nannte, gab es nicht viel. Aber eine munterere Laune konnte an der glänzendsten Tafel nicht herrschen. Friedrich war unerschöpflich in lustigen Einfällen, und da Frau Bienert all die schönen Namen, die er den Gerichten gab, wunderlich verdrehte, kamen die drei aus dem Lachen nicht heraus.
Von der Reise redeten sie dann auch, als die Kartoffelschüssel leergegessen war. Friedrich rief: »Mutter Bienert, wenn die Tante Hofrätin halb so nett ist wie Sie, dann wird's gut. Himmel, was ist Ihnen, haben Sie Essig getrunken?«
Nein, Essig hatte Frau Bienert nicht getrunken, aber sie schnitt wirklich ein sehr säuerliches Gesicht. Und Ellen kam es in den Sinn, daß sie dieses Gesicht schon ein paarmal aufgesetzt hatte, wenn von der Tante Hofrat die Rede war. Sie fragte darum in jäh erwachter Angst: »Mutter Bienert, Sie kennen wohl die Tante?«
»Nu kennen, was man so richtig kennen nennt niche, aber kennen tu ich sie freilich,« orakelte Frau Bienert. Und als sie in die etwas verdutzten Gesichter der Geschwister sah, die aus dieser geheimnisvollen Kenngeschichte nicht so recht klug wurden, erzählte sie flink, wo sie einst die Tante Hofrätin kennen gelernt hätte. Im großelterlichen Hause von der Mutter her war diese mit der Schwester zu Gaste gewesen. »Bei Leanders, euren Großeltern, waren sie, na, und wer da war, der kam allemal in eurer Mutter Elternhaus, das war mal so,« sagte Frau Bienert. »Und das Linchen, die jetzige Frau Hofrätin, ist oft gekommen, obgleich eure Mutter ein paar Jahre jünger, fast noch ein Kind war. Ich habe immer gemeint, sie ist wegen der vielen Himbeeren gekommen, die im Garten wuchsen, die aß sie so gerne. Ein Leckermaul war sie, und eine Zimpersuse dazu. Na, es kann sich ja geändert haben. Ihre Schwester Regine war freilich anders, ganz anders. Hm, ja die!« Frau Bienert schwieg, und die Geschwister fragten wie aus einem Munde: »Wie war diese denn?«
»Aparte war sie,« brummelte Frau Bienert. »Klug und alleweile trug sie ihre Nase so hoch wie eine Prinzessin. In die Himbeeren ist sie nie gegangen, aber in eures Großvaters Bücherstube hat sie gesteckt. Ja, ja, und dann hat sie sich mit 'nem schönen feinen Herrn verlobt, und das Glück wäre wohl groß gewesen, wenn sie sich geheiratet hätten. Ja, ja!«
»Aber warum haben sie sich denn nicht geheiratet?« fragte Ellen hastig. Sie war voll drängender Neugier, diese Tante Regine fesselte sie viel mehr als die Frau Hofrat, auch ihr Bruder sagte: »Sie müssen uns den Schluß der Geschichte nicht vorenthalten, Mutter Bienert. Wie ist's mit der Prinzessin geworden, die keine Himbeeren aß, das läßt auf eine Geschmacklosigkeit schließen, ich wäre himmelgern in die Himbeeren gegangen.«
Frau Bienert lachte ein wenig, aber gleich darauf zeigten sich auf ihrem Gesicht wieder Sorgenfalten und sie murmelte bedrückt: »Lieber Himmel, er ist doch gestorben. Sie haben gesagt, er hätte sich die Krankheit geholt, als er ein Kind aus dem Wasser gezogen hat. Ganz kurz vor der Hochzeit war es. Na ja, und weiter weiß ich nichts, aber ich denke alleweile, das Fräulein Regine wird später einen anderen geheiratet haben. An Freiern hat's ihr nicht gefehlt.« Mit dieser erfreulichen Aussicht schloß Frau Bienert ihre Erzählung, und Ellen, die schon das allertiefste Mitleid mit der ihr fremden Anverwandten bekommen wollte, atmete wieder erleichtert auf. Es gefiel ihr nur nicht, daß Frau Bienert so gar nichts von der schönen Regine weiter wußte.
»Denken Sie doch einmal nach, Mutter Bienert,« bat sie, »vielleicht fällt es Ihnen doch ein, was aus dieser Regine geworden ist.«
»Nä doch, wie kann mir denn was einfallen, was ich nicht weiß,« rief diese etwas unwirsch. »Nachher ist mein Bienert wieder gekommen, und dann hat's bei mir Hochzeit gegeben, und ich bin fortgezogen, gerade fünfzehn Jahre war eure Mutter damals. Die hat mir aber versprochen: Bertchen, wenn ich mich verlobe, kriegst du 'ne Anzeige! Na, und sie hat Wort gehalten, ich kriegte 'ne Anzeige, und dann war's alle, bis wir uns mal hier wieder getroffen haben, aber das wißt ihr ja.«
Ja, wie das gewesen war, wußten die beiden wohl. Da war eines Tages Frau Bienert angekommen, sie hatte die Nachricht vom Tode des Professors in der Zeitung gelesen. Breit, stattlich, freundlich hatte sie vor der müden blassen Frau gestanden und gleich gesehen, es gab allerlei zu helfen und zu pflegen. Und von dem Tage an war Frau Bienert immer dagewesen, wenn sie gebraucht wurde, zuletzt war sie von der Kranken überhaupt nicht mehr weggegangen. Sie ahnte vielleicht, welch ein Trost ihre gute warme Stimme der armen Mutter war, die so schweren Herzens ihre Kinder allein ließ.
»Ach, Mutter Bienert, ich graule mich ein bißchen vor dieser Frau Hofrat,« sagte Ellen seufzend.
»Ih lieber gar, wer wird denn so was tun! Vor dem Linchen hab ich mich nie gegrault, das war mir zu klein und zimperlich. Aber gut ist's am Ende schon, daß der Herr Friedrich mitfährt. Ojemine, nun müssen wir doch auch noch dem seine Sachen richten.«
Frau Bienert sprang auf und raffte hurtig das Geschirr zusammen. Sie war plötzlich in solcher Eile, als wollten die Geschwister morgen schon reisen. Ellen half ihr dabei, Friedrichs Hilfe aber wurde von beiden abgelehnt, er solle nur an seine Arbeit gehen, riet ihm die dicke Frau fürsorglich. »Dabei kann er nämlich keine Teller zerschmeißen,« sagte sie hörbar genug zu Ellen. Friedrich, der es gut vernahm, rief lachend hinaus: »Mutter Bienertchen, Sie verleumden mich und meine wirtschaftliche Tätigkeit. Lassen Sie mich einen Tag den Haushalt führen, dann sollen Sie sehen, daß –"
»Alles drunter und drüber geht. Nä, nä, Herr Friedrich, mit Ihren Büchern, da wissen Sie Bescheid, aber nicht mit meiner Wirtschaft. Ei du heiliger Strohsack, ich denk' immer noch an das Kaffeegekoche, die ganzen Bohnen haben Sie ins Wasser getan und –"
»Genug, genug, ich flüchte in meinen Tempel,« schrie Friedrich. Die Türe klappte, und in der Küche sagte Frau Bienert mit breitem behaglichem Lachen: »Ein engelsguter Mensch ist Ihr Friedrich, Fräulein Ellen, aber als Dienstmädchen möcht' ich 'n doch nicht haben.«
Ellen lachte hell auf bei dem Gedanken, der liebe unpraktische Bruder sollte in einem Haushalt helfen. O, wie viele verkehrte törichte lustige Taten hatte er schon vollbracht, welche Verwirrung hatte er schon manchmal angerichtet in seiner gutherzigen Unbeholfenheit. Vergnügt fragte sie: »Gelt, Mutter Bienert, ich kann ihn nicht allein lassen?«
»Nä, das geht nicht. Und wenn der Herr Bankdirektor das nicht einsieht, dann – dann – na dann müssen Sie sich eben selbst helfen.«
»Und ihn – belügen.« Von Ellen Leanders klarem Gesicht war das Lachen geschwunden, eine tiefe Falte grub sich in die weiße Stirn. Da war er wieder, der quälende Gedanke, den sie sich über ihr heimliches Vorhaben machen mußte. Der peinigte sie, der dämpfte so oft ihre junge Freude. Warum nur durfte sie nicht offen bekennen: ich helfe meinem Bruder, ihm, dem Unrecht geschieht.
»Zerquälen Sie sich nur nicht wieder,« klang da gut und tröstlich Frau Bienerts Stimme an ihr Ohr. »Kindchen, es wird noch alles gut. Und die Reise, die freut mich. Ich denke immer, wenn Sie dem Herrn Vormund so recht die Wahrheit sagen, der versteht sie. Und nachher kommen Sie wieder in 'ne feine Pangschion, und der Herr Friedrich geht auch in 'nen feines –« – »Mutter Bienert!« Ellen sagte weiter gar nichts, sie sah nur mit den grauen Augen die dicke Frau vorwurfsvoll an, und die begann sich plötzlich mit der Schürze die Augen zu reiben. »Ich weiß schon, ich weiß schon,« brummelte sie, »Mutter Bienerten vergißt ihre zwei nicht. Gucken Sie mich man nicht so verbistert an, Fräulein Ellen, und jetzt fangen wir unser Geschneidere an. Denn sonst kommt der Reisetag anspaziert, und wir sitzen da wie die törichten Jungfrauen in der Bibel, die kein Öl hatten.«
Dieser Vergleich lockte wieder ein heiteres Lächeln auf Ellens Gesicht. »Ich lasse den Herrn Reisetag nicht warten,« rief sie flink, lief voran in die Stube und begann beim letzten hellen Schein des sinkenden Tages, das zu einer Bluse bestimmte Kleid zu zertrennen. Ein paar Minuten später gesellte sich Frau Bienert zu ihr, und dann saßen sie beide einträchtig zusammen, nähten und trennten, berechneten, was sie an Zutaten brauchten und seufzten auch einmal, aber Frau Bienerts unerschöpfliche gute Laune verscheuchte gleich wieder die kleine Sorge. Die Stunden flogen, und auf der schmalen Straße unten verstummte allmählich das Schreiten und Reden der Menschen. Nur von fern tönte noch das dumpfe Brausen der elektrischen Bahnen und das Sausen der Kraftwagen. Draußen wehte eine frische Luft, sie durchströmte die enge Straße, und Ellen ließ die Arbeit sinken, atmete ein paarmal tief auf und sagte froh:
»Jetzt duften wieder die Akazien, Mutter Bienert, riechen Sie es nicht?«
Frau Bienerts fleißige Hände ruhten ebenfalls ein paar Minuten, auch sie atmete den feinen süßen Duft ein, der aus fernen Gärten kam. Beide saßen so und hatten ihre Sommerfreude, als Friedrich in das Zimmer trat. Er sah müde und abgespannt aus, aber auf sein Gesicht trat doch ein Leuchten, als seine Schwester bat: »Nun als guten Abendschluß noch ein wenig Goethe, Bruderherz.«
»Ja, was weiter von der Iffejenie,« rief Frau Bienert. »Das hör' ich doch zu gerne!«
Da holte Friedrich das Buch und in dem kleinen Zimmer hallten die schönen Worte wieder. Die alte einfache Frau und die Geschwister hatten zum Tagesschluß noch eine feierliche festliche Stunde zusammen.