Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Zwanzigstes Kapitel.

Am Sterbebette des sanften Christophvetters.

Er wehrte hartnäckig, wollte und wollte sich nicht gewonnen geben. Es hätte ihm noch nie etwas gefehlt, somit könne es auch jetzt nicht von Belang sein.

Aber wenn die Säge durch ist, muß der Baum fallen, ob er will oder nicht will.

»Es kann vor Nacht leicht anders werden,
Als es am Morgen mit mir war;
Den einen Fuß hab ich auf Erden,
Den andern auf der Totenbahr'.
Mich trägt ein einz'ger Schritt dahin,
Wo ich der Würmer Speise bin.«

las Christinchen, die mit dem alten hannoverschen Gesangbuche am Bette des Christophvetters saß.

Ächzend hatte er bis dahin zugehört; nun unterbrach er sie: »Sag doch 'mal, Deer, wie alt bist du eigentlich schon? – Elf? Kuck 'mal einer an, da kannste aber schon hübsch lesen, – kannste. Und so 'n Ausdruck, wie du hast.« – So ging's nun immer. Wenn seine Leibesnot 336 groß wurde, verlangte er in der äußersten Angst, daß Friedesinchen oder Christinchen oder Christel, wer gerade am nächsten war, aus dem Gesangbuche oder der Bibel, die jahrelang tief verstaubt in dem Eckbörte gelegen, ein Lied oder ein Kapitel las; sowie aber die Qual aufhörte, fing er alsbald von ganz gleichgültigen Dingen zu reden an, als wäre gar nichts gewesen.

Er lag nun schon mehrere Wochen fest, der sanfte Christophvetter. Das Letzte, was er noch auf seinen versagenden dicken Beinen getragen hatte, waren zwei Beutel voll Geld, ein großer voll Silber, ein kleinerer voll Gold. Ganz verstohlen, daß Friedesinchen es nicht merke, hatte er sie aus der Tischlade genommen und unter dem Kopfpfühl versteckt. Friedesinchen hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt. –

Es meldeten sich nun allerhand Leute aus dem Dorfe, die gern Krankendienst tun wollten, und obwohl es allen deutlich im Gesicht geschrieben stand, daß sie nur der erhofften Schätze wegen kamen, sprach Friedesinchen doch für diesen und jenen, denn sie wäre die schwere Last gern los geworden, mußte auch wegen ihrer Wohnung in Sorge sein, machten doch Kellermeyers an der Beke schon ganz böse Gesichter. Allein Klingebiel traute keinem andern, am allerwenigsten 337 denen, die ihm etwas schuldeten; er stöhnte und wehrte und beschwor Friedesinchen, bei ihm zu bleiben, da er ja doch sicher und gewiß in ein paar Tagen wieder auf sein könne.

So mußte sich Friedesinchen immer wieder aufs neue einspannen, – bei Tage und bei Nacht. Manchen Tag konnte sie nicht einmal dazu kommen, ihren kleinen Viehstand zu besorgen. Dann mußten ihr die Lindenleute zu Hilfe kommen, ohne die sie ihre schwere Aufgabe überhaupt nicht hätte durchführen können.

Er würde auch mal an sie denken, es solle gewiß ihr Schade nicht sein, versicherte er immer wieder.

Leider war Friedesinchen viel zu uneigennützig und feinfühlig, um vorsorglich zu sein; es widerstrebte ihrem Gefühl und ihrer Denkungsart, mit ihm in seiner hilflosen Lage zu handeln und sich, wenn nicht ihren schönen Vorteil, so doch ihren gerechten Lohn zu sichern. Sie war schon zufrieden, durfte sie nur täglich aus dem Schweinehimmel der Kammer so viel holen, daß sie nicht zu hungern brauchte, daß sie auch den Lindenhüttenkindern, wenn sie aus dem Gesangbuche oder der Bibel vorgelesen oder sonst »Bate« geleistet hatten, ein Scheibchen schneiden konnte. So schwer er seinen Speckbauch ohne Hilfe 338 rühren konnte, – kam Friedesinchen aus der Kammer, vermochte er ihn immer noch so zu drehen und zu wenden, daß er sehen konnte, was sie abgeschnitten hatte, ob von den alten oder von den neuen Würsten, ob von den Gänsebrüsten oder den Schweineschinken, ob viel oder wenig. Nun, es war immer winzig-wenig, – darüber konnte er beruhigt sein.

Da kam die neue Lindenhüttennot.

Friedesinchen litt schwer darunter und ging in tiefer Niedergeschlagenheit; aber der Christophvetter hütete sich wohl, etwas davon zu merken, oder sich durch eine Frage eine Unbequemlichkeit zu bereiten. Noch ging sie so in ihrer Sorge hin und her, als sie plötzlich einen Stoß in ihrem Nacken fühlte; sie sah sich unwillkürlich um, sah aber niemand, – und fühlte sich doch wie von einer unsichtbaren Hand aufs neue gestoßen. Hastig trat sie an das Bett. »Christophvetter,« sagte sie, »Ihr seid so reich, habt für Euer bißchen Leben einen so ungeheuren Überfluß, – seht, und den Lindenhüttenleuten geht's wieder so schlecht. Ich begehre nichts für mich, nein, wahrhaftig, ich will gern alles um Gotteswillen tun, was Ihr nötig habt; – aber wollt Ihr nicht an die Lindenleute denken, – wollt Ihr ihnen nicht ein wenig Geld schicken, daß sie sich besinnen 339 können und erst über diese Tage hinwegkommen? Ich meine, die Freude, die Ihr dadurch anrichtetet, würde bis in alle Ewigkeit in Eurer Seele klingen.«

Der Christophvetter ächzte und stöhnte ganz erbärmlich, endlich antwortete er: »Och, Deer, um die Lindenleute braucht dir gar nicht bange zu sein, nein, wahrhaftig, gar nicht. Die wollen da schon wieder 'rauskommen. Jawohl, ja! Sieh mal, Deer, ich würde 'n ja gern was schicken, aber weißt doch, mein Geld – das steht bei den Leuten, und von denen kann man's so rasch nicht wieder kriegen. Und im Hause ist nur noch das bißchen, was da im Tische liegt, und das müssen wir doch behalten. Och bewahre, Deer, um die Lindenleute sei man ja nicht bange, i man ja nicht.«

Friedesinchen sagte kein Wort mehr, sondern nahm die Bibel vom Tische, blätterte darin, bis sie auf das 14. Kapitel von Jesus Sirach kam; dann nahm sie vom Bette ein Strohspier, in dem ein Knoten war, legte es zwischen die Blätter und schlug das Buch wieder zu.

Am selbigen Tage noch wurde die Atemnot des Kranken so groß, daß er den lieben Gott anrief und nach der Bibel verlangte.

Da nahm Christel, der eben gekommen war 340 und nun erschrocken an der Tür stand, auf das Geheiß der Pate die Bibel und fragte angstvoll, was er lesen solle.

»Lies nur, was du aufschlägst,« drängte der Christophvetter aufstöhnend und setzte kaum hörbar hinzu: »Vielleicht daß Gott mir das sagen will.«

Da schlug er auf und traf die Stelle, wo das Strohspier lag, also das 14. Kapitel in Jesus Sirach.

Und das Lindenhüttenkind las:

»Einem Lauser stehet's nicht wohl an, daß er reich ist, und was soll Geld und Gut einem kargen Hunde?

Wer viel sammelt und ihm selber nichts Gutes tut, der sammelt es andern, und andere werden's verprassen.

Wer ihm selber nichts Gutes tut, was sollte der andern Gutes tun? Er wird seines Guts nimmer froh.

Es ist kein schändlicher Ding, denn daß einer ihm selbst nichts Gutes gönnt; und das ist die rechte Plage für seine Bosheit.

Tut er etwas Gutes, so weiß er freilich nichts drum, und zuletzt wird er ungeduldig drüber.

Das ist ein böser Mensch, der nicht sehen mag, daß man den Leuten Gutes tut, sondern wendet sein Angesicht weg und erbarmet sich niemandes.

Ein vorteilischer Mensch läßt ihm nimmer genügen an seinem Teil und kann vor Geiz nicht gedeihen.

Ein Neidischer siehet nicht gern essen, und tut ihm wehe, wenn er soll Essen gehen.

Mein Kind, tu dir selbst Gutes von dem Deinen und gib dem Herrn Opfer, die ihm gebühren. 341

Gedenke, daß der Tod nicht säumet, und du weißt ja wohl, was du für einen Bund mit dem Tode hast.

Tu Gutes dem Freunde vor deinem Ende, und reiche dem Armen nach deinem Vermögen.

Vergiß der Armen nicht, wenn du den fröhlichen Tag hast, so wird dir auch Freude widerfahren, die du begehrest.

Du mußt doch deinen sauern Schweiß andern lassen und deine Arbeit den Erben übergeben.

Gib gerne, so wirst du wieder empfahen und heilige deine Seele. Denn wenn du tot bist, so hast du ausgezehret.

Alles Fleisch verschleist wie ein Kleid, denn es ist der Alte Bund: Du mußt sterben!

Gleichwie die grünen Blätter auf einem schönen Baum, etliche abfallen, etliche wieder wachsen; also gehet es mit den Leuten auch, etliche sterben, etliche werden geboren.

Alles vergängliche Ding muß ein Ende nehmen. Und die damit umgehen, fahren auch mit dahin.«

Es ist schwer zu sagen, welchen Eindruck das Kapitel auf den Christophvetter machte. Es schien, daß der erste Vers ihn verblüffte und seine Qual steigerte; es schien, daß die nächsten Verse, die für das Gutestun an sich selbst sprachen, auf seine Qual und Not wunderbar besänftigend wirkten; und es schien, daß die übrigen Verse eine ähnliche Wirkung hatten wie der erste, denn das Röcheln und Stöhnen setzte zwischen ihnen aufs neue ein und mit immer mehr sich steigernder Gewalt. 342

Als aber das Kapitel zu Ende war, schien Klingebiel plötzlich auch von seiner Qual wieder befreit zu sein, denn er lächelte den Jungen mit seinem sanftesten Lächeln an und lobte ihn sehr, daß er für sein Alter schon so gut lesen könne, daß er so groß sei und so hübsche rote Backen hätte.

* * *

Die Nacht kam wieder mit ihrer Qual und ihrem Grauen.

Friedesinchen sah, daß Klingebiels Zustand sich mehr und mehr verschlimmerte, ob er sich auch immer noch mit äußerster Hartnäckigkeit sträubte, an die Sterbensmöglichkeit zu denken. Sie fühlte es in jeder Nervenfaser, etwas Gräßliches, etwas unnennbar Grausiges wandelte durch den leeren Hof, klapperte die Treppen des öden Hauses herauf. Ihr graute, sie schickte Christinchen und Christel, die noch bei ihr waren, nach der Lindenhütte, damit der Vater käme und ihr beistände.

Hanfrieder kam und setzte sich Friedesinchen zum Trost still in die Ecke, daß der Kranke ihn nicht sah.

Draußen in den Heckenhöfen jauchzte die Nachtigall, – und hier, im trüb erhellten, dumpfigen Raume, rang und röchelte in furchtbarer Atemnot der unglückselige Speckbauch, dem selbst 343 der nahende Tod keines Menschen Teilnahme zuwandte –, hätten nicht die zwei selbstlosen Herzen aus der Lindenhütte so nahe bei ihm geschlagen.

Lindemann dachte an das Wort des Psalmisten: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.«

War nun dies Leben köstlich gewesen?

Wieder packte ihn ein Erstickungsanfall, noch fürchterlicher denn zuvor. Friedesinchen mußte sich trotz ihrer Beherztheit die Hände vors Gesicht halten und sich abwenden; auch Hanfrieder fühlte, wie sich jedes Haar ihm auf dem Kopfe strack aufrichtete. Er sprang hinzu, um dem Ringenden zu helfen, ihn zu halten. Klingebiel starrte ihn an in furchtbarer Angst und Not. Die Augen waren ihm aus dem Kopfe gequollen. »Den Doktor holen!« ächzte er. Es war das erstemal, daß er nach dem Arzte verlangte. Bis dahin hatte er's Friedesinchen immer gar übel genommen, wenn sie vom Arzte sprach. Er wollte einmal durchaus nicht krank sein, er hatte noch gar zu viel zu verzehren und er gönnte dem Arzte natürlich das schöne Geld nicht.

Friedesinchen rückte die Kissen wieder gut zurecht; doch Klingebiels Kopf lag darauf wie auf 344 einem Marterblock, wendete sich hin und her, während die Augen nach dem Pfühle stierten, als wäre etwas Scheußliches, etwas Höllisches darunter, das ihn drücke und stäche.

Friedesinchen rückte die Kissen abermals und zog den Pfühl empor. Da fühlte sie die beiden hart aufstehenden Beutel. Graus und Zorn packte sie. »Auf solchen Kissen kann doch keine Seele liegen!« rief sie und schleuderte beide Beutel vor ihn auf die Bettdecke.

Jäh bäumte sich die letzte Lebenskraft in ihm auf, mit beiden Händen griff er nach den Beuteln, während sich die Augen groß und starr auf Lindemann richteten.

So saß er und so starb er. Ja, so starb der sanfte Christophvetter.


Die Lindenleute öffneten ein Fenster, beteten zusammen ein Vaterunser, warteten noch eine Weile und holten dann den Bauermeister und die Totenfrau herbei.

Er saß noch da, wie er gestorben war, die Augen groß und grausig, – und jede starre Hand um einen harten Geldbeutel gekrampft.

Der Bauermeister zählte das Geld und nahm ein Protokoll auf. Es waren genau 200 Taler. Dann zählte er die Würste und Schinken. Es 345 waren genau 127 große Würste und 90 kleinere, und es waren noch fünf heile Schweineschinken.

Die lachenden Erben, die in Raßdorf wohnten, – die lachenden Erben in Raßdorf hatten überhaupt ein Schweineglück – zahlten an Friedesinchen den ortsüblichen Tagelohn für beinahe vier Wochen. Sie bekam vierzig Pfennig für den Tag. Es war viel Geld auf einmal, so daß sie gleich den Schuster bezahlen konnte. – 346


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