Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Im harten Winter kommen die Wölfe dicht ans Haus.

»Ach, das ist gut, daß ihr kommt!« rief Frau Lore den beiden freudig entgegen und fegte rasch den Schnee von der Schwelle.

»O, ihr habt gewiß gerochen, daß der Kaffee gar ist!« scherzte Friedesinchen.

Indes merkte man bald, daß die Männer keine scherzensfrohe Stimmung mit nach Hause brachten.

In der Stube wurde ein Stuhl umgeworfen, worauf die Kleinen im Galopp nach der Tür liefen, und die Köpfe heraussteckten: »Hurrah, der Vater! Hurrah, Bonders Fritz!«

Lindemann wehrte mit der Hand, stampfte kräftig auf die Diele, ließ Fritz und die Frauen 141 vor sich eintreten und folgte mit schwerem Tritte nach.

Christinchen, die noch am Spinnrade saß, stand unter freudigem Erröten auf und rückte Fritz einen Stuhl neben die Britsche; denn kam Fritz in die Lindenhütte, war immer sein erster Schritt zu dem kranken Kameraden; gab's doch keine treueren Freunde im Dorfe als die beiden.

Auch Vater Lindemanns erster Blick beim Eintritt in die wohlige Stube ging durch die matte dürftige Helle nach dem kranken Sohne; doch vermied er gegen seine sonstige Gewohnheit, ihn anzureden. Schweigend, mit einem tiefen Ernst auf dem ausdrucksvollen, gefurchten Antlitze löste er den Leibriemen, der um den blauen Kittel geschlungen war, zog den Kittel über den Kopf und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf einem Schemel am Tische nieder, wo ihm Christel und August mit großem Eifer die bis an die Knie reichenden Wandgamaschen aufknöpften, während Lorchen ein paar bunter »Pattchen«,Von dem Hilgenthaler Pattchenmacher aus Zeugschnitzeln geflochten. eine Eigenart der Hilgenthaler, unterm Ofen herholte und sie dem Vater vor die Füße hielt.

Indem Frau Lore jetzt die Tassen hinstellte, das Brot aus dem Schranke nahm und die 142 Kaffeekanne aus der Ofenpfanne holte, sah die Schwester dem Bruder ganz nahe ins Gesicht und sagte mit zusammengeschlagenen Händen: »Ja, Hanfrieder, ich kann mir wohl denken, daß es dir nicht leicht geworden ist, den armen Menschen zu raten, daß sie alle Hoffnungen begraben sollen, die sie auf den heutigen Tag gesetzt hatten. Es ist auch zu traurig, wenn man's recht bedenkt; früher sind die Arbeitsleute an diesem Tage zusammengekommen, um den Grafen hochleben zu lassen, auf sein Wohl ein Gläschen zu trinken und mal so recht vergnügt zu sein, und jetzt müßt ihr zusammenkommen, um euch einander euer Leid zu klagen und euch miteinander zu trösten in eurem Elende, so gut es gehen will. Möchte der Herrgott bald ein Einsehen haben!«

Da klopfte der Lindenbaum auf einmal wieder ans Fenster, als wollte er sagen: »Haltet euch tapfer, ihr lieben Lindenleute, es wird noch viel, viel schlimmer kommen!«

Frau Lore brachte den Kleinen, der im Arm des Vaters sanft eingeschlafen war, zu Bett, worauf Lindemann den Ellbogen auf das Knie stützte, den Kopf in die Hand legte und tief aufseufzte.

Die Frauen sahen fragend auf Fritz Bonder, der nun seinen Stuhl herumrückte und mit großer Lebhaftigkeit erzählte: »Als wir in den 143 Winkelkrug kamen, war die Stube schon voll bis auf den letzten Platz. Die Branntweinskanne ging herum, und auf einem Stuhle stand der – schwarze Jerx und predigte.«

»Ach Gott, wieder dieser Aufwiegler aus der Stadt?« fiel Mutter Lindemann ihm staunend ins Wort.

»Ja, ja, der!« bekräftigte Fritz, »er ist nun schon bald immer dabei, wenn wir hier oder dort zusammen sind. Er ist wie unser Schatten!«

»Wie eben jedes Ding seinen Schatten haben muß,« bemerkte Friedesinchen leise für sich.

»Wahrlich, der unheimliche Schwarze, aus dem ich noch immer nicht recht klug werde, hätte keine günstigere Gelegenheit finden können als diesen Abend,« nahm Fritz wieder das Wort. »Denn sieht einer das fahle, kalte Gesicht der Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit beständig vor seiner Axt, vor seinem Tisch und vor seinem Bette, dann ist er bereit, das Gefährlichste und Schlimmste zu tun, sei's auch vorerst nur im Hören, Sinnen und Denken. Man fühlt's ja an sich selber.«

Das wieder aufs neue einsetzende Sturmgetöse und Schneegeprassel übertönte einen Augenblick die Jünglingsstimme.

Frau Lore, die vergeblich durch die verfrorenen und verschneiten Fensterritzen zu spähen suchte, 144 schüttelte den Kopf und sagte: »Ist's nicht gerade, als hätte der liebe Gott den Sturm geschickt, um den Zustand auszudrücken, der jetzt in unserm armen Dorfe herrscht?«

Indes fuhr Fritz Bonder fort, stark gegen den Sturm sprechend: »Und der Schwarze verkündigte das neue, große Weltenreich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und daß sein Anbruch nicht mehr fern sei, daß es aber nur siegreich erkämpft werde, wenn die ganze Arbeiterschaft in Stadt und Land ihr Joch abschüttele und einmütig zusammenstände. Ein Baum sei kein Wald und hundert Bäume für sich allein gäben auch noch keinen Wald; aber wenn hundert und tausend und hunderttausend und Millionen Bäume zusammenständen, das wäre ein Wald, der große und reiche Leute mache, Grafen und Fürsten, 145 Könige und Kaiser, – der aber auch ebensogut ein reiches und großes Volk machen könne; denn der Wald wäre ja das Volk selbst, und wenn dieser ganze große Volkswald im Sturm brause wie das Hilgenholz heute abend im ganz, ganz Kleinen, dann würde denen, die heute im Besitz aller Pracht und Herrlichkeit lebten, die auf dem Thron säßen und vor dem Altare stünden, ein Schauder im Nacken heraufkriechen, und sie würden ohnmächtig und erbärmlich unter dem Weltenwaldsturm zusammenknicken.

So lange hatte der Hanfriederpate alles ruhig mit angehört; als er nun aber sah, wie die Leute, die ohnehin schon vom Branntwein erhitzte Köpfe hatten, von der flammenden Rede gepackt und angefeuert wurden, da stand er auf und sagte ganz kurz und trocken: ›Ihr meint, Freunde, wenn das Blaue vom Himmel fiele, dann hätten wir den Himmel auf Erden; aber das Blaue fällt nicht vom Himmel; wenn es aber fiele, würdet ihr wohl gleich sehen, daß es noch nicht ein Fingerbreit vom Himmel ist.‹

Eine tiefe Stille war plötzlich eingetreten, und man sah, wie die Leute über das Wort nachdachten, man sah aber auch, wie der Respekt vor unserm Vater Lindemann wirkte. Ja, Hanfriederpate, laßt nur, das muß ich sagen, das ist die 146 Wahrheit!« bemerkte Fritz auf die abwehrende Geste Lindemanns und fuhr fort: »Der Hemmschuh, den Ihr so an den Galoppwagen der aufgeregten und aufgestachelten Gedanken der versammelten Leute gelegt hattet, ging dem schwarzen Jerx natürlich sehr wider den Strich. Aber wie immer, wenn Ihr ihm einen Stein vors Rad wälztet, suchte er's auch jetzt so zu drehen und zu wenden, als hättet Ihr eigentlich ganz in seinem Sinne gesprochen. Denn er weiß einmal, ohne Lindemann kann er in Hilgenthal nichts werden, kann er vor allem keine Reichstagsstimmen bekommen. Also geht er mit ganz unbefangener Miene auf den Hanfriederpaten zu, reicht ihm ein gefülltes Branntweinglas und sagt: ›Prost, Lindemann! Auf die große Volkszukunft! Auf die Freiheit . . .‹

›Die sich aber nicht durch Branntwein und gebrannte Reden herbeiführen läßt!‹ antwortet euer Vater und wirft das Glas zu Boden, daß die Scherben klirrend umherfliegen und der Branntwein in die erschrockenen Gesichter spritzt. –

Aber kenn' einer den schwarzen Jerx! ›Leute!‹ ruft er ohne irgend welche Aufgebrachtheit, ›können wir's dem wackern Lindemann verargen, wenn er nach der heutigen Geburtstagsgratulation seinem Grimm und Zorn einmal Luft macht?! 147 Ich denke, bei der nächsten Gratulation wird's oben im Schlosse noch ganz anders splittern und spritzen. – Krüger, das Glas bezahle ich. Füll die Kanne! Schenkt ein! Wir trinken auf das Wohl unseres Freundes und Vormannes. Der Lindenhüttenvater lebe hoch! hoch! hoch!‹

In dem gewaltigen Gegröhl, das nun losbrach, – denn etliche waren schon ganz trunken – winkte mir der Hanfriederpate, – und da waren wir beide, ehe man's mal merkte, schon draußen im Schnee.

Wer sich aber davor nicht gehütet hatte, das war unser lieber Holzvogt, unser lieber Bockler, der fast ganz zugeschneit unter dem Krugfenster stand und horchte. Als er uns gewahrte, schlich er schnell wie ein geklemmter Wolf um die Hausecke herum.

›Im harten Winter kommen die Wölfe dicht ans Haus!‹ rief euer Vater nur. Dann gingen wir unseres Wegs.«

Die Frauen hatten die Hände zusammen geschlagen.

»Gott sei Dank, daß du nur nichts Schlechtes gesagt hast auf den Herrn Grafen!« sagte Frau Lore.

»Als wenn der Unhold sich was daraus machte, was wirklich gesagt ist,« bemerkte 148 achselzuckend die Friedesinchenpate. »Hinterbringen wird er doch nur das, was er sich für seine Zwecke zurecht gemacht hat. Der Mensch ist aber nicht wert, daß wir unsern Kaffee noch ganz und gar kalt werden lassen.« Damit fing sie resolut an einzuschenken.

»Da hast du recht, Friedesinchen,« sagte Lindemann und rückte näher an den Tisch. Auch Fritz mußte mit seinem Stuhle her, während die Kinder auf ihren Plätzen je ein Köpfchen voll Milch mit Brot erhielten.

»Was mich aber so bedrückt,« nahm Lindemann nun wieder das Wort, »das ist der heillose Gedankenwirrwarr, den der schwarze Jerx zwischen uns gebracht hat. Die Leute kriegen Dinge in die Köpfe, daß einem grauen muß. Sie fangen an, sich förmlich die Brust aufzureißen, um da drinnen Platz zu machen für den neuen Geist, den Jerx ihnen gebracht hat. Und man weiß nicht, was man dagegen machen soll; ja, was das Schlimmste ist, man weiß nicht mehr, ob man überhaupt noch die Pflicht hat, gegen den neuen Geist zu kämpfen, denn wie die Zustände nun in unserm Dorfe einmal geworden sind, muß es wahrscheinlich erst noch viel schlimmer werden, ehe es wieder besser werden kann. Indem ich aber diesem Gedanken die Zügel lasse, 149 fühle ich, daß mir die Kraft und Macht, dem Schwarzen Widerstand zu leisten und die Kameraden bei ruhiger Vernunft zu erhalten, immer mehr entschwindet. Dann aber regt sich wieder eine andere Macht in mir: das Gewissen, das mir zuruft: Ob es stürmt oder schneit, ob Nacht oder Tag – der rechte Mann geht unbekümmert und unbeirrt den Weg, an den der liebe Gott seine Bäume gepflanzt hat. Seht, Kinder, so ist auch in meinem Kopfe schon ein rechter Wirrwarr entstanden. Könnt ihr euch wundern, wenn es mir in diesen Tagen manchmal so schwer wird, daß er mir tief auf die Brust herabsinkt?« –

Unten am Berge blies der Nachtwächter. Die Kinder sprangen ans Fenster und versuchten es aufzuschieben, was ihnen aber nicht gelang. Da liefen sie hinaus vor die Haustür, denn es war immer eine eigentümliche Freude für sie, wenn sie so lange aufbleiben durften, daß sie den Nachtwächter sehen konnten. Da schritt er gerade unterwärts der Linde hin, ein etwas krumm gehender Mann in langem Rock und breitkrempigem schwarzen Hut, die Leuchte, die ein mattes scheibiges Licht über den Schnee warf, in der einen und das aufglänzende Horn in der andern Hand. Jetzt setzte er es wieder 150 an den Mund, und schauerlich-schön tönte es vom Lindenberge ins Dorf hinab: »Tu–ut!« Darauf in eintönigem, gezogenem Tone:

»De Klock hät teine slon,
Tein is de Klock, ut Norden kümmt de Wind –
Behüt dich Gott, o Menschenkind!« 151


 << zurück weiter >>