Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Erstes Kapitel.

Ein Brief an den heil'gen Christ.

In Hilgenthal läutete es zu Mittag. Ein wilder Dohlenschwarm kreiste um den hohen Kirchturm, und das Krächzen und Kreischen bildete einen herben Gegensatz zu den hellen, vollen Glockenklängen.

Vom gräflichen Hofe kamen die Tagelöhner mit verstaubten Röcken und Gesichtern. Alle suchten Rast und Erquickung – sowohl die schwarzen Vögel am Turm hoch oben als die 2 Menschen auf der Erde tief unten. Und so war es ein beruhigender Anblick, daß die blauen Rauchsäulen, die aus den rotweißen Schornsteinen der Häuser stiegen und aus den schwarzen Küchenlöchern der Hütten quollen – Zeugnis ablegten von dem emsigen Rüsten der Hausfrauen.

Tief aufatmend steckte der alte Kantor von Hilgenthal nach verhalltem Geläut das von schneeweißem Gelock umwallte Haupt durch das Schallloch des Turmes.

Seine Augen wurden schier geblendet: Weißer als das Haar auf seinem Haupte schimmerte der Schnee von den Bäumen und Dächern, von den Wegen und Stegen und von den meist hölzernen Kirchhofskreuzen, die strack und schief um die Kirche herumstanden.

Frau Holle, an der die Hilgenthaler als echte Niedersachsenkinder noch mit lächelnder Gläubigkeit hingen, hatte über Nacht die Federn aus ihrem Bette geschüttet. Sie mochte bei der Gelegenheit auch der »hilgen Beke«, die tags zuvor noch so munter vom Waldberge ins Dorf hinabsprudelte, etwas angetan haben, denn sie lag auf einmal ganz still und starr da und kräuselte auch nicht eine Welle mehr.

Herr Treuber, der alte Lehrer, heftete sein Auge von den Häusern und Hütten auf die 3 jenseits der hilgen Beke emporragenden Türme und Türmchen des gräflichen Schlosses und tat einen tiefen Seufzer. »Ja, ja, der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer! Erstarrt liegt die Welt in Eis und Schnee, und die Kälte pfeift durch alle Löcher. Wie warm quillt's einem da im Herzen auf bei dem Gedanken an das traute, von liebenden Händen umfriedete Heim – und wie brennend wird nun zugleich wieder der alte Wunsch, es möchte alles, was Mensch heißt, eines trauten Heimes sich freuen können! – Ach, ich sehe im Geiste so manch verzweiflungsvolles Händeringen und höre so manchen leisen Seufzer der Not – – nicht im hochragenden Schlosse drüben, auch nicht in den behaglichen Gehöften drunten, aber dort . . .«

Der Greis ließ seine Augen nach der breiten Linde hinübergehen, die auf der Höhe des Dorfes vor einem armseligen Hüttlein stand. Er nickte, als spräche er mit sich selber oder mit dem lieben Gott. Und dann sprach er wirklich. Der alte Lindenhüttenspruch war ihm unwillkürlich in den Sinn gekommen:

»So lang die Linde bleibet stehn,
Wird mein Geschlecht zur Hütte gehn;
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.« 4

Von einer starken Bewegung ergriffen, blickte der Greis heute länger als je von der hohen Warte in den tiefen, rauschenden Grund hinab. Erst als der Wind ihm den Schneestaub immer heftiger ins Gesicht schlug, verließ er den Turm. Die Kirchentür knarrte, und eiligst schritt er durch Sturm und Schnee dem jenseits der Kirchstraße liegenden Schulhause zu, vor dem sich ein kleiner Garten mit zahlreichen, sorglich gegen Frost und Kälte geschützten Rosenstämmen ausdehnte.

Gerade wie der Alte die Straße überschreiten wollte, kam ein zartes, schnickeres Mägdlein vom Berge herabgelaufen, das hatte ein mit großen Eimern behangenes Tragholz auf den Schultern. Atemlos trat es an die Seite des Lehrers und zog mit Zittern und Zagen einen Brief unter der Schürze hervor.

Als nun der alte Herr unter freundlichem Nicken dem Kinde die Hand aufs Haupt legte, sagte es stockend und zögernd: »Ich habe einen Brief geschrieben an den – heil'gen Christ und weiß nun nicht, wie ich es anfange, daß er richtig ankommt. Der Briefträger wollte sich tot lachen, und ohne eine regelrechte Adresse könne er den Brief nicht hinbringen, sagte er.«

Lächelnd nahm der Kantor den Brief aus 5 der zitternden Mädchenhand. »Also an den heil'gen Christ hast du geschrieben, liebes Kind? Ei, ei, das ist seltsam! Nun, Christinchen, ich will wohl dir zu Liebe nach der Adresse forschen. Geh nur getrost nach Haus, vielleicht bringe ich den Brief dem heil'gen Christ selber hin.«

Wer beschreibt Christinchens Glückseligkeit! Tränen der Freude standen ihr in den Augen. Da brauchte sie nicht weiter zu danken. Sie wußte nun, der Brief war in guten Händen, und sie schlang die Hände wieder um die Eimerringe und lief, leicht wie eine Feder, zum Brunnen hinab.

Dem Lehrer wollte das innige Lächeln nicht wieder vom Angesichte schwinden. Im trauten Stübchen angekommen, zündete er eiligst die auf dem Turme unversehens ›ausgegangene‹ lange Pfeife an, putzte die Brille mit dem Taschentuche und entfaltete nun den Brief. Er las, lächelte, nickte, nickte wieder und wieder und wischte sich über die Augen, in die plötzlich etwas wie ein Tränentropfen gekommen war.

Neben dem mollig warmen Kachelofen war ein kleines Schiebfensterchen, durch das man in die Küche rufen konnte. Rascher als sonst seine Art war, ging der Kantor an das Fensterchen, um die rüstig am Herde schaffende Gattin 6 hereinzurufen. »Liebe Amalie,« sagte er mit ein wenig verschleierter Stimme, »das kleine Christinchen aus der Lindenhütte hat einen Brief an den heil'gen Christ geschrieben, und nun ist es an uns, daß der Brief auch an die richtige Adresse kommt und solch ein kindlicher Glaube nicht getäuscht wird.«

Frau Treuber, in deren Gesicht immer ein feines Lächeln der Güte lag, trocknete sich noch im Hereinkommen die Hände an der groben Schürze und stand tief gerührt da, als der Kantor ihr nun leuchtenden Gesichts den Brief vorlas.

Und er las, indem er die vielen großen und kleinen Schreibsünden mit dem Mantel der Liebe zudeckte:

»Lieber heil'ger Christ!

Ich muß Dir doch 'mal alles schreiben, da es nun Winter geworden ist und tiefer Schnee liegt. Wir haben immer Milch und Öl gehabt und auch kleines Geld, so lange wir allezeit ins Holz gehen konnten.

Wie aber nun die Bauersleute alle abgelöst sind und Geld gekriegt haben für ihr altes Holzrecht, wird auch allen kleinen Leuten auf einmal 7 der Stuhl vors Holz gesetzt. Und wir dürfen keine Kuh mehr ins Holz bringen und auch kein Futter mehr holen. Und da haben wir unsre Kuh hingeben müssen, wo unsre Mutter nun gar nicht über hin kommen kann. Und wir haben auch alle so geweint. Und nicht mal Arpeln dürfen wir im Sommer mehr pflücken, die doch die Hirsche und Rehe gar nicht mögen. Und die Buchnüsse können wir jetzt nur noch heimlich bei der Nacht fegen. Und bloß zwei knappe Holztage haben wir noch, und wer an einem andern Tage im Holz getroffen wird, der muß Strafarbeit tun oder er kommt ins Hundeloch. Der Herr Graf hat den garstigen Bockler, der früher bloß Holzhauer war wie unser Vater, zum Holzvogt gemacht, und der regiert nun alles. Lieber heil'ger Christ, und Du glaubst gar nicht, was das für einer ist und was für eine Angst wir vor ihm ausstehen müssen, denn der steht hinter jedem Busche. – Ach, lieber heil'ger Christ, ich muß Dir auch 'mal schreiben von unserm Bruder Ludwig. Der ist schon so lange krank und kriegt immer den Blutsturz so schlimm, und die Mutter weint auch immer. – Nun hat uns der grüne Gerichtsvogt einen Zahlungsbefehl gebracht wegen 8 einer großen Apothekerrechnung, und wenn wir die nicht ganz bald bezahlt haben, sollen wir ausgepfändet werden. Und der Doktor kommt auch noch. Lieber heil'ger Christ, nun wissen wir uns ganz und gar keinen Rat; denn der Vater verdient im Winter nur knapp sieben Groschen, und der Lohn ist, wie die Mutter sagt, kaum hinreichend für Salz und Brot, denn alles ist teuer, und der Scheffel Frucht kostet zwei Taler. Da müssen wir ganz klein anbeißen, manche Woche mit einem halben Brote hinkommen, manchmal haben wir gar keins im Hause. Wenn sonst das Brot knapp wurde, aßen wir Kartoffeln, die stippten wir in Salz und Buchöl. Kartoffeln haben wir dies Jahr aber nur acht Sack gekriegt, die nehmen sich rasch weg. Als unsre gute Friedesinchenpate, die oben im Hungertale auf der hohen Kante wohnt, gestern abend fortging, sagte sie: ›Wenn nur jemand 'mal an den heil'gen Christ schriebe, daß er zur Weihnacht einmal mit einem recht großen Sacke voll in dies Häuschen käme.‹ Und da ist mir auf einmal der Einfall gekommen, ich brächte das Schreiben wohl zuwege. Und sieh', nun tu' ich's schon. Ach, lieber heil'ger Christ, ich weiß es wohl noch, daß Du in der vorigen Weihnacht den reichen Leuten so viel gebracht hast und uns gar nicht ein bißchen; darum 9 schreibe ich Dir einmal, denn Du hast's gewiß nicht gewußt, und ich bitte Dich tausendmal und bring' uns diesmal auch soviel, daß die Mutter nicht mehr so weint. Denn alle Sterne am Himmel und alle Schneeflocken, die auf die Erde fallen, kannst Du zu Geld machen, wenn Du willst. O Du kannst's, lieber heil'ger Christ, und decke unserm armen Ludwig einen Tisch, daß er denkt, er sei im Schloß. Ich bete alle Stunde, dann hörst Du gewiß auf meinen Brief. Lange bleibst Du nicht mehr aus. Die Schneeflocken fallen schon immer zu, und heute Nacht ist auch die hilge Beke unten im Dorfe starr liegen geblieben. Ach, ich freue mich! Und nun sei auch tausendmal gegrüßt von

Deinem              
Christinchen Lindemann.«

»Und eins bitt' ich noch: Vergiß auch unsre gute Friedesinchenpate nicht und – ja, das hätte ich müssen schon mit oben an schreiben: denk auch an Fritz Bonder und seine kranke Mutter und an seine kleinen Schwestern. Allen bring was, krieg ich selber auch nur ganz wenig. Und es grüßt Dich auch noch einmal in treuer Liebe

Christinchen Lindemann.« 10

Der Kantor knickte den Brief wieder sorgsam zusammen und sagte: »Ja, das ist so eine rechte Stimme aus der Himmelspoesie der Lindenhütte.« Er trat ans Fenster, sah an den Schneckenlinien hinauf, grübelte und sagte, als wenn er betete: »Lieber Gott, füg's, daß ich den Brief an die richtige Adresse bringe.«

Nun hatte auch die Frau ihre Rührung bemeistert, sie wischte sich noch einmal mit der 11 groben Schürze übers Gesicht und erwiderte mit ihrem gütigen Lächeln: »O, dieser Brief unschuldsvoller kindlicher Einfalt ist ein Gebet, wie es inniger und wahrer nicht sein kann. Mich will bedünken, dieser Christinchenbrief müßte auch ohne Adresse und ohne Freimarke im Himmel ankommen.« –


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