Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Wie der Fenriswolf angeschmiedet wurde.

Am dritten Tage nach der Beerdigung war's, da führt der Baron von Volkerswalde den tief niedergeschlagenen jungen Grafen vom Schlosse hinab zu den Wohnungen seiner Tagelöhner und ließ ihn, ohne selbst viel zu sagen, die mannigfaltigsten Wahrnehmungen machen. Lauter kleine saubere Häuser standen, einen allerliebsten Kreis bildend, rund um das Schloß herum, und jedes Häuschen lag für sich allein wie in einem Paradiese von Obstbäumen, Sträuchern und Gemüsefeldern. Und so schmuck wie die kleinen Häuser waren auch die Menschen, die darinnen wohnten. Überall Lebensschönheit, überall friedliche, freundliche Gesichter, ehrerbietiges Grüßen.

Das alles hatte ja der junge Graf schon seit 378 Jahren sehen können – allein es war ihm noch niemals so aufgefallen wie heute.

»Was frag' ich nach dem roten Gold,
Was frag' ich nach goldenen Ringen?
Ich bin ein klein Waldvögelein,
Kein Gold kann mich bezwingen!«

sang eine helle Mädchenstimme hinter dem reich mit roten Fuchsien und grünen Myrten besetzten Fenster, an dem sie eben vorüber kamen; sie sang aber nicht weiter, sondern erstickte ihr Lied in einem leisen Gekicher.

Gedankenvoll schritt der junge Graf an der Seite des Barons aufs Schloß zurück. Da, – im Angesicht der ihrer harrenden lieblichen Braut, kam es auf einmal über ihn, und er richtete stürmische Fragen über die starken Eindrücke, die er auf dem Gange erhalten hatte, an seinen väterlichen Berater.

Der Baron antwortete in seiner milden, ruhigen, von Herzen kommenden Art: »Es gab eine Zeit, mein lieber Graf Erwin, da herrschten in Volkerswalde eben so heillose Zustände wie in Hilgenthal. Die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Neuerung kam mir erst blitzartig zum Bewußtsein, als ich von meinem unnahbar hohen Throne, wie ich sagen muß, zum armen Volke, ohne dessen Arbeit ich doch nicht sein konnte, herabgestiegen, 379 als ich in forschenden, prüfenden Verkehr mit ihm getreten war. Ich ging in die niedrigste Hütte; ich blickte auf den Tisch und in den Schrank; ich durchforschte Keller und Boden; ich prüfte die Lebensweise der sogenannten kleinen Leute; ich berechnete ihre Tagelöhne auf ihre Verhältnisse, – und herzliches Erbarmen erfaßte mich. Es geht nichts darüber, was das eigene Auge sieht. So hatten mir meine eigenen Augen die klare Erkenntnis gegeben von dem, was den Armen und Elenden not tat – ein Zauberband, geschmiedet aus fürsorglicher Liebe! Zufällig kam mir in jenen Tagen die Lebensgeschichte des edlen Domherrn Eberhard von Rochow vor die Augen. Ich las sie und ward Feuer und Flamme. Ja, Eberhard von Rochow, dieser Herrliche, hatte ein unauslöschliches Feuer in mir entzündet! Sein goldener Grundsatz, daß der Edelmann seine Jahreseinnahme nicht in vier Viertel, sondern in fünf Fünftel teilen und das fünfte Fünftel zu Ausgaben verwenden müsse, die er seines Standes wegen, eingedenk des Gesetzes noblesse oblige, für Arme und Unglückliche zu machen habe, ward auch der meinige. Eberhard von Rochow ist mein Vorbild geblieben bis auf den heutigen Tag, und es soll mein einziger Adelsstolz sein, daß man einst von mir sagen kann und darf: ›Er hat 380 gelebt und gestrebt wie ein Rochow!‹ – Aber versteh' mich ganz, mein Sohn,« hob der Baron mit einer lebhaften Bewegung wieder an, »die fürsorgliche Liebe darf dem gesunden Volke gegenüber kein Almosen sein; sondern sie muß wecken, fördern, bauen; sie muß mit morgenfrohen Fanfaren blasen und dem arbeitenden Volke unablässig zuwinken: ›Ich will euch helfen, daß ihr euer Glück selber bauen könnt!‹ Denn das dürfen wir nicht übersehen, die wirkliche Zufriedenheit kommt dem arbeitenden Volke schließlich doch nur aus der Befruchtung und Entfaltung der eigenen Kräfte. Nicht den reifen Weizen, sondern den guten Acker mit Pflug und Pferden sollen wir dem Volke geben.«

Der Baron blickte wie sinnend in die Ferne, und die strahlenden Augen der jungen Leute blickten in sich selbst, und es lag in ihren Augen das stille Gelübde, in dem Beispiele des Vaters mit einander zu leben und zu wirken.

»Unsere Väter haben uns eine bedeutungsvolle Sage überliefert,« begann der Baron nach einer Weile. »Ein Sprosse des bösen Gottes Loki, der schreckliche Fenriswolf, bedrohte die Götterburg Asgard, darin er großgepflegt worden war, mit Verrat und Verderben. Die guten Asen gerieten in nicht geringe Sorge. Die schwersten Ketten 381 und Banden legten sie dem Unholde an; er aber lachte ihrer, zerriß sie wie wollene Fäden und wurde von Tag zu Tag grauenhafter. Da sandte Allvater zu einem zauberkundigen Alfen, der im Schoße der Berge seine Wohnung hatte, und ließ ihn bitten, eine Kette zu schmieden, die der Fenriswolf nimmer zerreißen könne. Der kleine Zauberschmied freute sich dieses Auftrages und schmiedete aus sechserlei geheimen Dingen eine Fessel, die zwar nur so dünn und weich wie ein Seidenband, aber trotzdem unzerreißbar war. Mit diesem wunderbaren Alfenbande und dem hohen Opfermute des Kriegsgottes Zio, der dem Wolfsrachen seine rechte Hand zum Pfande geben mußte, gelang es endlich, den schlimmen Störenfried zu bändigen und unschädlich zu machen. Asgard war gesichert, und Freude und Wonne herrschte daselbst fortan ungetrübt.

Die Deutung dieser alten Göttersage liegt in unseren Tagen. Nicht Ketten und Banden, nicht Härte und Gewalt, liebe Kinder, bezwingt den im armen Volke aufwachsenden Fenriswolf, dazu bedarf es allein jenes wunderbaren Zauberbandes, geschmiedet aus fürsorglicher, hingebender, schaffender Liebe. Die frischen, freundlichen Häuser, die du drunten herum siehst – das sind sozusagen die ersten und sichtbarsten Früchte dieser 382 Wohlfahrtsschmiedearbeit in Volkerswalde. Was für traurige Wohnungszustände vordem in Volkerswalde herrschten, davon macht ihr beide euch keinen Begriff. Denkt euch einmal so eine blutarme, mit vielen Kindern gesegnete Tagelöhnerfamilie. – Nahm der Bauer den Tagelöhner auf, so mußte dieser sich verpflichten, bei keinem andern außer bei seinem Hausherrn Arbeit zu tun und zu einem von ihm willkürlich festgesetzten Tagelohne zu arbeiten. Froh, nur einen Unterschlupf gefunden zu haben, ging der arme Mann auf jede Bedingung ein, und von da an war er nichts anderes als ein Sklave des Bauern.

Leider muß ich nun sagen, daß auch mein Vater mit seinen Tagelöhnern nicht besser umging. Er hatte ein langes barackenartiges Gebäude bauen lassen, »dat lange Hus,« wie die Leute mit Gruseln sagten, worin bis zwanzig Familien wohnten, die sich beständig 383 rupften und klopften und wie Zugvögel ein- und auszogen.

So fanden die armen Leute nirgends eine menschenwürdige Zuflucht, in der sie vor Unbill gesichert gewesen wären, sich zu behaglichem Dasein hätten einrichten können.

Das alles ging mir nach dem Tode meines Vaters sehr heiß durch Kopf und Herz, bis mir auf einmal ganz blitzartig der Einfall kam, diese kleinen Häuser zu bauen. Da ich Boden, Holz und Steine ja nicht zu kaufen brauchte, waren die Kosten, die mir das Bauen verursachte, gar nicht groß.

Als die Häuser fertig dastanden, ward ich begreiflicherweise von der ganzen Volkerswalder Tagelöhnerschaft umdrängt. Es war mir schmerzlich, daß ich nicht alle in die Häuser nehmen konnte. Zunächst mußte ich natürlich meine verkümmerten Langhausleute berücksichtigen. Ich wies jeder Familie ein Häuslein zu, ließ dann das widernatürliche »lange Hus« abreißen und an seiner Stelle drei einzelne Häuschen errichten, deren jedes ich mit einer Familie aus der Dorftagelöhnerschaft besetzte.

Die Grundbedingung zu einem freud- und friedvollen Familienleben liegt in dem Besitz eines gesonderten, freien, trauten Heimwesens – 384 und ein solches wollte ich allen meinen Tagelöhnern schaffen. Darum hob ich den häßlichen alten Arbeitszwang auf – und die Folge davon war eine Arbeitsfreudigkeit, wie ich sie nie zuvor beobachtet hatte. Fremdländische Arbeiter habe ich mir nie wieder kommen zu lassen brauchen.

Je weniger Zwang ich auf meine Tagelöhner ausübte, desto größere Macht gewann ich über sie.

Wie sich am Frühlingsmorgen die Blumen auftun und aufrichten und lieblich duften, also auch wandelten sich vor der von unserm Schlosse strahlenden Sonne der sorgenden Liebe die verkümmerten, verschlossenen Menschenkinder drunten in den Hütten. Ja, Kinder, eine unvergleichliche Freude war's für uns, mit eigenen Augen sehen zu können, wie die durch selbstlose Fürsorge erwärmten armen Leute so voll heiligen Eifers zum Guten aufstrebten und sichtlich immer mehr darin erstarkten.

Aber auch auf jene zahlreichen Dorftagelöhner, die ich hatte zurückweisen müssen, fiel ein neubelebender Frühlingssonnenstrahl. Durch das Wegbleiben der ausländischen Arbeiter und ihre Ersetzung durch Dorftagelöhner waren die Arbeiter für die Bauern mit einem Schlage sehr rar geworden – und sie mußten, wollten sie 385 gute Arbeiter haben, sich bequemen, die Tagelöhne zu erhöhen und die Tagelöhnerwohnungen in einen menschenwürdigen Zustand zu versetzen. Seitdem ginge die gesamte Volkerswalder Tagelöhnerschaft für uns durchs Feuer, wenn's darauf ankäme. Vor zwei Jahren wollte der Fenriswolf, – wollte sagen der schwarze Jerx, auch hier einmal seine Fühlhörner ausstrecken, allein – du wirst dich dessen noch entsinnen, Elfriede, – sie jagten allesamt hinter ihm her wie hinter einem tollwütigen Hunde, und er hat sich nie wieder hereingewagt.

Noch ein Wort, lieber Erwin! Eine bloß materielle Verbesserung der niedern Volksklasse schmiedet den Fenriswolf auf die Dauer nicht an. Die Sage erzählt wohlweislich, daß das Alfenband aus sechserlei geheimen Zaubermitteln bestand, und da glaube ich nun, Kinder, das eine davon war so etwas, wie ich es in eurem jungen Leben und in eurer jungen Liebe sehe, es war der Himmelsglanz und Morgentau der Poesie, ja, Kinder, der Poesie, das war's. Kein schönes, glückliches Einzelleben, kein schönes, glückliches Liebesleben ohne diesen Himmelsglanz und Morgentau, aber auch kein wahres, vollbefriedigtes Volksleben ohne die himmelshelle, morgenfrische Volkspoesie, die in Liedern klingt, in 386 Märchen und Sagen tönt, in Rätseln spricht, in Sitten und Bräuchen sich gestaltet, in Erzählungen und Dramen und andern volkstümlichen Kunstwerken sich ausgibt. Ja, immer gewisser ist es mir geworden: eins von diesen sechserlei Zaubermitteln kann wirklich nichts anderes gewesen sein, als eben diese Volkspoesie, ohne die kein Volk sein darf und sein kann, die dem Gemüte, wenn es nicht verkümmern soll, so nötig ist, wie dem Magen das Brot, der Blume die Sonne, dem Felde der Tau. – Da liegen nun in den Schatzkammern unseres Landes die Goldbarren der Poesie hoch und breit übereinander, und unser ganzes Volk könnte herrlich und in Freuden davon leben; – allein es hat nichts von all dem Goldreichtum der Poesie – ach, so gar nichts – und geht freudlos von ferne vorüber. Es ist hier wie dort, und wir, die wir alles haben, oder doch alles haben können, was unsere großen Dichter und Schriftsteller an herrlichen Schätzen für Geist und Gemüt geschaffen haben, wir denken nicht daran, daß es auch hier eine Kluft gibt zwischen Hütte und Schloß, die durch unsere Fürsorge hinweggeräumt werden muß.

Von diesen Gesichtspunkten aus, lieber Erwin, gründete ich mit eifriger Unterstützung unseres Pastors und unseres Lehrers die Volkerswalder 387 Dorfbibliothek, welche, wie du gesehen hast, bereits ein eigenes Häuslein beansprucht.

Sie ist allen Volkerswaldern zugänglich, den Bauern sowohl wie den Tagelöhnern. Und beide sind so gute Freunde der Sache geworden und durch sie so gute Freunde miteinander, daß sie sogar aus freiem Willen zur Unterhaltung der Bibliothek beitragen. – In unserm wackern Schullehrer haben wir einen trefflichen Bibliothekar; – ich zweifle nicht daran, daß auch der Kantor Treuber in Hilgenthal ein solches Nebenamt mit Freuden übernimmt.

Doch, Kinder, verzeiht, es ist schon fast ein Vortrag geworden. Aber weß das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Wollen wir also von den andern geheimen Mitteln, die der zauberkundige Alfe bei seiner Schmiedearbeit verwandte, das nächste Mal reden.« Er lachte, drohte dem jungen Paar mit dem Finger und sagte: »Ich möchte aber gleich noch einmal anfangen. Die Sage redet nicht nur von dem Alfenbande, sondern auch von dem hohen Opfermute des Kriegsgottes Zio, der seine rechte Hand in den Wolfsrachen steckte. Herr Graf von Hilgenthal, so gilt es, unsere Standesabgeschlossenheit und unsre Standesvorurteile zu opfern!« –

Nun faßte der Baron beide Hände des jungen 388 Grafen, drückte und schüttelte sie kräftig, sah ihm treu und fest in die Augen und schloß: »Ich brauche nicht zu zweifeln, mein teuerster Freund und Sohn, daß ich dich als Herrn von Hilgenthal in den Reihen jener Männer sehen werde, von denen der Dichter sagt:

›Ihr streuet aus den goldnen Segen,
Dem Dürftigen den Grund zu legen,
Auf dem er bauen kann.
Ihr sprechet: Nimm des Freundes Gabe,
Bis dir der Fleiß ein bess'res Habe
Für Weib und Kind gewann;
Nimm, daß du dir den Frieden gönnest,
Nimm, daß du gut verbleiben könnest –
Ein Bürger und ein Mann!‹« 389


 << zurück weiter >>