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Ich bin mir dessen vollkommen bewußt, wie schwer und verantwortungsvoll es ist, das Thema »Sowjetunion« zu behandeln. Die Schwierigkeit wird durch die außergewöhnliche Widerspruchsfülle von allerhand »Augenzeugenberichten« erhöht und noch mehr durch die widersprechenden Schlußfolgerungen, die auf Grund dieser Berichte gemacht werden. Den aus der Sowjetunion stammenden Zeugen bringt die Leserschaft mit Recht Mißtrauen entgegen und verdächtigt sie nicht ohne Grund, die Farben zu dick aufzutragen. Die Zeugen aber, welche von außen nach Rußland kommen, sind bei dem ehrlichsten Wunsch technisch nicht imstande, etwas Wesentliches zu sehen – ganz abgesehen davon, daß die erdrückende Mehrheit von ihnen in ihren Sowjetbeobachtungen nicht eine Korrektur, sondern lediglich die Bestätigung ihrer früheren Ansichten sucht … und natürlich auch findet. –
Außerdem versucht ein bedeutender Teil der ausländischen Beobachter – nicht ohne Erfolg – positive Seiten des grausamen kommunistischen Experiments zu finden, das natürlich nicht auf ihre eigene Rechnung ging und geht. Die Kosten der einzelnen Errungenschaften der Macht – und diese Errungenschaften sind vorhanden – interessieren sie nicht: nicht sie zahlen ja den entsprechenden Preis. Für sie ist der Versuch mehr oder weniger kostenlos. Die Operation wird nicht an ihrem lebendigen Leibe versucht, weshalb sollen sie denn auf die Nutznießung der Ergebnisse verzichten? Das auf diese Weise erhaltene »Tatsachenmaterial« wird danach einer weiteren Bearbeitung unterworfen, die ihrerseits von den bereitgehaltenen und bereits fertiggeformten Forderungen einzelner politischer Gruppierungen abhängig gemacht wird. Als Endprodukt dieses ganzen »Produktionsprozesses« erhält man dann Bilder – oder Bildfragmente –, welche wenig Gemeinsames mit dem »Ausgangsprodukt«, nämlich mit der Sowjetrealität, haben: das, was sein soll, wiegt schwerer als das, was in der Tat ist.
Die Tatsache meiner Flucht aus der Sowjetunion bestimmt in einem gewissen Grade auch den Ton meiner »Augenzeugenberichte« im voraus. Wenn aber der Leser den Umstand berücksichtigt, daß ich in das Zwangsarbeitslager gerade wegen eines Fluchtversuches aus der Sowjetunion geriet, so bekommt dieser Ton eine etwas andere Richtung: nicht Lagererlebnisse, sondern die allgemeinen russischen Verhältnisse stießen mich ins Ausland.
Wir drei, das heißt mein Bruder, mein Sohn und ich, zogen es vor, ganz ernstlich unser Leben zu riskieren, als unser Dasein im sozialistischen Lande fortzusetzen. Wir gingen dieses Risiko ein ohne jeglichen unmittelbaren Druck von außen. Ich war in materieller Hinsicht bedeutend besser daran als der weitaus größte Teil der »qualifizierten« russischen Intelligenz, und sogar mein Bruder, der zur Zeit unserer ersten Fluchtversuche auf der Solowetzki-Insel (im Weißen Meer) seine »administrative Verbannung« absitzen mußte, hatte einen Lebensstandard, der um ein Vielfaches das Einkommen eines russischen Arbeiters überstieg. Dringend bitte ich den Leser, beim Vergleich dieses Unterschiedes noch zu berücksichtigen, daß der Lebensstandard eines Sowjetingenieurs um ein Vielfaches niedriger als der eines deutschen Arbeiters ist. Der russische Arbeiter führt im allgemeinen ein halbverhungertes Dasein.
Folglich wird der Ton meiner Aufzeichnungen durchaus nicht aus der Empfindung irgendeiner besonderen persönlichen Kränkung bestimmt. Die Revolution nahm mir keinerlei Kapitalien, weder bewegliche noch unbewegliche, aus dem einfachen Grunde, weil ich solche nie besessen habe. Ich kann sogar keinerlei spezielle oder persönliche Ansprüche an die GPU stellen: Wir wurden in das Zwangsarbeitslager nicht aufs Geratewohl gebracht, wie es bei etwa achtzig Prozent der Lagerinsassen der Fall ist, sondern für ein konkretes »Verbrechen«, ein Verbrechen, das vom Standpunkte der Sowjetmacht betrachtet, ganz besonders schwerwiegend war. Wir hatten versucht, das Sowjetparadies eigenmächtig zu verlassen. Ein halbes Jahr nach unserer Verhaftung erschien das Gesetz vom 7. Juni 1934, wonach die Flucht nach dem Ausland mit dem Tode bestraft wird. Sogar ein sowjetfreundlicher Leser muß, wie mir scheint, zugestehen, daß die Wonnen dieses Paradieses nicht allzu groß sein können, wenn die Ausgänge aus ihm strenger bewacht werden müssen als die aus einem Gefängnis.
Die Ausmaße meiner Erlebnisse in der Sowjetunion wurden dadurch bestimmt, daß ich siebzehn Jahre bei den Bolschewiken gelebt habe, und daß ich in diesen Jahren – mit und ohne Notizblock, mit und ohne Fotoapparat – Rußland kreuz und quer bereist habe. Das, was ich im Laufe dieser Sowjetjahre erlebte, und das, was ich auf den breiten Gefilden der Sowjetländer sah, mobilisierte alle meine moralischen Kräfte dagegen, weiterhin in Rußland zu verbleiben. Meine persönlichen Erlebnisse spielen dabei keine Rolle. Das übrige läßt sich in zwei Zeilen nicht sagen – es muß aus meinen Aufzeichnungen gefolgert werden.
Wenn man versuchen wollte, vorweg und nur skizzenhaft jenen Prozeß zu definieren, welcher zur Zeit in Rußland vor sich geht, so kann man ungefähr folgendes sagen:
Es ist ein äußerst komplizierter und widerspruchsvoller Prozeß im Gange. Die Sowjetregierung hat einen Zwangsapparat von einer Stärke geschaffen, wie ihn die Weltgeschichte noch nie gesehen hat. Diesem Zwang steht aber zugleich ein Widerstand fast gleicher Stärke gegenüber. Zwei ungeheuere Kräfte haben sich ineinander verkrampft und in einen seiner Spannung und Tragik nach beispiellosen Kampf eingelassen. Der Staatsapparat erstickt unter einem Berg von unlösbaren Aufgaben, das Land ringt unter der Last kaum erträglicher Bedrückungen schwer nach Atem.
Die Sowjetmacht hat die Weltrevolution zum Ziel. Und da die Hoffnungen auf die baldige Erreichung dieses Zieles geschwunden sind, muß eben das ganze Land in ein moralisches, politisches und militärisches Aufmarschgelände verwandelt werden, das bis zum geeigneten Augenblick als Unterkunft für die revolutionären Kader, die revolutionäre Armee und revolutionäre Erfahrung dienen soll.
Die Menschen, die zu diesem »Land« gehören, wollen sich jedoch nicht in den Dienst der Weltrevolution stellen, wie sie auch nicht gewillt sind, ihre Habe und ihr Leben dafür preiszugeben. Die Staatsgewalt ist stärker als die Menschen; aber die Menschen sind zahlreicher. Die Scheidewand zwischen der Staatsgewalt und den Menschen ist mit einer solchen Schärfe aufgerichtet, wie sie gewöhnlich nur zu Zeiten einer ausländischen Besatzung beobachtet wird. Der Kampf selbst nimmt Formen mittelalterlicher Grausamkeit an.
Weder auf dem Newskiprospekt noch auf der Kusnetzkibrücke, also weder in Petersburg noch in Moskau sieht man diesen Kampf und diese Grausamkeiten. Hier handelt es sich um ein von der Macht endgültig erobertes Gebiet. Der Kampf geht in den Fabriken und Werken, in den Steppen der Ukraine und Mittelasiens, in den Bergen des Kaukasus, in den Wäldern Sibiriens und des Nordens weiter. Er ist bedeutend heftiger geworden, als er in den Jahren des Kriegskommunismus war. Daher die ungeheuerlichen Zahlen der »Lagerinsassen« und ein durch ununterbrochenes Hungern fortwährendes Aussterben des Landes.
Auf den »eroberten« Territorien der Hauptstädte jedoch, der größeren Industriezentren, der Haupteisenbahnlinien hat man eine verhältnismäßig äußerliche »Ordnung« geschaffen: der Feind ist verdrängt oder vernichtet. Terror in den Städten, der in der ganzen Welt sein Echo findet, ist für unzweckmäßig, sogar für schädlich befunden worden. Er ist nach unten abgewandert: in die Massen, von der Bourgeoisie und Intelligenz zu den Bauern und Arbeitern, aus den Kabinetten zum Pflug und zu der Werkbank. Für den Außenstehenden ist er fast unsichtbar geworden.
Das Thema Zwangsarbeitslager in der Sowjetunion ist bereits ziemlich abgenutzt. Jedoch wurde es meistens als Thema persönlicher Erlebnisse von Leuten behandelt, die mehr oder weniger unverschuldet ins Zwangsarbeitslager geraten waren. Mich dagegen interessiert das Zwangsarbeitslager nicht als ein Gebiet von »Greuelstätten«, nicht als Ort der Leiden und des Unterganges von Millionenmassen, auch nicht als Hintergrund meiner persönlichen Erlebnisse – wie diese auch gewesen sein mögen. Ich schreibe keinen sentimentalen Roman und beabsichtige auch nicht, in dem Leser das Gefühl der Sympathie oder des Mitleids zu erwecken. – Nicht um Mitleid handelt es sich, sondern um Klarheit und Verständnis.
Und gerade hier im Zwangsarbeitslager ist es am leichtesten und einfachsten, den Hauptinhalt und die »Grundregel« jenes Kampfes zu erfahren, der auf dem ganzen Gebiet der »sozialistischen« Republik, genannt »Sowjetunion«, dauernd geführt wird.
Zuvor mache ich den Leser noch auf eines aufmerksam: nichts Wesentliches unterscheidet das Lager von der eigentlichen Freiheit. Wenn man's im Lager auch schlechter hat als in der Freiheit, so nur ganz unbedeutend; ich meine die große Masse der Lagerinsassen, Arbeiter und Bauern. All das, was sich im Lager ereignet, ereignet sich auch in der Freiheit und umgekehrt. Nur ist es im Lager anschaulicher, einfacher, schärfer umrissen. Fort ist hier jene Reklame, jener »ideologische Zierrat«, jene unterschobene und zur Schau gestellte Gemeinschaft, es gibt keine weißen Handschuhe und ängstliche Rücksichtnahme dem Ausländer gegenüber, wie dies alles in der Freiheit so reichlich vertreten ist.
Möglich, daß manche Seiten meiner Aufzeichnungen dem Leser als zynisch erscheinen werden. Selbstverständlich bin ich sehr weit von dem Gedanken entfernt, mich als ein unschuldiges Opferlamm hinzustellen: in dem grausamen alltäglichen Existenzkampf, welcher im ganzen Rußland immer und überall geführt wird, gibt es solche Opferlämmer nicht mehr – sie sind ausgestorben. Ich bitte aber, nicht zu vergessen, daß es sich hier wirklich um Leben und Tod gehandelt hat – und das nicht nur bei mir allein.
In jenem allgemeinen Kampf auf Leben und Tod, von dem ich soeben sprach, darf man sich die Sache nicht so vorstellen, daß auf einer Seite erbarmungslose Henker und auf der anderen nur widerspruchslose Opfer stehen. Es muß berücksichtigt werden, daß das Land während der jahrelangen Kämpfe Millionen von Arten eines Widerstandes und einer »Geländeanpassung« ausgearbeitet hat, abgesehen von allerhand Kniffen, die nicht immer in den Rahmen der christlichen Moral hineinpassen. Es soll auch kein Platz für die Vorstellung sein, daß das Leiden unbedingt mit einem Nimbus der Heiligkeit erscheint. Ich werde das Sowjetleben – meinen Fähigkeiten entsprechend – so schildern, wie ich es gesehen habe. Wenn einige Seiten dieses Lebens dem Leser nicht gefallen sollten, so ist es nicht meine Schuld.
Die Epoche der Kollektivierung steigerte die Zahl der Lager und der Lagerinsassen bis zu früher unerhörten Ziffern. Gerade in Verbindung damit hörten die Zwangsarbeitslager auf, ein Inhaftierungs- und Vernichtungsort Tausender von »Gegenrevolutionären« zu sein, wie es z. B. die Solowetzki-Inseln waren. Sie verwandelten sich in ein gigantisches Unternehmen zur Ausbeutung kostenloser Arbeitskräfte. Diese wurden durch die GPU-Hauptverwaltung der Zwangsarbeitslager, die GULAG, verwaltet. Die Grenzen zwischen dem Lager und der Freiheit verwischen sich jetzt mehr und mehr. Im Lager geht ein Prozeß verhältnismäßiger Entsklavung vor, in der Freiheit ein Prozeß absoluter Versklavung der Massen. Das Lager ist durchaus nicht eine Kehrseite, irgendeine Unterwelt, sondern einfach ein eigenartiges Stück des Sowjetlebens für sich. Wenn wir uns ein weniger hungerndes, besser gekleidetes und weniger intensiv der Erschießung unterworfenes Lager, als es gegenwärtig der Fall ist, vorstellen, dann haben wir ein Stück des künftigen Rußlands im Falle einer weiteren »friedlichen« Evolution. Ich nehme das Wort friedlich in Anführungszeichen; denn dieser schlechte Friede ist bei weitem schlimmer als ein gründlicher Krieg. Und das heutige Rußland ist einstweilen nicht viel besser als das heutige Zwangsarbeitslager.
Das Lager, in welches wir geraten waren – das Weißmeer-Ostsee-Kombinat, einfach BBK genannt – war ein Reich für sich, ein Gebiet, das von Petrosawodsk bis Murmansk reicht mit eigenen Holzverwertungsstellen, Steinbrüchen, Werken, Eisenbahnlinien und sogar mit eigenen Werften und eigener Schiffahrt. Das Lager ist in neun große Abteilungen eingeteilt. In jeder dieser Abteilungen gibt es fünf bis siebenundzwanzig Unterlager mit je fünfhundert bis fünfundzwanzigtausend Insassen. Die Mehrzahl von diesen Unterlagern hat wieder ihre Unterlager (in der Sowjetsprache Abkommandierungsstellen genannt). Das sind allerhand kleine Unternehmungen, weit verstreut auf dem Unterlagergelände.
Bei der Eisenbahnstation Medwjed-Gora (nach bolschewistischer Abkürzung Medgora genannt) befindet sich die Hauptverwaltung dieses Gesamtlagers – sie ist zu gleicher Zeit auch die sogenannte Regierung der »föderativen Republik« Karelien; das Lager verschlang die Republik, besetzte ihr ganzes Territorium, und – nach dem bekannten Befehl Stalins über die Organisation des Weißmeer-Ostsee-Kanalbaues usurpierte es alle wirtschaftlichen und administrativen Funktionen der Regierung; der eigentlichen Sowjetregierung dieser »Republik« blieb lediglich die »Repräsentation«; im übrigen hatte sie den Befehlen von Medgora zu gehorchen.
Ende Juni 1934 bestand die Lagerbevölkerung des BBK aus etwa 280 000 Menschen, obwohl das Lager bereits im Abbau begriffen war, da die Arbeiten am Weißmeer-Ostsee-Kanal im großen und ganzen bereits beendet waren und eine gewaltige Menge von Sträflingen – ich weiß nicht genau wieviel – zum Bau der Baikal-Amur-Bahn im Fernen Osten umdirigiert wurde. Anfang März desselben Jahres arbeitete ich in der Planabteilung des Swir-Lagers, eines von den vielen, verhältnismäßig kleinen Lagern, dessen Bevölkerung 78 000 erreichte. Einige Zeit arbeitete ich in der Registratur und Verteilungsstelle der Hauptverwaltung – und wurde deshalb mit den häufigen Versetzungen von Lager zu Lager vertraut. Dies gab mir die Möglichkeit, mit einer allerdings ziemlich groben Annäherung die Menge der Insassen aller Lager der Sowjetunion zu bestimmen. Bei dieser Berechnung ging ich von den mir genau bekannten Ziffern der »Lagerbevölkerung« des Swir-Lagers und des BBK-Lagers aus und verglich damit die übrigen mir mehr oder minder bekannten Lager. Manche von diesen waren größer als BBK, z. B. das BAM-, Sibirien- und Dmitlager, die Mehrzahl war kleiner. Schließlich gibt es eine unbestimmte Menge kleiner und kleinster Lager auf den einzelnen staatlichen Gutshöfen (Sowchosen) und sogar in den Städten. So wurden z. B. in Moskau und Petersburg die Häuser der GPU und die Sportplätze »Dynamo« durch die Arbeitskraft der örtlichen Lagerinsassen gebaut … Ich glaube, daß die Gesamtzahl der in diesen Lagern Inhaftierten nicht weniger als fünf Millionen betrug. Höchstwahrscheinlich etwas mehr. Aber von Genauigkeit kann bei dieser Zahl selbstverständlich nicht die Rede sein. Dazu kommt noch, wenigstens nach meinen Erfahrungen, die »Bearbeitung« der Statistik von den unteren Stellen der Lagerverwaltung, so daß ich bezweifle, ob die GPU selbst über die Anzahl der Lagerinsassen wenigstens in runden Hunderttausenden im Bilde ist.
Hier ist die Rede von den Lagerinsassen im engsten Sinne dieses Wortes. Außer diesen gibt es noch allerhand andere mehr oder weniger inhaftierte Volksgruppen. So befanden sich z. B. zu meiner Zeit 28 000 Familien im BBK-Lager, sogenannte »Spezialsiedler« – das waren die Bauern aus dem Woroneschbezirk (oberes Dongebiet), die man mit ihren großen Familien zur Ansiedlung nach Karelien verschickte und unter die Obacht der BBK-Hauptverwaltung stellte. Die GPU im Dongebiet konnte diese Familien, da es sich um die besten Bauern handelte, nicht gebrauchen. Sie befanden sich in einer bedeutend schlechteren Lage als die Lagerinsassen, weil sie mit ihren Familien »freiwillig« kamen und infolgedessen keine Tagesrationen erhielten. Weiter folgt die Kategorie der Administrativverbannten, die einzeln verschickt werden. Diese Verbannungsart ist aus der Vorkriegszeit übernommen, jedoch nicht mit der Existenzsicherstellung der Verbannten seitens des Staates. »Lebe, wie du willst«, heißt es hier. Ferner gibt es »freiwillig Verbannte«, das sind Bauern, die man dorfweise in die unfruchtbaren Gebiete, um nicht Wüsten zu sagen, geschickt hat, die aber der GPU nicht unmittelbar unterstellt sind.
Über die Anzahl dieser Kategorien, ganz zu schweigen von der Menge der Gefängnisinsassen, habe ich nicht einmal eine ungefähre Vorstellung. Es ist aber zu berücksichtigen, daß all diese eingesperrten und halbeingesperrten Menschen die Blüte der Nation sind, in der Hauptsache Bauern. Ich glaube, daß sich nicht weniger als ein Zehntel der erwachsenen männlichen Bevölkerung des gesamten Landes entweder in den Lagern oder irgendwo um diese herum befindet …
Das sind fürwahr keine europäischen Maßstäbe. Das Verbannungssystem der GPU erinnert an die assyrischen Methoden und Maßstäbe.
»Die Assyrer«, so schrieb ein Gelehrter, »haben seinerzeit ein System ausgeklügelt, das ihren Eroberungen eine große Dauerhaftigkeit versprach. Dort, wo sie auf einen heftigen Widerstand oder wiederholte Aufstände stießen, legten sie die Kräfte des besiegten Volkes dadurch lahm, daß sie ihm das Haupt nahmen, d. h. sie entrissen dem Volke die herrschende Klasse: die prominentesten, die gebildetsten und kampffähigsten Elemente, und verschickten diese in weitentlegene Gegenden, wo sie, losgerissen von ihrem Boden, kraftlos verkümmerten. Die in der Heimat verbliebenen Bauern und kleinen Handwerker stellten eine zusammenhanglose Masse dar, die nicht fähig war, den Eroberern irgendwelchen Widerstand entgegenzusetzen.« Die Sowjetmacht stößt überall auf den »heftigsten Widerstand und sich wiederholende Aufstände« und hat allen Grund, zu befürchten, im Falle von äußeren Komplikationen auf eine derartige Fülle von Widerständen und Aufständen zu stoßen, wie sie selbst das vielgeprüfte Rußland noch nicht gesehen hat. Daher die assyrischen Methoden und Maßstäbe. Alles mehr oder minder wirtschaftlich Stabile, halbwegs Fähige, selbständig Denkende und Handelnde, kurzum all das, was den geringsten Widerstand gegen die allgemeine Gleichmachung leistet, wandert aus oder wird entwurzelt und in die Verbannung geschickt.
Wie man sieht, sind die angeführten Zahlen weit entfernt von der »friedlichen Evolution« und von der seitens der Bolschewiken mit soviel Tamtam gepriesenen »Liquidation des Terrors« … Ich fürchte, daß die russische Emigration sich für alle möglichen Evolutionstheorien einfangen läßt, bestrebt, im Gewünschten das Wirkliche zu sehen. In Rußland hört man über diese Theorien absolut nichts, und für uns – alle drei – waren diese Emigrantentheorien etwas ganz Unerwartetes: sie wirkten wie der Blitz aus heiterem Himmel … Selbstverständlich wird die gegenwärtige Finte der Sowjetmacht: »Vaterlandsverteidigung«, auch in Rußland besprochen, jedoch während meiner ganzen äußerst leidvollen Sowjetpraxis habe ich kein einziges Mal gehört, daß diese Finte als etwas Wahres diskutiert wurde, wie es hier im Auslande oft der Fall ist … Zu Zeiten der NEP, der »Neuen ökonomischen Politik«, die kurz vor dem Tode Lenins eingeführt und von Stalin mit brutalster Gewalt wieder beseitigt wurde, mißbrauchte die Sowjetmacht den Eigentumsinstinkt und verbannte dann zehn- und hunderttausende ihrer zeitweiligen »NEP-Gehilfen« auf die Solowetzki-Inseln oder ließ sie einfach erschießen. Der erste Fünfjahresplan beutete den Bauinstinkt aus und brachte das Land in eine Hungersnot, die sogar in der Geschichte des sozialistischen Paradieses bis dahin nicht vorgekommen war. Gegenwärtig versucht die Sowjetmacht, den nationalen Instinkt auszunutzen, um im Falle von kriegerischen Aufgaben sich wenigstens den eigenen Rücken zu sichern. Mit der Geschichte dieser Gehilfen, Mitläufer und Neuanfänger, die man bis aufs Blut ausgebeutet und dann abgeschlachtet hat, könnte man ganze Bände füllen. In der Emigration und im Auslande dürfte man manchmal diese Geschichte vergessen oder sich in der Bewertung der Ereignisse irren. In Rußland aber bezahlten die Menschen, die sich in der Bewertung irrten oder den Beteuerungen der Sowjetmacht glaubten, ihre Irrtümer mit dem Leben. Und deshalb wird in Rußland ein Mensch, der ernstlich über die Evolution der Macht sprechen wollte, einfach ausgelacht. Wie man die Aussichten auf eine »friedliche Evolution« der Sowjetmacht oder ein »friedliches Hineinwachsen des Sozialismus in den Bauern« auch bewerten mag – eine Tatsache bleibt für mich völlig außer Zweifel: das Land erwartet den Krieg, um sich zu erheben. Von irgendeiner Verteidigung des »sozialistischen Vaterlandes« durch das Volk kann nie und nimmer die Rede sein. Im Gegenteil: mit wem auch der Krieg geführt werde und was für Folgen eine militärische Niederlage auch nach sich ziehen mag – alle Seitengewehre und Heugabeln, die irgendwie in den Rücken der roten Armee hineingestoßen werden können, werden unbedingt hineingestoßen. Das weiß jeder Bauer, wie es jeder Kommunist weiß. Jeder Bauer weiß, daß er gleich nach den ersten Schüssen des Krieges zunächst und in erster Linie den nächsten Vorsitzenden des Dorfsowjets, des Kolchos und andere mehr umbringen wird, und diese sind sich darüber absolut im klaren, daß sie gleich in den ersten Tagen des Krieges wie die Hammel abgeschlachtet werden … Ich kann nicht sagen, daß ich die Probleme der Religion, Monarchie, Republik usw. in Rußland völlig klar durchschaue … aber was im Kriegsfall geschieht, drängt sich mit solcher Klarheit hervor, daß hierbei keinerlei Fehlschlüsse möglich sind … Ich halte die Aussicht nicht für besonders rosig; aber andere Aussichten sind kaum mehr vorhanden … Ich kenne ziemlich genau die russische Wirklichkeit und stelle mir klar vor, was in Rußland am zweiten Tage der Kriegserklärung geschieht – der Kriegskommunismus (1919-1922) wird dann als ein Kinderspiel erscheinen. Einige Proben eines solchen Spieles habe ich selbst im Kirgisenland, im Nord- und Mittelkaukasus beobachtet. Der Kommunismus kennt es ebenso genau, und eben deshalb versucht er, sich an den Strohhalm des Vertrauens zu halten, das ihm, wie es scheint, in den Massen noch übriggeblieben ist …
Sicherlich gehört das Bild vom Esel mit dem vor seine Nase gebundenen Heubündel zu den genialsten Erfindungen der Weltgeschichte, aber sogar diese Erfindung verbraucht sich; man kann noch einmal die Menschen betrügen, die in Paris oder im Fernen Osten sitzen; aber man kann nicht noch einmal (zum wievielten Male, o Gott!) Menschen betrügen, die im Zwangsarbeitslager oder im Kolchos sitzen … Für sie gilt augenblicklich: ubi bene, ibi patria – und schlechter als im Sowjetvaterland wird es ihnen nirgendwo ergehen … Das alles ist, wie jeder sieht, sehr prosaisch, nicht gerade erfreulich, aber immerhin Tatsache.
Von dieser Tatsache weiß der Bolschewismus, und er baut seine Kriegspläne mit großer Hoffnung auf die Aufstände auf, die bei ihm wie bei seinem Gegner ausbrechen können. Es kommt, wie ein hoher Sowjetmilitär mir sagte, darauf an, wo die Massenaufstände ausbrechen – bei uns oder bei dem Gegner. Sie werden vor allem im Rücken der zurückweichenden Partei ausbrechen. Deshalb müssen wir angreifen, und deshalb werden wir angreifen.
Wohin ein solcher Angriff führen kann, weiß ich nicht. Möglich ist aber, daß als dessen Resultat die Weltrevolution zu einer aktuellen Frage werden wird. Und dann werden die Herren Blum, Herriot, Bernhard Shaw und viele andere, die den bolschewistischen Köter wohlgefällig streicheln, oder die in Form von Handelsverträgen von ihm wenigstens einen Dollarfetzen erhaschen möchten, gezwungen, ihre Ansichten nicht mehr in bequemen Arbeitszimmern, sondern auch auf den Solowetzki-Inseln und in den BBK-Lagern einer Nachprüfung zu unterziehen – wie viele, sehr viele Menschen, die an die Evolution geglaubt hatten, es jetzt tun: nicht in Paris oder sonstwo, sondern in Rußland zu Hause …
In diesem, immerhin nicht ganz ausgeschlossenen Falle werden manche nicht ganz angenehme Weiten der russischen Ferngebiete den verbrüderten Revolutionskomitees zweifelsohne liebenswürdig zur Verfügung gestellt, um dort viele heute gutgläubige Menschen anzusiedeln – wo soll man auch diese Ferngebiete finden, wenn nicht im russischen Norden?
Und für diesen Fall mögen meine Aufzeichnungen als Mittel zum Selbstunterricht und als Wegweiser dienen.