Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Stütze der Macht

 

»Treibriemen zu den Massen«

Das Bild der gegenwärtigen russischen Wirklichkeit wird nicht allein durch die Anweisungen der oberen Anführer, sondern auch durch die Qualität des alltäglichen Wirkens jener Millionen der »Kader« sowjetistischer Aktivisten bestimmt, welche den Anführern als »Treibriemen« dienen. Das ist ein kräftiger und zäher Riemen. In der Sowjet-Verwaltungspraxis wurden diese Aktivisten seit etwa zwölf Jahren auf dem Wege einer eigenartigen natürlichen »Auslese« ausgesucht, schmolzen zu einer gleichartigen Schicht zusammen und entwickelten im hohen Grade wahrscheinlich angeborene Eigenschaften, die ihre katastrophale Rolle in der Sowjetwirtschaft und im Sowjetleben gespielt haben und noch spielen.

Der sowjetistische Aktiv ist eben jene für den Außenstehenden rätselhafte Schicht, die die Macht kräftiger und sicherer als die GPU zu stützen vermag, die einzige Schicht der russischen Bevölkerung, die geschlossen und bis zum letzten Blutstropfen dem bestehenden Regime ergeben ist. Dieser Aktiv umfaßt die unteren Parteistellen, einen Teil der kommunistischen Jugend, eine sehr bedeutende Anzahl von Menschen, die sehnlichst das Parteibuch und den Posten eines Tschekisten erwarten.

Nimmt man als Vergleich die Zeiten aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, allerdings kein besonders passender Vergleich, so muß man sagen, daß auch damals das Land nicht durch die »Ochrana Geheimpolizei.«, nicht durch die Gendarmen, auch nicht durch die rühmlichen zehntausend Amtsvorsteher regiert wurde. Die Funktionen der unmittelbaren »Bändigung« des Bauern und eines direkten »Ausklopfens« von »Zusatzwerten« aus ihm besorgten allerlei »stille Helden« in Gestalt von Dorfschulzen, Gutsverwaltern und dergleichen, die mit der Knute im seinerzeit sprichwörtlich gewordenen Pferdestall und mit der gewichtigen Faust an allerhand anderen Orten wirkten.

Selbstverständlich ist der Gutsverwalter der Leibeigenenzeit von dem Aktivisten aus der Epoche »des verwesenden Kapitalismus und unserer proletarischen Revolution« himmelweit entfernt. Der Gutsverwalter hatte die Knute, der Aktivist aber hat Maschinengewehre, und wenn es sein muß, sogar Bombenflugzeuge, Panzerautos und Tanks. Der Gutsverwalter nahm von der Arbeit des Bauern verhältnismäßig recht wenig, der Aktivist aber nimmt ihm das Letzte.

Der »Finanzplan« eines Gutsverwalters umfaßte durchschnittlich an sich harmlose Ausgaben eines mehr oder minder verschwenderischen Gutsherrn, die sozusagen zum Versaufen unseres Häuschens und der ersten und der zweiten Hypothek mitdienten – der »Finanzplan« eines Aktivisten ist aber auf die Erreichung der Weltrevolution gerichtet und somit auf die Ausfuhr ins Ausland all dessen, was nur exportiert werden kann. Da aber das Land mit Naturschätzen überreichlich versehen ist und von der Sowjetmacht außer dem Terror und den »administrativen Maßnahmen« nichts weiter zu erwarten hat, weshalb die Handelsbilanz immer zugunsten dieser Macht ausfällt, gehen die Entnahmen für Export in für das verhungerte Land wirklich verwüstende Ausmaße. Und die Kassen der Komintern füllen sich.

Der Sowjetaktiv wurde ins Leben gerufen, um drei Dinge möglich zu machen: Bespitzelung, Unterdrückung und Ausplünderung. Vom Standpunkt der im Kreml sitzenden Machthaber ist der »Sowjet-Volksgenosse« politisch immer unzuverlässig – angefangen von dem gestrigen Vorsitzenden der kommunistischen Internationale bis zum letzten Bauern, gleichgültig ob dieser dem Kolchos angehört oder nicht. Folglich muß die Bespitzelung in die kleinsten Poren des Volksorganismus eindringen, und sie tut es auch. Die Bespitzelung ist aber ohne die ihr folgende Unterdrückung sinn- und zwecklos, deshalb wird auf dem »Spitzelsystem« das System einer erbarmungslosen Unterdrückung aufgebaut … die alltägliche, äußerlich wenig erkennbare Routine von Ausplünderung, Bespitzelung und Repressalien schaffen die Kader des Aktivs. Die GPU steht lediglich an der Spitze dieses Systems und läßt sich nicht zu den Volksmassen herab: dazu würde kein »Personal«, kein Etat ausreichen. Also muß das »Wirken« ausschließlich dem Aktiv überlassen bleiben, und er wirkt praktisch ohne jegliche Kontrolle und Berufungsmöglichkeit. Um sich mit solchen Sachen jahrein, jahraus zu befassen, ist eine entsprechende psychologische Struktur nötig. Man braucht dazu nach dem Ausdruck des russischen Satirikers Saltykow »seelisch hartgesottene Schurken«. Und die findet man schon.

 

Die Geburt des Aktivs

Die Stammutter dieser hartgesottenen Gesellen ist, freilich nicht chronologisch – sondern psychologisch gemeint, jenes rühmliche und bereits sprichwörtlich gewordene Komsomolmädchen, das zu der GPU lief, um die eigene Mutter zu denunzieren. Praktisch ist es ganz nebensächlich, was für Gründe das Mädchen dazu bewogen haben: ideelle oder ichsüchtige Gründe, etwa weil es von der Mutter zu einer unheilvollen Stunde eine Ohrfeige bekommen hat. Selbst dann, wenn die Familie dieses vielversprechenden Mädchens nach der Denunziation auch unangetastet blieb, ist es klar, daß es kein Zurück in das väterliche Haus mehr gab. Auch keine andere Familie hätte es aufgenommen. Nicht einmal eine kommunistische Familie. Obwohl eine solche die Bespitzelung grundsätzlich unterstützt, duldet sie im eigenen Hause einen Tschekaspitzel nicht. Schon der erste Schritt eines Sowjetaktivisten also ist durch Verrat und Isolierung von den Seinen gekennzeichnet.

Man muß sich immer vor Augen halten, daß das Leben inmitten von »Massen der Sowjetwerktätigen« wirklich sehr ungemütlich ist. De jure – regiert diese Masse die »erste Werktätigenrepublik der Welt«, de facto ist sie lediglich das Objekt unglaublichster »administrativer Maßnahmen«, denen zufolge sie schon seit achtzehn Jahren nicht mehr zu sich kommt und nicht satt zu essen findet. Deshalb ist in der Sowjetunion die Tendenz, sich von der Masse loszureißen, sich in irgendeine zumindest relativ höhere Schicht durchzuringen, äußerst scharf ausgeprägt. Diese Tendenz macht auch den sogenannten »Drang zum Studium« verständlich. Das Losreißen von den Massen kann, schematisch gesagt, auf dreierlei Wegen erreicht werden: man kann den Weg der »Steigerung der Qualifikation« beschreiten, zum Beispiel Werkmeister werden oder Traktorenführer im Kolchos. Dies ist zwar kein vielversprechender Weg; aber immerhin ernähren sich der Meister als auch der Traktorenführer ein ganz wenig besser als die Masse und sind mehr in Sicherheit. – Der zweite Weg, der Weg zum Studium, zu den Arbeitern der Stirn, ist mit allerhand Dornen bestreut und verlangt außer der Menge von »sonstigen Aussichten« ein vier bis fünf Jahre währendes hungriges Hundeleben in den studentischen Gemeinschaftsräumen, die man sehr wenig Aussicht hat, ohne Tuberkulose zu verlassen. Und endlich der dritte Weg: die »gemeinschafts-administrative Aktivität«. Schreckliches Wort! Dort sammelt sich jener Teil der Jugend, der nach der Macht strebt, um sofort satt zu werden.

Das Schema einer Karriere ist hierbei nicht sehr kompliziert. Die Sowjetmacht schwimmt im Überfluß von einer unendlichen Menge von allerhand Gemeinschaftsorganisationen, in denen alle ohne Ausnahme »mitwirken« müssen. Wie und womit kann so ein Aktivanwärter im Sinne der Gemeinschaft wirken?

Im Dorfsowjet oder im Berufsverband, in einer Kolchos- oder Werkversammlung wird er mit und auch ohne jegliche Veranlassung als Hampelmann aufspringen und seine Ergebenheit und Unnachgiebigkeit hinausposaunen. Rednertalent ist hierbei nicht nötig. Eigene Gedanken noch weniger; denn der Gedanke, dazu noch der eigene, trägt immer einen Anflug von etwas Unerlaubtem und sogar Unzuverlässigem. Den gleichen Anflug hat auch ein »Regierungsgedanke«, wenn er mit eigenen Worten zum Ausdruck gebracht wird. Deshalb hat die Sowjetpraxis eine ganze Reihe von streng standardisierten Phrasen, die längst jeden vernünftigen Sinn verloren haben: »erbarmungslos gegen den Klassenfeind kämpfend« (wer ist aber heuer der Klassenfeind?), »voll und ganz der Generallinie unserer geliebten proletarischen Partei folgend« (und was ist die Generallinie?), »Wache halten im entscheidenden und die Vollendung bringenden Jahre des Fünfjahresplanes« (und warum denn entscheidend und die Vollendung bringend?) – na und so weiter. Die Reihenfolge der Phrasen ist nicht vorgeschrieben, der Hauptsatz darf überhaupt fehlen. Der Sinn fehlt fast immer. Das Ganze aber zusammengenommen, schafft etwa den Eindruck:

»Guck mal an, unser Peterchen erklettert die Aktivistenleiter.«

Das ist aber nur die Vorschule der Aktivität. Für das weitere Fortkommen muß die Aktivität »konkretisiert« werden, und dazu werden bereits auf dieser Sprosse die Berufenen und Auserwählten ausgesiebt. Es genügt nicht, zu sagen: »wie festgerammte Pfähle Wache stehen« und so weiter, sondern man muß sagen, wer und was uns an diesem Stehen hindert. Was hindert »den unaufschiebbaren und unverzüglichen Triumph des Sozialismus«? Was stört »das ununterbrochene und stürmische Wachstum des Wohlstandes der breiten Massen der Werktätigen« und ihre Versorgung mit nicht verfaulten Kartoffeln in genügender Menge? Was stört »die Erfüllung oder die Übererfüllung des Produktions-Finanzplanes« unseres Werkes? Wer wird daraus klug werden? Bei allen Versuchen, doch daraus klug zu werden, läuft man Gefahr, einer »Entgleisung« oder einer »Abweichung« oder gar der »antisowjetistischen Agitation« beschuldigt zu werden. Weniger beschwerlich für den Kopf, mehr rentabel für die Karriere und ganz ungefährlich für das eigene Wohlergehen ist es, die Tribüne zu besteigen und herauszuplatzen:

»Nach meiner proletarischen Arbeitermeinung untergräbt Ingenieur Iwanoff den Plan unserer Zeche. Darum, Genossen, weil er nicht zu unserer proletarischen Klasse gehört: dem sein Oller ist Priester und er selbst so'n Stück bürgerlicher Intellektueller.«

Für den Ingenieur Iwanoff wird dies keine bösen Folgen haben: die GPU kennt ihn auch ohne Empfehlung unseres Aktivisten. Doch hat unser Aktivist dadurch ein kleines »politisches Kapitälchen« bereits erworben: er macht sich doch Sorgen um die Nöte unserer proletarischen Zeche und bleibt vor dem Angeben nicht stehen.

Im Dorfe wird so ein Aktivist damit herausplatzen, daß der »Kulake« Iwanoff eine Anti-Kolchos-Agitation treibt. Bei solcher Wendung der Sache hat der »Kulake« Iwanoff sehr viel Chancen, in ein Zwangsarbeitslager zu geraten. Den Ingenieur wird der Aktivist im Werk kaum ernstlich beißen können, weshalb seine Denunziation nach keiner Seite hin besondere Folgen hat – aber seinen Arbeitsgenossen kann er sehr fühlbar ankreiden. Er gibt an, daß Petroff bewußt und böswillig Schundware produziert, daß Sidoroff ein falscher Arbeitsstürmer ist und deshalb keinen Anspruch auf das »Sturmessen« in der Werkkantine hat, und daß Iwanoff VII bewußt die proletarischen Demonstrationen nicht besucht.

Für so ein kleines Würmchen, wie es der Werkarbeiter ist, hat die GPU kein Interesse. Deshalb wird in solchem Falle die Petzerei des Aktivisten – wie man in der Sowjetunion sagt – lediglich »auf Bleistift genommen«. Petroff wird auf eine niedrigere Lohnstufe gesetzt oder auch entlassen. Sidoroff wird seine Mittagskarte entzogen. Iwanoff VII kann auf äußerst unangenehme Unterhaltungen gefaßt sein; denn, wie es seinerzeit in einem seiner Werke der Satiriker Saltykow sagte, »die Feiertage unterscheiden sich von den Werktagen durch die verstärkten Marschübungen«, und die Teilnahme an solchen Marschübungen ist für den Sowjetbürger Pflicht.

So etwas ist schon eine »konkrete Denunziation«, ist ein voller Beweis der politischen Zuverlässigkeit und eröffnet dem Aktivisten den Weg nach oben. Über diesen Punkt stolpern alle, die für eine Denunziation eine nicht genügend abgehärtete Seele haben.

Des weiteren bekommt der Aktivist bereits bestimmte, obwohl noch unentgeltliche Aufgaben, füllt Aufklärungsaufträge der kommunistischen Zelle aus, wird Teilnehmer irgendeiner »leichten Kavallerie«, die mit Mandaten und Vollmachten ausgerüstet plötzlich wie eine Patrouille in einem Betrieb erscheint, und sie richtet dort, wo bis jetzt die »ehrliche sowjetistische Kaschemme« war, das jüngste Gericht ein: repräsentiert die »Arbeitermasse« bei irgendeiner »Säuberung« (die wirkliche Arbeitermasse geht zu den Säuberungen sowieso nicht) und verbeißt sich dort in die von der kommunistischen Zelle vorher vorausbestimmten Waden, fischt »Drückeberger, Faulenzer und Arbeitsschädlinge« heraus, knöpft den Säumigen die MOPR- und OSOWIACHIM-beiträge ab … Auf dem Dorfe wird ein Aktivist außerdem noch von Hütte zu Hütte gehen und ausschnüffeln, ob irgendwo im alten Filzstiefel fünf bis zehn Pfund des dem Staate nicht abgelieferten Bauerngetreides versteckt liegen; er wird allerhand »antistaatliche Tendenzen« ausspüren und überhaupt in allen möglichen Richtungen denunzieren … Nachdem er die Prüfungszeit hinter sich und bewiesen hat, daß er tatsächlich eine hartgesottene Seele ist, bekommt dieser Schurke nunmehr eine Aktentasche und eine Position.

 

Administrative Betätigung

Gewöhnlich ist es eine ziemlich schäbige Position. Aber je mehr die Hartgesottenheit der Seele und die Unnachgiebigkeit des Charakters in Erscheinung treten, vornehmlich angesichts des menschlichen Leides, der Not, überhaupt jedes Menschenlebens – desto breiter und üppiger werden die Gefilde der künftigen Betätigung. Und in der Ferne, irgendwo am Horizont, schimmert der wegweisende Stern des Parteibuches und eines warmen Plätzchens bei der GPU.

Allerdings wird man in die Partei, besonders aber in die GPU nicht mit offenen Armen aufgenommen – dorthin gelangt die Auslese der Auserwählten. Die Mehrheit des Aktivs bleibt auf den mittleren Stufen stehen: sie werden Kolchos- und Dorfsowjetvorsitzende, Mitglieder der Komitees, der Berufsverbände bei den Werken. Oder sie arbeiten bei der Sicherheitsmiliz, den Reichsgetreidestellen, Genossenschaften und in den unteren Schichten der GPU, als kleine Spitzel in den Hauskomitees, in Wohnungsgenossenschaften und dergleichen. Im Rahmen der rühmlichen Fluidität der Kader wird unser Aktivist wie ein Fußball im ganzen Lande umhergeworfen: Man schickt ihn auf allerhand Sturm- und Obersturmkampagnen, Getreideaufbereitungen, Fleischversorgungen, Baumwollaufbereitungen, Arbeitsbrigaden, Kommissionen, Revisionen … Heute plündert er ein ukrainisches Kolchos aus, morgen fischt er die Kulaken im Ural, in drei Tagen leitet er den Überfall irgendeiner »leichten Kavallerie« auf eine Glashütte, revidiert die Fischereiindustrie am Kaspischen Meer, untersucht »antistaatliche Tendenzen« in einem Sowchos oder einer Schule, immer und überall, in jeder Lage seines stürmischen Lebens nach dem versteckten Klassenfeind schnüffelnd …

Befehle, »Direktiven«, Anordnungen, »Aufgaben« und Instruktionen flimmern in seinem Kopfe wie die Assoziationen eines Verrückten. Sie stürzen auf den Aktivisten von allen Seiten, von allen »Linien« zu: Partei-, Administrations-, Sowjet-, Berufsverbands- und Wirtschaftslinien. Sie schaffen die Atmosphäre eines totalen Verdrehtseins, das endgültig den Zutritt irgendwelcher Gedanken und Gefühle in den sowieso nicht allzu schlauen Kopf des hartgesottenen Schurken versperrt …

Es versteht sich, daß die halbwegs vernünftigen Menschen den aktivistischen Pfad nicht beschreiten: dieses Unterfangen ist, wie später ausgeführt wird, nicht sehr vorteilhaft und ziemlich riskant. Auch ist es verständlich, daß der Aktiv in der Atmosphäre der Plünderung, der Fluidität und des Verdrehtseins keinerlei Wissen und Können sich anzueignen vermag. Um einen Bauern zu »entkulakisieren«, selbst bis auf das letzte Hemd, braucht man eigentlich kein Wissen und Können. Vielmehr sind stählerne Ellbogen und ein Wolfsrachen erforderlich – Eigenschaften, die bis zum äußersten trainiert werden. Etwas zu lernen, sich ausbilden zu lassen, hat dieser Aktiv keine Zeit. Hier und da gibt es sogenannte »Sowjet-Parteischulen«, doch lehrt man dort außer dem politischen Abc und dem dialektischen Materialismus rein gar nichts; es wird einfach angenommen, daß der »Klasseninstinkt« dem Aktivisten jede Arbeit des Denkapparates ersetzt. Ausgelesen nach den Merkmalen der moralischen und intellektuellen Stupidität, eine langjährige Schule von Plündereien, Unterdrückung und die völlige Ergebenheit gegenüber der Macht und durch Morden hinter sich lassend, zusammengeschweißt durch grenzenlosen Haß der Bevölkerung, bildet der Aktiv eine äußerst mächtige Schicht der Sowjetunion. Seine Eigenschaften – angeborene und »wohlerworbene« – erklären die zahllosen Möglichkeiten der zerstörenden Maßnahmen und die verhängnisvolle Kraftlosigkeit der schöpferischen Arbeit in der Sowjetunion. Dort, wo der Kulake ruiniert wird, wo man mordet und plündert – wirkt der Aktiv mit einem verwüstenden Ungestüm. Dort aber, wo man etwas aufbauen muß, schafft der Aktiv in der kürzesten Zeit ein vollkommenes heilloses Chaos.

Auf jeden Wink seitens der Macht antwortet der Aktiv mit den Eruptionen von »Enthusiasmus« und »stürmischem administrativem Entzücken«. Jede an die Reihe kommende Parole schafft eine eigenartige sowjetistische Modezeit, in der jeder Aktivist sich herauskehrt, um über seinen Nachbarn hinwegzuspucken und nach oben durchzukriechen. Arbeit »ohne Pause«, »Vorfrühsaat«, Lebensart des Kommunismus, sozialistischer Wettbewerb, Kampf gegen die Religion und für Kaninchenzucht – all das wird von der Flamme des Enthusiasmus umschlungen, bis in dieser Flamme sämtliche Keime des gesunden Verstandes untergehen, sofern solche im Kopfe des Gesetzgebers überhaupt vorhanden waren.

*

Als man zu den Zwei- und Vierfüßlern in den Triumphwagen des Sozialismus als eine Art von Leitpferd noch das Kaninchen mit einspannte, war es im Prinzip eine Dummheit Der Verfasser meint hiermit den Versuch der Sowjetregierung nach der großen Hungersnot der Jahre 1931/32, die in Rußland früher unbekannte Kaninchenzucht einzuführen.. Das Kaninchen war für unser Klima ein zu verwöhntes Tier, auch war seine Fütterung ein unlösbares Problem. Einfacher wäre es, zu den der Bevölkerung mehr bekannten und sich an alle Wirrnisse des Sowjetlebens gewöhnten Hühnern und Schweinen zurückzukehren. Und trotzdem könnte man auch von den Kaninchen etwas erreichen … wenn der Enthusiasmus nicht da wäre.

Zehntausende von »Enthusiasten« verbissen sich in das kurze Kaninchenschwänzchen, hoffend, daß dieses Schwänzchen sie irgendwie aus der Patsche ziehen wird. Man ließ im Ausland Millionen von Kaninchen einkaufen, und zwar für das Geld, das man auf Kosten des Aussterbens von Hühnern und Schweinen aus Futtermangel bekommen hat. In Moskau, wo es nichts mehr für die Menschen gab, geschweige denn für Kaninchen, wurde die Kaninchenzucht aufgedrängt: den Krankenhäusern und Stenotypistinnen, den Trusten und den Hausfrauen, den Buchhaltern und sogar horribile dictu den Kirchengemeinden. Sich weigern durfte man selbstverständlich nicht: »Zweifelsucht«, »Untergrabung«, »Sabotage der sowjetistischen Maßnahmen« nannte man das. Die Kaninchen wurden in alle möglichen Ecken der ohnehin vollgepfropften Moskauer Wohnungen verstaut und krepierten samt und sonders. Das gleiche geschah auch in der Provinz. Eines Tages, als der Kaninchenenthusiasmus bereits am Erlöschen war, hatte ich in einem bedeutenden, nicht weit von Moskau gelegenen Kaninchenzuchtsowchos, dazu noch einem Mustersowchos, mit allen Futtermitteln ausgestattet, eine »Untersuchung« anzustellen. Es stand nicht gut um diesen Sowchos, ungeachtet aller seiner Privilegien: die Kaninchen verweilten in der Aszese und wollten sich nicht vermehren. Später hat sich herausgestellt: unter siebentausend importierten belgischen Kaninchen befanden sich bloß zwanzig Weibchen. Auf welche Weise dieses Kaninchenkloster organisiert wurde – ob das »Schädlingstum« seine Finger im Spiel hatte, oder aus Dämlichkeit, oder ob den Auslandseinkauf von Kaninchen eben solche Enthusiasten tätigten, das alles blieb unter dem Schleier der sozialistischen Verschwiegenheit verborgen.

Jetzt spricht man nicht mehr von den Kaninchen … Von diesem ganzen Epos blieben ein paar Witze; aber auch die darf man nicht wiedergeben.

 

Die Steine des Anstoßes

Die Wege des administrativen Enthusiasmus sind, o weh, nicht nur mit den revolutionären Rosen besät. Erstens ist der Volksgenosse, vornehmlich der Bauer, immer und bei der erstbesten Gelegenheit bereit, jedem Aktivisten den Schädel einzuschlagen. Zweitens über jedem Aktivist sitzt ein im Range etwas höherer Aktivist, und gerade von dem letzteren kann man sehr oft erhebliche Unannehmlichkeiten erwarten.

Der Klarheit halber folgendes konkrete Beispiel:

In der Zeitung »Prawda« erschien Anfang 1934 die Notiz: Eine Grammophonfabrik hat Schallplatten mit dem Gretchenlied: »Es war ein König in Thule«, herausgebracht. Die Fabrikleitung, wahrscheinlich nach einer reiflichen Überlegung, kam zu dem Entschluß, daß »der König« im proletarischen Lande – eine unpassende Figur sei. »Der König« wurde durch »der Alte« ersetzt. Für solche »Überbiegung« hat der Volkskommissar für Bildungswesen Bubnoff die Fabrikleitung rausgeschmissen.

Der Leser kann sich das Vergnügen leisten und die ungeratene Fabrikleitung auslachen: Blinder Eifer schadet nur. Ich versichere dem Leser, daß, wenn er in der Haut dieser Fabrikleitung steckte, ihm die Lust zum Lachen vergangen wäre: für den »Alten« hat Bubnoff den Direktor rausgeschmissen, für den »König« aber hätte man vielleicht vor Jagoda Rede und Antwort stehen müssen. Denn man hat doch die Sänger für »… und der Kaiser, der Kaiser gefangen« festgesetzt.

Weil verlangt wurde, zu singen: »… und der Heerführer gefangen …«

Auf jeden Fall ist es besser zu riskieren, aus zwanzig Diensten gejagt zu werden, als ein einziges Mal eine Vorladung von der GPU zu bekommen. Somit war die Leitung nicht so dumm, wie es vielleicht aus der Ferne erschien …

An dieser kurzen, aber lehrreichen Geschichte waren beteiligt: der Werksdirektor, der wahrscheinlich kein Dummkopf ist, eine Schallplatte, welche für die »Generallinie« nicht besonders aktuell war, und Bubnoff, der nicht als Lustspielschutzmann »Haltdieschnauze Eine Figur aus dem »Revisor« von Gogol.« anzusehen ist. Ort der Handlung ist Moskau.

Wenn aber der Ort der Handlung nicht Moskau, sondern Dingsda ist, und wenn nicht die Schallplatte, sondern »antikommunistische Abweichung von der Generallinie« ist, und wenn nicht Bubnoff, sondern ein einfacher »Haltdieschnauze« dasteht … wie ist es dann?

Tust du zuviel – kriegst du eins drauf, tust du zuwenig – kriegst du auch eins drauf. Man muß ins Schwarze treffen. Und wie dieses Schwarze aussieht, weiß ungefähr niemand.

Niemand weiß es, weil der Aktiv selbst ungebildet und einfältig ist und weil die von ihm empfangenen »Direktiven« ebenso ungebildet und einfältig sind. Die Dekrete und ähnliches, die von Moskau auf der »offiziellen Linie« ausgehen, haben praktisch gar keine Bedeutung, wie es zum Beispiel auch die projektierten Geheimwahlen nicht haben. Denn wer wird sich erkühnen, seine eigene Kandidatur aufzustellen, wenn die Kandidaten nicht geheim, sondern offen aufgestellt werden müssen … Bedeutung haben nur die der Veröffentlichung nicht unterliegenden Direktiven, die auf der »Parteilinie« ergehen. Beispielsweise wird aus Anlaß ebengenannter Geheimwahlen der Aktiv unzweifelhaft eine Direktive darüber erhalten, wie er gewisse und nicht genehme Kandidaten oder gewisse und »parteifeindliche Vorschläge« geheim liquidieren müsse. In der Frage der Parteifeindlichkeit oder der Parteifreundlichkeit wird der gleiche Aktiv als Schiedsrichter auftreten, und hier wird er sich großes Kopfzerbrechen machen müssen: warum waren ohne weiteres »der König« vom Standpunkte der Partei annehmbar, und warum hat man für den »Alten« eins draufgegeben?

Die Parteidirektive ergeht von dem Moskauer »Haltdieschnauze« und wird, nach unten gehend, seitens der »Haltdieschnauzen« bearbeitet, die in den Bezirken, Kreisen und so weiter sitzen und die die »Bearbeitung« den örtlichen Bedingungen anpassen. So daß eine und dieselbe Direktive, der Moskauer Quelle entsprungen, auf dem Wege ins Dorf oder ins Werk zu einer vielköpfigen Hydra anwächst. Die Hydra wächst auf der »sowjetistischen Linie« durch »Exekutivkomitees«, auf der »Fabriklinie« – durch Truste, auf »der Parteilinie« – durch die Parteikomitees, auf »der Partei-Spitzellinie« – durch die nächste Abteilung der GPU und so weiter und so weiter. Alle diese Hydras verbeißen sich gleichzeitig und von allen Seiten in verschiedene passende und unpassende Körperteile der Aktivisten.

Selbstverständlich bereden die zwischeninstanzlichen »Haltdieschnauzen« diese Direktiven miteinander nicht. Wenn die an der Reihe stehende neueste Direktive mit einem Krach endet, dann entsteht eine zwischeninstanzliche Balgerei. Die großen »Haltdieschnauzen« wälzen alle Sünden auf die kleineren »Haltdieschnauzen«, und so fährt unser Aktiv hinter den Ural oder auf die »Arbeit der unteren Kreise« oder sogar ins Zwangsarbeitslager.

Eine ähnliche Geschichte wurde es, und zwar in reinster Form, mit der Sache: »Mir dreht sich der Kopf von Erfolgen«. Diese Geschichte kenne ich zufällig sehr genau. – Auf Grund einer direkten Direktive von Stalin ließ man im russischen Süden keinen Stein auf dem anderen – es wurde verlangt, das Kulakentum in jenen Gebieten auszumerzen, in denen es die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung ausmachte. Andrejeff, der heutige Sekretär des Zentralkomitees, damals Sekretär des Nordkaukasischen Bezirkskomitees der Kommunistischen Partei, erhielt eine besondere und persönliche Direktive von Stalin. Die Direktive »in Anpassung an die örtlichen Bedingungen« wurde an die Kreiskomitees der Partei in schriftlicher Form weitergegeben; aber mit dem Befehl, das Schriftstück sich »zu eigen zu machen« und nach dem Durchlesen zu verbrennen. Diese »Anpassung« der Direktive habe ich persönlich bei einem damaligen Sekretär eingesehen, der klug genug war, sie nicht verbrannt zu haben.

Auf die Don- und Kubanbauern stürzte sich der Aktiv mit allem ihm eigenen Raufboldenthusiasmus. Was damals im Don- und Kubangebiet vor sich ging, ist besser nicht zu erwähnen! Aber als es zu den Unruhen und Aufständen in der Armee kam, und als man, ob man wollte oder nicht, »das Ganze halt« blasen mußte, da hat Stalin seinen denkwürdigen Ausspruch: »Mir dreht sich der Kopf vor Erfolgen«, getan. – Er mußte den Aktiv abzäunen, um selbst mit heiler Haut davonzukommen.

Machiavelli half aus der Patsche. Die Bauern rissen den Aktivisten die Gedärme aus dem Leibe. Die GPU erschoß und verschickte besonders verhaßte Volksgenossen, entsprechende Propaganda setzte ein, und ich habe selbst im Waggon eine verschrumpelte Alte gehört, die da sprach:

»Ja, dem Stalin, dem soll Gott Gesundheit geben … Hat uns aus der Schlinge gezogen …«

*

Jener Mann, der klug genug war, die bewußte Direktive nicht zu verbrennen, war ein schon mit allen Hunden gehetzter sowjetistischer »Haltdieschnauze«. Er hat sie nicht nur nicht verbrannt, sondern sie in dritte Hand weitergegeben. Am Schlafittchen von der GPU erwischt und der Verbreitung von Gerüchten über Stalins Ausspruch beschuldigt, drohte er, wenn ihm etwas Besonderes zustoßen sollte, werde die bewußte Direktive, die ja von Andrejeff selbst unterzeichnet war, eine Wanderung durch die Spitzen von Partei und Militär antreten … Der Mann wurde mit der GPU handelseinig – er wurde »nur« nach Mittelasien verschickt. Die bewußte Direktive blieb aber nach wie vor an einem besonders sicheren Ort … Doch trifft man solche vorsorgliche Aktivisten nicht oft.

Und so lebt dieser Aktivist zwischen dem Regen der Arbeiter- und Bauernwut und der Traufe der Arbeiter- und Bauernregierung …

Die Sowjetregierung macht mit dem Aktiv nicht viel Umstände – braucht die Stalinsche Macht sich überhaupt mit jemand zu genieren? Es sei denn mit Lenin, dann aber nur deshalb, weil er schon tot ist … Mit dem Aktiv geniert sie sich hauptsächlich nicht, von der realistischen Erwägung ausgehend, daß dieser Aktiv sonst nirgends hin kann: sobald er die Fittiche der Macht verläßt und den traditionellen Naganrevolver nicht mehr hat, wird das Abschlachten nicht mehr lange auf sich warten lassen.

 

Teufelsscherben

Losgelöst von jeder sozialen Grundlage, seine Mutter der GPU und die Seele dem Teufel verschrieben, macht der Aktiv die »Karriere«. Doch hat der Teufel, wie es bereits Gogol bekannt war, eine rein bolschewistische Angewohnheit, seine Schulden mit Scherben zu bezahlen. Mit solchen Scherben wird auch der Aktiv bezahlt.

Menschen, die sich diesen Aktiv als »feine Welt« und Sieger in dem Lebenskampf vorstellen, begehen einen schweren Irrtum. – Weder »feine Welt« noch Sieger. Das sind abgeschundene, ausgequetschte und total verdreht gemachte Menschen – nicht nur Henker, sondern auch Opfer. Jene dünne Zwischenschicht des Aktivs, welche auf all diese Denunziationen und »Entkulakisierungen« um ihres Glaubens willen hinausging – mag sein eines nebelhaften, doch immerhin eines Glaubens, Glaubens wenigstens an die Führung – besteht, von allem übrigen abgesehen, aus tief und hoffnungslos unglücklichen Menschen. Breite Blutströme schneiden den Weg zurück ab, und vorne … vorne nichts als Teufelsscherben.

Die Sowjetmacht zahlt im allgemeinen nicht gern. Ein individuell wertvoller und in vielen Fällen praktisch schwerersetzbarer Spezialist kann sich immerhin noch ernähren, hungert nicht und braucht deshalb nicht zu stehlen. Der Aktivist muß stehlen, um nicht zu verhungern.

Und er klaut, freilich nach den sowjetistischen Bettlermaßstäben – etwa ein Pfund Fleisch und eine Flasche Wodka. Ungefähr nach folgendem Schema:

Wanjka hat die Stellung eines Kolchos-Vorsitzenden, Stjopka ist bei der Miliz, Pjetka beim »Staatssprit«. Wanjka »entkulakisiert« bei einem Bauern ein Schwein und übergibt es der Miliz. Das sieht ganz legal aus – er hat es doch nicht für sich genommen. Der Milizmann Stjopka wird dieses Schwein schlachten – einen Teil für irgendwelche Fleischversorgungen abliefern, damit man sich später nötigenfalls rausreden kann, den anderen Teil als Lohn für die erwiesene Gefälligkeit Wanjka überlassen und den letzten Teil in der Erwartung weiterer Gefälligkeiten Pjetka geben. Pjetka wird seinerseits die ganze Gesellschaft mit Wodka versorgen. Über diesen Wodka aber wird in einer Akte folgendes stehen, »daß selbiger auf der Fuhre des Marx-Lenin-Stalin-Kolchos vom Lager zum Verkaufsladen gefahren wurde, wobei wegen der schlechten Qualität der Wagenachsen, angefertigt vom »Sowdorfmasch« (Sowjetdorfmaschinenbau), der Wagen umkippte, und der Wodka … Selig sei sein Name … Die Akte trägt die Unterschriften: der Kolchos-Vorsitzende Wanjka, der Milizmann Stjopka, der Verwalter der »Staatsspritabteilung« Pjetka. Da soll einer hinterher daraus klug werden.

Niemand wird es auch versuchen. Die Einheimischen werden stumm sein wie die Fische. Denn wenn jemand Pjetka bei der GPU denunzieren würde, dann könnte es sein, daß bei dieser GPU Pjetka einen Freund hat oder – wie man in diesen Fällen in der Sowjetunion sagt – einen »Strohhalm Unter dieser Bezeichnung versteht man in der Sowjetunion eine kleine Bande, die sich zu einem geheimen Ring zusammengeschlossen hat.. Kann sein, daß Pjetka im Zwangsarbeitslager landet, dann aber werden die verbliebenen »Strohhalme« und auch Pjetkas Nachfolger sich bemühen, mit dem bewußten Urheber der Enthüllung so zu verfahren, daß ihm endgültig die Lust und Liebe vergeht, das nächste aktivistische Liebesmahl zu stören.

Solche Diebereien, sofern sie nur zum Versaufen der aktivistischen Seele dienen, haben keine große volkswirtschaftliche Bedeutung, sogar nicht nach den Maßstäben der sowjetistischen Armut. Es kommt aber auch erheblich Schlimmeres vor, nämlich wenn man zur Verschleierung oder Ermöglichung von Diebereien Werte vernichtet, die bei weitem die Appetite des Aktivs übersteigen. Zur Zeit, als ich im Konsum beschäftigt war, mußte ich einmal ein Lager kontrollieren, in welchem über drei Tonnen Räucherwaren untergebracht waren, und die man, um die Spuren zu verwischen, verfaulen ließ. In der Tat waren die Spuren gut verwischt: näher als auf einen halben Kilometer konnte man an das Lager nicht herankommen. Und alles wurde durch Akten belegt, unterzeichnet von den entsprechenden Wanjkas, Pjetkas und Stjopkas.

Die »Revisionskommission« fällte ein salomonisches Urteil: »Bauern zusammentrommeln, Gruben ausheben und darin das verfaulte Fleisch vergraben!«

Zur Vervollständigung des Bildes darf nicht unerwähnt bleiben, daß die verfaulte Wurst von Schweinen stammte, die bei den gleichen Bauern »entkulakisiert« wurden. Im Laufe des Monats nach diesem wohlriechenden Abenteuer wurde die Hälfte des örtlichen Aktivs von den Bauern einzeln umgebracht. Die übrigen retteten sich durch Flucht …

 

Aktiv und Intelligenz

Also, wie man's macht – das Ergebnis sind Teufelsscherben.

Besonders jammervoll ist es mit diesen Scherben bei dem Aktiv und der Intelligenz.

Das gegenwärtige politische Regime Rußlands ist ein Absolutismus, der »aufgeklärt« sein will. Die Wirtschaftsordnung ist die Leibeigenschaft, die als Kultur bezeichnet werden will … Daher lieben es die Sowjet»herrschaften« sehr, mit Kultur und weißen Handschuhen zu protzen. Bei dem Vergleich mit der Zeit der Leibeigenschaft ist es ganz angebracht, sich zu entsinnen, daß der gleiche »Mirabeau«, der den betrunkenen Kammerdiener für das zerknitterte Jabot verhauen hatte, gut mit Voltaire stand und seine Tage mit dem Leibeigenenballett verschönte, auch war er Gönner der Wissenschaft und Künste. Nach einer guten Parforcejagd über die Bauernfelder oder nach einer bewußten »Operation« im Pferdestall erholte er Leib und Seele durch den Anblick von irgendwelchen schwarzen Tulpen. Aus dem gleichen Grunde lud er gnädig in sein hochherrschaftliches Kabinett einen gelernten, doch leibeigenen Gärtner und führte mit ihm erbauliche Gespräche über die Blumenzucht und über den neuen Plan für einen Herrenpark, der so umgestaltet werden sollte, daß die Nachbarn vor Neid platzten.

Wie man sieht – ein kniffliges Thema. Ein Gutsverwalter aus der Leibeigenenzeit kann solch feine Gespräche nicht führen. Er hat eine gröbere Funktion: der Plebs den Buckel zu verdreschen. Den Gärtner zu verprügeln, lohnt sich nicht – seine Ausbildung hat doch Geld gekostet. Den Gutsverwalter aber kann man durch einen beliebigen Tolpatsch mit genügend »administrativen« Fäusten und Stiernacken ersetzen. So ungefähr entsteht das Dreieck – Partei, Aktiv, Intelligenz –, das sich in den letzten Jahren herangebildet hat. Denn besonders in liefen letzten Jahren stellte sich heraus, daß die Sowjetmacht hinsichtlich der Intelligenz den Plan gleichzeitig »übererfüllt«, aber auch »untererfüllt« hat.

Die Vernichtung der »Burschuis-Intelligenz« wurde in solchen Maßstäben vorgenommen, daß, als der »Plan« unter Mitwirkung der aktivistischen »Helden« erfüllt war, sich herausstellte, daß fast niemand übrigblieb – und die neue, sowjetistische, proletarische und wie sonst immer genannte Intelligenz erwies sich erstens noch mehr konterrevolutionär, als es die alte war, und zweitens sogar weniger gebildet, technisch und orthographisch, als die alten Halbanalphabeten. Es entstand eine Lücke oder, nach der sowjetistischen Terminologie – ein »Durchbruch«. Ein scharfer »Kadermangel« an Ärzten, Technikern, Lehrern und dergleichen mehr entstand. Der Intellektuelle stieg »im Preis«. Und der »nicht ganz abgeschlachtete« alte Intellektuelle – noch mehr. Das war keine »politische Wendung« und keine »Evolution der Macht«, sondern einfach das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Bei dem veränderten Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wird es für die Aktivisten neue Arbeit geben.

Jetzt stelle man sich die Psychologie des Aktivs vor. Er hält sich für den Mittelpunkt der Ereignisse und für die Hoffnung der Weltrevolution. Er hat sein Blut vergossen. Nicht nur einmal oder zweimal wurde ihm der Schädel eingeschlagen und der Bauch aufgeschlitzt. Er ist zweifellos ein treuer Hund des sowjetistischen Absolutismus (Abdul-Hamidismus). Irgendwelcher »Abweichungen« ist er nicht schuldig und kann es auch nicht sein. Für die »Abweichung« braucht man immerhin etwas Gehirn, immerhin einiges Gewissen. Weder das eine noch das andere ist bei dem Aktiv sonderlich ausgeprägt. Man kann sich auch schwer einen provinziellen »Haltdieschnauze« vorstellen, der sinnlose Träumereien hätte und dem die Leiden und Nöte des eigenen Landes wehe tun könnten. Demgemäß ist der »Aktiv« der Auffassung, daß, wenn überhaupt jemand, dann er das Recht auf das Wohlwollen der Vorgesetzten und das Lebensbrot hat, welch letzteres, o weh, an seinem aufgesperrten Rachen vorbeischwimmt und stets in die Hände der Intelligenz gerät: in wissentlich ironisierende und »unzuverlässige« Hände.

Also gehen die größten Bissen des Lebensbrotes zu der Intelligenz. Ein Kettenhund wird niemals satt gefüttert: man sagt, daß er sonst die Schärfe verliert. Den Aktiv füttert man auch nicht besonders – vor allem, weil es zum Sattessen nicht ausreicht, und das, was da ist, fällt hauptsächlich an die »Menschen von Wert« ab, das heißt an die Parteispitzen und an die Intelligenz.

Das alles ist sehr kränkend und doppelsinnig. Angenommen: der Aktiv ist verpflichtet, zu bespitzeln, in erster Linie die Intelligenz, besonders aber die sowjetistische und proletarische Intelligenz, die ja zahlreicher und wirksamer ist … Mag ein Mensch noch so vorsichtig geschult sein, er erwirbt dadurch doch die schlechte Angewohnheit, zu denken. Und nichts in der Welt fürchtet die Sowjetmacht so, als wenn die Massen die Waffen in der Hand und Gedanken im Kopf haben. Die Waffen kann man abnehmen. Wie aber, selbst bei strengster Leibesvisitation wird man die aufgespeicherten Gedanken entdecken können?

Die Bespitzelung der Gedanken ist eine delikate Sache, wofür der Aktiv viel zu dämlich ist. Zur Bespitzelung ist er aber verpflichtet. Es könnte zum Beispiel jemand ohne den dazu bestellten Pjetka irgendeine trotzkistisch-bucharinsche, Links-Rechts-»Abweichung« entdecken – und siehe da, man packt Pjetka an der Gurgel: warum hast du nicht aufgepaßt? Warum hast du keinen Fingerzeig gegeben? Warum nicht eingehakt? Und nun fährt unser Pjetka nach Sibirien oder ins BBK.

Andererseits aber ist es mit den Fingerzeigen auch so eine Sache! Der Intellektuelle, der kann alles, der hat sogar den Telegrafen erfunden, und dem Pjetka selbst eine »Abweichung« aufzuhalsen, ist für ihn ein Mumpitz. Er wird ein Buch nehmen, den Pjetka mit der Nase draufstoßen und sagen:

»Siehst du das? Wer hat's geschrieben? Sinowjew, Kamenew-Radek haben's geschrieben. Von der Partei erlaubt? Erlaubt. Schau weiter: Ist ein Sichtvermerk des Staatsverlages da oder nicht? Ist da. Hat die kommunistische Akademie das Buch redigiert oder nicht? Sie hat's redigiert. Also, dann scher dich zu allen Teufeln!«

Und dem Aktivisten wird nichts übrigbleiben, als sich zu allen Teufeln zu scheren. Aber auch danach wird sich der Aktivist ziemlich ungemütlich fühlen; denn woher soll sein armer Holzkopf wissen, ob das ihm vorgehaltene Buch oder irgendein Zitat vor der »Enthüllung« oder nach der »Bereuung« geschrieben wurde. Oder vielleicht ist dieses Buch oder Zitat gerade in der kurzen Zeit zwischen der Enthüllung und der Reue dem dämlichen Blick der kommunistischen Akademie entgangen? Und wird danach Bucharin für das bewußte Zitat nicht wieder sich selbst entlarven, geißeln und bereuen müssen? Und ob dabei auch dem bewußten Aktivisten postnumerando und auf die gleiche Stelle eins draufgegeben wird?

Hast du etwas übersehen, und schon sagt man:

»Abstumpfung der Klassenwachsamkeit«,

»Gehen an der Leine des Klassenfeindes«,

»Verfaulter Opportunismus«,

»Zusammenschluß mit den der Partei feindlichen Elementen«.

Hast du dich zuviel bemüht, so heißt es:

»Mir dreht sich der Kopf«, »Abweichung«, »Spezialistenfresserei«, »Arbeitszerfall« und sogar »Intelligenzhetze« … Und wie kann man hier unterscheiden, die »Generallinie« von der »Abweichung«, die »Unterschätzung« von der »Überschätzung«, »proletarische Gesinnung« von dem »nackten Bürokratismus« und die »Murkserei« von der reinen »Kaschemme«?

Von dieser ganzen Terminologie drehen sich und auch fallen Köpfe, die mitunter nicht nur mit dem »Enthusiasmus« gefüllt sind.

 

Einsatz auf Lumpenpack

Die Sowjetmacht wird je nach Temperament und politischer Anschauung, wie bekannt, von verschiedensten Gesichtspunkten beurteilt. Es scheint aber, daß bei all diesen Standpunkten ein gemeinsamer, kaum bestrittener Multiplikator ausgeklammert werden kann: das Sowjetsystem als Machtsystem, koste es, was es wolle, hat der Welt ein unerreichbares Muster der »Machttechnik« gezeigt.

Wie wir das Sowjetsystem auch beurteilen mögen, unbestritten scheint das eine zu sein: keine Macht in der Geschichte der Menschheit hat sich solch grandiose Ziele gesteckt, und keine Macht auf der Welt hat auf dem Wege zu ihren Zielen eine derart ungeheure Menge von Leichen aufgetürmt – und blieb dabei unerschüttert. Das Dreieck: Ziele, Leichen und Unerschüttertsein, schafft eine ganze Reihe von optischen Illusionen … Hinter der nackten Technik des Herrschens schimmert den Menschen vor: »Enthusiasmus«, »Mystik«, »Heroismus«, »slawische Seele« und viele Dinge im Stile der Offenbarungen Johannis. Oder auf jeden Fall etwas Gleichverständliches …

Im Jahre 1918 hatte ich in Kiew Gelegenheit, ein »offenes Wort« mit Manuilski – dem heutigen Generalsekretär der Komintern, damals Vertreter des roten Moskau – in dem undefinierbar gefärbten Kiew zu sprechen. Ich versuchte, Manuilski zu beweisen, daß der Bolschewismus dem Untergang geweiht ist, weil die Sympathie der Massen nicht auf seiner Seite sei.

Ich entsinne mich wie heute, mit welcher aufrichtigen Geringschätzung Manuilski mich anblickte … als ob er sagen wollte: Da haben wir es, sogar der Weltkrieg hat die Narren nicht alle werden lassen …

»Hören Sie, mein Lieber«, lächelte er verächtlich, »wozu brauchen wir, zum Teufel, die Sympathie der Massen? Wir brauchen einen Machtapparat. Und wir bekommen ihn. Und die Sympathie der Massen? Schließlich und endlich spucken wir auf die Sympathie der Massen.«

Viele, viele Jahre später, nachdem ich die grausame, alle Illusionen raubende Schule der Sowjetmacht miterlebte, habe ich mit allen meinen Fasern diesen bereits verwirklichten Machtapparat zu spüren bekommen: in Städten und Dörfern, in Werken und Fabriken, in WCSPS (Zentrale der Gewerkschaften der Sowjetunion), im Lager und im Gefängnis. Erst danach wurde mir die Antwort auf meine alte Frage klar: woher man die Menschen zur Schaffung des Machtapparates genommen hat, obwohl die Sympathie der Massen nicht besteht?

Die Antwort bestand darin, daß man den Apparat aus dem Lumpenpack zusammenhauen konnte, und, zusammengehauen aus diesem Lumpenpack, wurde er unüberwindlich; denn für Lumpenpack gibt es keine Zweifel, keine Gedanken, kein Erbarmen und kein Mitleid. Ganz hartgesottene Gesellen!

Sicherlich sind diese hartgesottenen Aktivisten keineswegs eine spezifisch-russische Erscheinung. – In Afrika üben sie sich im Schießen auf lebendige schwarzhäutige Zielscheiben, in Amerika lynchen sie die Neger oder gehen unter die Gangster. Sie sind ein Welttyp. Der Typ eines Menschen mit dem Gehirn des Hammels, dem Gebiß eines Wolfes und dem Moralgefühl der Protoplasmen. Das ist der Menschentyp, der die Lösung seiner abscheulichen Probleme in dem aufgeschlitzten Bauch seines Nächsten sucht. Da aber keinerlei Lösungen in diesen Bäuchen sich offenbaren, so bleiben die Probleme ungelöst, und die Bäuche schlitzt man weiter auf. Das ist der Menschentyp, der als sechzehnter an einer kollektiven Vergewaltigung Tatsächlich vorkommende Art der Vergewaltigung, an der sich mehrere hintereinander beteiligen. teilnimmt.

Die Realistik des Bolschewismus kam im einzelnen dadurch zum Ausdruck, daß der Einsatz auf Lumpenpack kurz entschlossen und skrupellos erfolgte.

Er hat seinen »Aktiv« im ganzen Land zusammengetrommelt, trennte ihn von der übrigen Bevölkerung durch eine chemische Probe auf Denunziation und Blut und durch eine Mauer von Haß, bewaffnete ihn mit Maschinengewehren und Tanks … Und – Sympathie der Massen? – Wir spucken auf die Sympathie der Massen.

 

Lagerbetriebe des Aktivs

Als ich mich einigermaßen umgesehen und mit dem Menschenmaterial der RVA vertraut wurde, war mir nicht ganz geheuer zumute … Wohl gelang es dem Aktiv niemals, sich in der Freiheit ernstlich in meine Waden zu verbeißen … aber wie wird es hier im Lager? … Hier im Lager sitzt der mißratenste, der ganz verärgerte, von Gott und Stalin verlassene Aktiv – all jene, die spähten und nicht ganz erspähten, eiferten und übereiferten, stahlen und erwischt wurden … Jene, die an Stelle des schon liebgewonnenen Parteibuches – Zuchthausjahre bekamen, statt eines Automobils – einen Holzklotz und statt der Macht – den Zwang, einen Löffel Gerstenbrei mehr erschieben zu müssen. Und das Lebensbrot? Das Lebensbrot ging an dem Mund vorbei …

»Wofür haben wir gekämpft, Brüderchen Ein Ausruf aus dem Anfang der russischen Revolution, um die Massen aufzuwiegeln.

Ich sitze auf dem Holzklotz, rings herum auf dem Fußboden liegen die Stöße von »Personalakten«, die ich zu ordnen versuche oder nach der Terminologie des alten Männleins zu bestimmen »was und wohin«. Ein hoher, sehniger Mann mit knochigem, verlebtem Gesicht, im Helm, doch ohne Stern, im Mantel ohne Litzen – also ein Häftling, aber von den »Prominenten«, geht an mir vorbei und betrachtet mich, meinen Klotz und meine Akten. Betrachtet mich aufmerksam und irgendwie verächtlich, ärgerlich. Er geht durch in den nächsten Verschlag, und ich höre von dort seine Stimme:

»Diese Hundesöhne in Pogra haben uns wieder einen Professor hierhergeschickt?!«

»Nee, soll ein Jurist sein«, antwortet eine unterwürfige Stimme.

»Na, egal … Wir werden ihm hier die Universität schon zeigen. In den Hintern werden wir ihm seine Brille eintreiben … Twerdun, rufe Freudenberg an!«

»Gehorsamst, Genosse Starodubzeff …«

Freudenberg – das ist einer der ukrainischen Professoren, Mathematikprofessor. Und als solcher kam er auf den Posten eines »Statistikers« – ein Posten, der mit der Statistik nicht das geringste zu tun hatte. Statistiker, das ist der einfache Antreiber der RVA, der »im Maßstabe einer Kolonne«, das heißt für zwei, drei Baracken die Ausbeutung der Arbeitskraft zu berechnen und alle, die noch nicht gestorben sind, auf die Arbeitsstellen zu treiben hat. Ein für den Professor Freudenberg durchaus ungeeigneter Posten …

»Genosse Starodubzeff, Freudenberg ist am Telefon.«

»Freudenberg? Hier Starodubzeff … wie oft habe ich Ihnen, Sie Hundesohn, gesagt, daß Sie mir hierher keine von diesen bebrillten Idioten schicken … Was? Wessen Befehl? Ich spucke auf den Befehl! Ich befehle Ihnen. Als Leiter der Frontabteilung … Sonst werfe ich Sie mit Ihrer ganzen bebrillten Sch… auf das neunzehnte Geviert hinaus. Hier ist keine Universität. Reden Sie nicht viel. Was? Halten Sie den Rand, hol Sie der Teufel … Sie werden noch selbst in den Strafisolator wandern. Bei Ihnen sind gestern sieben Mann wieder nicht zur Arbeit erschienen. Ich spucke auf ihre Krankheiten … Nach dem Befehl müssen alle zur Stelle sein … Was? Erst lernen Sie ordentlich schimpfen, dann werden Sie sprechen können. Was? Sie haben keine WOCHR? Innenwache. Wenn morgen ein einziger fehlt! …«

Ich höre diese abgerissenen, mit allen möglichen, doch nicht druckfähigen Ausdrücken gespickten Sätze, und die »Personalakten« wollen mir nicht in den Kopf hinein … Wer ist dieser Starodubzeff? Wie weit gehen seine Rechte und Funktionen? Was bedeutet diese vielversprechende Aufnahme? Ich habe hier keine bekannte Seele. Professoren? Ich habe soeben gehört, wie man mit einem gesprochen hat. Zwei sind bei der RVA als Abortwärter beschäftigt – klar, aus lauter Schikane den Bebrillten gegenüber. Einer, Professor der Reflexologie, stempelt die Personalkarten: zehn bis fünfzehn Stunden ein und dieselbe gleichförmige Handbewegung.

… »Professor der Reflexologie« … Psychologie ist in der Sowjetunion beseitigt: die Seele existiert nicht, wozu dann eine Psychologie? Der Professor war schon so einer! Einige Zeit später, ich entsinne mich nicht mehr in welchem Zusammenhang, sagte ich etwas über Assoziation.

»Assoziation?« fragte mich der Professor. »Was ist das? Eine neue ›Abweichung‹?«

Der Professor war einer von der schnellgebackenen sowjetistischen Sorte. Und die neue Sowjetintelligenz haßt der »Aktiv« mit allen Fasern seiner hartgesottenen Seele. Die alte – das ginge noch. Die hat noch zu Zeiten des Zarenregimes gelernt, wer soll jetzt aus ihnen klug werden! Die neue aber, die die Aktivisten vor ihren eigenen Augen beschlichen und überrannt hat … Verständlich, daß man dabei mit den Zähnen knirscht …

Nein, als Stütze sind die Professoren nicht zu gebrauchen. Also versuche ich, meine Situation theoretisch zu betrachten. Worauf geht sie »theoretisch« hinaus? Man muß annehmen, daß ich hierhergeraten bin, nur weil mich höhere Vorgesetzte, wahrscheinlich Tschekisten brauchen. Wenn dem so ist, dann werde ich auf Starodubzeff, wenn nicht gleich so doch später, pfeifen; Starodubzeff werde ich so umgehen können, daß ihm nichts übrigbleibt, als nur die Zähne zu fletschen. Wenn aber dem nicht so ist? Was riskiere ich? Am Ende kaum mehr als die Verschickung auf die Waldarbeiten. Jedoch soll man das Verlangen des Aktivs, sich in die Waden zu verbeißen, gleich beim ersten Versuch ersticken. So besagt meine sowjetistische Theorie. Denn wenn man diese Bande nicht sofort zügelt, dann beißt sie einen tot. Dieses Gelichter ist bedeutend schlechter als die Urkis. Schon deshalb, weil die Urkis weit vernünftiger sind. Wenn die Urkis mit dem Messer zu spielen beginnen, so tun sie es aus einem konkreten Interesse. Der Aktiv springt einem an die Gurgel aus tückisch bestialischer Bosheit – ohne jeglichen Vorteil für sich und eigentlich auch ohne Grund … Sozusagen lediglich aus Klassenhaß … Am gleichen Abend gehe ich an dem Tisch Starodubzeffs vorbei.

»Heda, Sie, Ihr Name? Auch Professor?«

Ich bleibe stehen.

»Mein Name ist Solonewitsch. Ich bin kein Professor.«

»Will ich auch meinen … Idioten geht es hier nicht gut.«

Ich ahne nichts Gutes. Also – es beginnt. Das bedeutet, daß man sofort zügeln muß … Und hier bei der RVA bin ich wie in der Wüste … Aber was soll man machen? Starodubzeff starrt mich aus seinen blauen, rot geäderten Augen unverschämt an.

»Nicht doch, nicht alle sind Idioten … Zum Beispiel Sie, soweit ich verstehe, haben Sie sich ganz gut eingelebt.«

Hinten kichert jemand und verstummt sofort. Starodubzeff springt mit wutverzogenem Gesicht auf. Ich bemühe mich, mit meiner Miene und Stellung meine volle, sofortige seelische und körperliche Bereitschaft auszudrücken, ihm eins in die Schnauze zu geben … Mir hätte es einige Wochen Strafisolator eingebracht, Starodubzeff – mehrere Wochen Lazarett. Auf diesen Ausgang ist er wohl nicht gefaßt. Deshalb komme ich dem von ihm zu erwartenden Geschimpfe zuvor und sage mit einem gewissen akademischen Tonfall:

»Sehen Sie, ich kenne Ihren Dienstgrad nicht; aber ich muß Sie warnen. Wenn Sie nur eine einzige Sekunde mit mir in dem gleichen Ton wie mit Professor Freudenberg zu sprechen versuchen, dann gibt's kein gutes Ende …«

Schweigend steht Starodubzeff da. Nur in seinem Gesicht zuckt etwas. Ich drehe mich um und gehe weiter. Hinterdrein höre ich:

»Na, warte mal …«

Und mit bereits gedämpfter Stimme wird etwas Unflätiges hinzugefügt. Doch ich brauche dieses Unflätige offiziell nicht mehr zu hören – ich befinde mich bereits im nächsten Zimmer.

Später, am gleichen Abend, sitze ich auf meinem Klotz und höre im Nachbarzimmer ein Zwiegespräch.

Eine unbekannte Stimme:

»Genosse Starodubzeff, was ist ein Ich-thy-o-loge?«

»Ichthyologe? Das ist ein Fisch. Ein vorsintflutlicher. Heute gibt's die nicht mehr.«

»Wie nicht? Die Hauptverwaltung von Medgora fordert von uns die Angabe, wieviel Ichthyologen wir in unserer Kartei haben.«

»Da haben wir's, diese Idioten mit der Universitätsbildung …«

Die Stimme Starodubzeffs hebt sich in der Absicht, daß ich seinen Aphorismus mit anhöre. »Ist doch merkwürdig, sobald einer akademisch gebildet ist, ist er unbedingt ein Idiot. Schreibe Ihnen doch: der RVA stehen keine vorsintflutlichen Fische zur Verfügung. Wisch Ihnen eins aus.«

Der Bursche verstummt. Offensichtlich geht er an das »Auswischen«. Zu meinem Entsetzen höre ich plötzlich Georgs Stimme:

»Das ist kein Fisch, Genosse Starodubzeff, sondern ein Gelehrter, der sich mit dem Studium der Fische befaßt.«

»Was geht Sie das an? Reden Sie nicht, wenn Sie nicht gefragt werden, hol Sie der Teufel! Ich werde das richtige Reden hier schon beibringen. Wo soll das hin, wenn jeder Hundesohn sich in alles einmischen will.«

Mir wird wieder unbehaglich. Mit den Fäusten für Georg einzutreten, wird nicht schicklich sein, besonders nicht, solange es noch keine Schlägerei gibt … Schweigen? Diesem Aktiv die Möglichkeit zu geben, unsere Front, bildlich gesprochen, an Georgs Abschnitt durchzubrechen? … Warum, zum Teufel, hat sich Georg bloß eingemischt … Jetzt spricht Georg mit erregt stockender Stimme wieder:

»Gehorsamst … ich werde aber den Vorfall dem Leiter der RVA melden. Denn wenn Ihre vorsintflutlichen Fische die Hauptverwaltung erreichen, dann hat auch er Unannehmlichkeiten zu erwarten.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Brav, Schorschi, fein gemacht … Wie lange aber und mit welchem Erfolg wird er sich auch weiterhin herausdrehen können?

*

Man hat uns als Wohnstätte ein Zelt angewiesen. Es ist elektrisch beleuchtet, und von oben tropft es nicht. Dafür aber ist die Innentemperatur acht bis zehn Grad unter Null.

Nachts tappen wir »nach Hause«. Georg ist bedrückt …

»Ich glaube, Wa, wir müssen verduften … Sonst beißt man uns zu Tode. Heute habe ich gesehen, wie Starodubzeff seine Zigarette fallen ließ, aus dem nächsten Zimmer den Professor M. zu sich rief und ihm befahl, die Zigarette aufzuheben … Zum Teufel damit: besser zu den Urkis oder in den Wald.«

Ich dachte dasselbe. Ich wußte aber noch nicht all das, was uns noch bei der RVA bevorstand und wieviel Monate wir dort verbringen sollten. Auch hatte ich den Prankengriff Starodubzeffs unterschätzt: fast hätte er mich an die Wand gestellt. Auch ahnte es niemand, was für furchtbare Wochen wir während der Abfertigung der Transportzüge von Podporog zum BAM-Lager zu erleiden hatten und daß diese Wochen ungleich schwerer waren als das Untersuchungsgefängnis, die Einzelhaft und die Erwartung, erschossen zu werden …

Und dennoch, wären wir nicht zur RVA geraten, dann hätten wir uns kaum lebendig aus dem ganzen Schlamassel herausarbeiten können.

 

Unterhaltung mit Vorgesetzten

Am nächsten Tage kommt zu mir einer der Professoren-Abortwärter:

»Sie werden zum Chef der RVA, dem Genossen Bogojawlenski, befohlen …« Zwar sind meine Nerven bereits ziemlich abgestumpft, doch verspüre ich immerhin eine innere Unruhe. Was mag los sein? Wegen der gestrigen »Rücksprache« mit Starodubzeff?

»Sagen Sie mir, bitte, wer ist eigentlich dieser Bogojawlenski? Ein Häftling?«

»Nein, ein alter Tschekist.«

Mir wird es leichter ums Herz. Noch ein Paradox des sowjetistischen Wirrwarrs … Der Tschekist ist der Herr und der »Aktiv« die Meute. Die Meute trachtet danach, sich in beliebige Waden zu verbeißen, sogar in solche, die der Herr lieber ungebissen sehen wollte. Mag der Herr ein noch so großer Lump sein, er wird doch meistens die Meute mit der Peitsche vertreiben, die dich anfällt. Mit dem Bauern oder dem Arbeiter macht der Aktiv kurzen Prozeß. Die Intelligenz wird dagegen nur von der GPU festgesetzt … In den Hauptstädten, wo der Aktiv ganz im Hintergrund bleibt, merkt man das wenig, in der Provinz aber schützt die GPU die Intelligenz vor dem Aktiv … Auf jeden Fall vor selbständigen »Neigungen« des Aktivs.

Der gleiche Stall wie die übrigen »Abteilungen« der RVA. Ein schäbiger, verwahrloster Schreibtisch. Hinter dem Tisch sitzt ein Mann in Tschekistenuniform. Vor ihm liegt meine »Personalakte«. Bogojawlenski mißt mich mit einem strengen, tschekistischen Blick und beginnt mit einer Predigt, die sinn- und gegenstandslos ist: wir seien hier im Lager und nicht in einem Kurort. Hier werde kein Süßholz geraspelt, mit den Konterrevolutionären besonders nicht, für die kleinste Fahrlässigkeit oder Übertretung der Lagerarbeitsdisziplin gebe es unverzüglich Arrest, Strafisolator oder das »neunzehnte Geviert«. Oder auch »Fauler Fluß« … Man müsse sich »das bolschewistische Arbeitstempo« zu eigen machen, man brauche eine »Sturmarbeit« … Na, und so weiter.

Diese Strafpredigt wirkt wie Balsam auf meine Wunden: ein Effekt, den Bogojawlenski nie erwartet hätte. Aus dieser Predigt ziehe ich folgende Vernunftschlüsse: daß Bogojawlenski meine Paragraphen kennt, daß jene Paragraphen in seinen Augen keine besonderen Hindernisse sind, daß er von der »Rücksprache« mit Starodubzeff entweder nichts weiß oder ihr keine Bedeutung beimißt und endlich, daß er über meine Funktionen die gleiche Vorstellung hat, die vom alten Nasedkin so glänzend formuliert wurde: »was und wohin« …

»Bürger Chef, gestatten Sie, Ihnen zu melden, daß Ihre Ermahnung völlig unnötig war.«

»Was heißt das, unnötig?« wird Bogojawlenski wütend.

»Sehr einfach, einmal ins Lager geraten, liegt es in meinen eigenen Interessen, zu arbeiten oder, wie Sie sagen, Sturmarbeit zu leisten und ein wertvoller Mitarbeiter, besonders für Sie, zu werden. Es liegt nicht bei mir.«

»Bei wem sonst nach Ihrer Meinung?«

»Bürger Chef, in ein, zwei Wochen werden allein in Pogra fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Häftlinge sein. In der ganzen Abteilung: vierzig- bis fünfzigtausend. Sie verstehen doch, daß man mit solchem Apparat … Denn schließlich wird man Rechenschaft ablegen müssen, sowohl die RVA als auch ich.«

»Wegen der Verantwortung seien Sie nur unbesorgt. Wir werden uns nicht genieren.«

»Das wohl … In der Freiheit geniert man sich auch nicht … Aber die Frage ist die, wie bei dem vorhandenen Apparat die Verteilung und Unterbringung dieser Vierzigtausend zu bewerkstelligen ist? Teufel noch mal, gibt das ein Durcheinander!«

»Tja … unser Apparat ist nicht allzusehr … Übrigens, wo haben Sie in der Freiheit gearbeitet?«

Ich leiere einen diesem Augenblick entsprechenden kurzen Lebenslauf herunter.

»So … warum stehen Sie denn? Nehmen Sie Platz.«

»Wenn Sie gestatten, Bürger Chef. Es scheint mir, daß hier die Frage über die Qualifikation des vorhandenen Apparates zur Debatte steht. Besonders trifft es die unteren Schichten in den Baracken und Kolonnen. Man hätte eigentlich einen Schnellkursus organisieren sollen … Natürlich auf den Grundsätzen der ›Sturmarbeit‹.«

Ich stocke plötzlich … Müdigkeit? – Arbeitet das Gehirn nicht mehr? Wie kam ich nur dazu, mit der »Sturmarbeit« herauszuplatzen? Es fehlte noch, daß ich von dem sozialistischen Wettbewerb etwas hinzugefügt hätte: dann wäre das Renommee meiner Geschäftstüchtigkeit, das sich gerade entfalten wollte, hin.

»Ja, Kursus, das wäre nicht schlecht. Wer aber wird Vorlesungen halten?«

»Das kann ich machen. Die Hauptverwaltung muß auch helfen; denn schließlich ist unsere Abteilung eine ›Sturmabteilung‹.«

»Ja, das muß man sich durch den Kopf gehen lassen. Nehmen Sie doch eine Zigarette …«

»Danke. Ich bin konservativ …«

Meine Musterzigarettenschachtel kommt auch diesmal wieder zum Vorschein. Bogojawlenski betrachtet sie nicht ohne Staunen. Ich halte sie ihm offen hin:

»Bitte.«

Bogojawlenski nimmt eine Zigarette …

»Woher nur hier im Lager die Menschen solche Zigaretten auftreiben.«

»Die habe ich aus Moskau von meinen Freunden zugeschickt bekommen. Selbst rauchen sie nicht, sind aber in dem Verteilungsmagazin Nummer 1 eingetragen.«

Das Verteilungsmagazin Nummer 1 ist das Magazin der Regierung, für Volkskommissare und ähnliche Leute. Bogojawlenski weiß es natürlich …

Nach etwa zwanzig Minuten verabschieden wir uns durchaus nicht in dem Ton, mit dem unsere Unterredung begonnen hatte.

 

Die Technik des Unterganges der Massen

Meine Obliegenheiten als »Justitiar« und »Planwirtschaftler« hatten die merkwürdige Eigenschaft, daß niemand wußte, worin sie eigentlich bestanden. Ich selbst nicht. Ich machte mich mit dem für mich neuen Zweig des sowjetistischen Daseins bekannt und versuchte, meinen Fähigkeiten entsprechend, bei der RVA etwas Ordnung zu schaffen. Bogojawlenski, man muß ihm das Recht lassen, hat mir bei diesen Versuchen weitest gehende Hilfe angedeihen lassen. Der Aktiv machte Georg und mir durch sinnlose und hinterlistige Schikanen das Leben sauer, erreichte aber nichts Gescheites, und, wie es sich später herausstellte, sammelte er seine Kräfte für einen Generalangriff. Was dieser Aktiv von mir wollte, habe ich nie erfahren. Möglich, daß er einige Zeit die Befürchtung hegte, ich möchte die schlüpfrigen Wege der Enthüllungen beschreiten und seine vielartigen Diebereien, Erpressungen und Plündereien bloßstellen. Doch war ich für solche Versuche ein viel zu schlauer Kunde.

Die Technik der Ausrottung der Massen hat zwei Gesichter. Von einer Seite kommt »die blutige Hand der GPU«, das heißt ein wohlüberlegtes, grausam-erbarmungsloses System, doch immerhin kein sinnloses System. Von der anderen Seite wirkt der Aktiv, der diese Erbarmungslosigkeit bis zur völligen Sinnlosigkeit steigert, die niemandem, auch der GPU nicht, in irgendeiner Weise nützt. Aber so wird es in der Freiheit und auch im Lager gemacht.

Die Lagerordnung ist etwa so aufgestellt: der Häftling Iwanoff hat je Tag 7,5 Kubikmeter Holz zu fällen und zu zersägen oder ein entsprechendes Arbeitspensum anderer Art zu erfüllen. Alle diese Arbeiten sind streng normiert, die Normen abgedruckt und bei allen Dienststellen des Lagers niedergelegt. Dieser Iwanoff erhält seine Tagesnahrung entsprechend dem Umfang der geleisteten Arbeit. Wenn er die Norm voll erfüllt, bekommt er 800 Gramm Brot täglich, wenn die Norm nicht erreicht wird, dann erhält er, je nachdem, 500, 400 und sogar nur 200 Gramm. Gibt es auf einem Unterlager tausend solcher Iwanoffs, dann muß dieses Unterlager täglich 7500 Kubikmeter liefern. Wird diese Norm nicht erfüllt, dann bekommen eine verringerte Ration nicht nur die einzelnen Iwanoffs, sondern das ganze Lager. Hierbei muß man berücksichtigen, daß das Brot fast das einzigste Lebensmittel ist und daß bei dem strengen Subpolarklima 800 Gramm Brot eine mehr oder minder große Unterernährung, 400 Gramm die Auszehrung und 200 Gramm den Hungertod bedeuten. Die Anzahl der Arbeiter überprüft die RVA, Quantum und Qualität der erfüllten Arbeit stellt die Produktionsabteilung fest, wonach die Verpflegungsabteilung dieses oder jenes Quantum Brot bei der Lager-GPU anfordert.

Praktisch werden die Normen niemals erreicht beziehungsweise erfüllt. Aus dem Grunde, weil die »Arbeitskraft« sich im Zustande einer dauernden Erschöpfung befindet und weil das Sowjetwerkzeug in der Regel unbrauchbar ist, und auch deshalb, weil es auf jedem Unterlager stets ein gewisses Quantum von »Versagern« gibt – hauptsächlich sind es Urkis. Schließlich kommen noch viele andere Gründe hinzu … Techniker, in der Art unseres »Mitreisenden«, mir ähnliche »Wirtschaftler«, Ingenieure und die übrigen Intellektuellen tifteln dauernd alle möglichen Kombinationen, Schiebungen und Unterschlagungen aus, um die Hälfte der erfüllten Norm für mindestens siebzig Prozent auszugeben und damit die Lager von dauerndem Hungern zu bewahren. Das gelingt einigermaßen fast immer. Bei solchen »Korrekturen« und bei einem normalen Gang der Dinge hungern die Lager zwar, aber sie sterben nicht aus. Allerdings ist der »normale Gang« eine sehr unsichere Sache.

Der Abschnitt Nummer 3 auf dem Unterlager Pogra ist mit Erdarbeiten beschäftigt, auch diese Arbeiten sind normiert. Solange der Abschnitt im Normalboden buddelt, geht es noch an. Dann stoßen die Erdarbeiter auf Fließsand. Der halbflüssige Sandbrei rutscht von den Schaufeln und aus den Karren. Selbst bei Aufwendung aller Kraft ist es unmöglich, die Norm zu erfüllen. Die Leistungskurve fällt katastrophal nach unten. Ebenso katastrophal fällt die Verpflegungskurve. Die Kolonnen des Abschnittes – etwa zweitausend Erdarbeiter – schwillen vor Hunger an. Die Leistungskurve fällt noch tiefer – die Verpflegungskurve folgt hinterher. Die Kolonnen beginnen auszusterben.

Vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes sollten diese Normen eigentlich neu festgesetzt oder einer entsprechenden Staffelung unterzogen werden. Eine Neufestsetzung kann aber nur durch die Hauptverwaltung des Lagers und erst nach der Genehmigung durch die GULAG in jedem einzelnen Falle vorgenommen werden. Das ist einheitlich von oben eingeführt, damit die örtlichen Vorgesetzten, vor deren Augen die Menschen krepieren, keinerlei Möglichkeit hätten, mit den »objektiven Gründen« irgendwelche »Produktionsdurchbrüche« zu entschuldigen. Ferner wird es so gehandhabt, weil das System, auf der Stachelung der »Arbeitskraft« durch den drohenden Hungertod aufgebaut, den Menschen diesen Tod in ureigenster Gestalt zeigen muß, damit sie nicht denken, daß jemand mit ihnen Spaß machen will.

Für den Abschnitt Nummer 3 kam die Genehmigung zur Neufestsetzung der Normung erst dann, als alle Kolonnen vollzählig in die sogenannte »Schwachkraft« übergegangen waren – ein Ort, wo man die Menschen hinbeordert, die vor Hunger oder nach durchgemachter Krankheit nicht auf den Beinen stehen können, wo sie 600 Gramm Brot je Mann und Tag bekommen und bei den leichteren, nicht normierten Arbeiten Verwendung finden. Der durchschnittliche Lagerinsasse macht solche »Schwachkraft«epochen etwa dreimal während seines ganzen Lagerlebens durch, und mit jedem Male geht die Besserung langsamer vor sich. Erfahrungsgemäß bleiben nach dem dritten Aufenthalt dort nur außergewöhnlich kräftige Menschen am Leben.

Freilich erfindet die Lagerintelligenz, mitunter sogar mit einer direkten Nachsicht der Lagervorgesetzten – sofern diese vernünftig sind –, die phantastischsten Kombinationen, um die Menschen vor dem Hunger zu retten. In dem gegebenen Fall wurde der Versuch gemacht, die Arbeiten auf dem Abschnitt gänzlich einzustellen und die Erdarbeiter auf die Holzarbeiten zu versetzen. Die Hauptverwaltung des Lagers erfuhr von diesem Versuch, und eine Reihe von Ingenieuren bezahlten ihn mit Zusatzfristen, Karzer und sogar mit Verbannung nach den Solowetzki-Inseln. In den Kolonnen von insgesamt zweitausend Menschen starben vor der Versetzung in die »Schwachkraft« und in dieser nach den Berechnungen von Boris etwa eintausendsechshundert.

Das ist eine Erbarmungslosigkeit – wohldurchdacht und sinnvoll. Dagegen anzukämpfen, ist fast unmöglich. Es ist ein System. In dieses System sind auch Erschießungen einbezogen. Ich glaube aber nicht, daß im Weißmeer-Ostsee-Lager mehr als zwanzig bis dreißig Menschen täglich erschossen werden.

 

Aktivistische Korrektur an dem System der Erbarmungslosigkeit

Parallel zu diesem System, das von der GPU behauptet und gestützt wird, entwickelt sich die »wohllöbliche« Tätigkeit des Aktivs, die der »Lagerbevölkerung« unermeßlich größere Verluste als GPU, »Schwachkraft« und Erschießungen verursacht. Diese Tätigkeit des Aktivs wird, schematisch gesagt, von drei Faktoren regiert: Eifer, Unbildung und Unvernunft.

Der Eifer

Die Neuankömmlinge werden aus den Transportzügen zuerst in den »Quarantänen« und auf den »Verteilungspunkten« untergebracht, wo jeder von ihnen 600 Gramm Brot täglich bekommt und wo es keine normierte Arbeit gibt. Das Lagersystem beutet die Arbeitskraft mit einer außergewöhnlichen Strenge aus. Die Versetzungen von Abteilung zu Abteilung nimmt man nur an arbeitsfreien Tagen vor … Der Aufenthalt der Lagerinsassen in der Quarantäne oder auf dem Verteilungspunkt wird als »Schwund der Arbeitskraft« berechnet. Dieser »Schwund« ist organisatorisch unvermeidlich, doch muß die RVA darüber wachen, daß kein Lagerinsasse eine unnötige Stunde außerhalb der Produktionskolonne verbringt. Daher kriecht die RVA aus der Haut heraus, um in »stürmischster« Weise die Quarantänen und Verteilungspunkte laufend zu entlasten. Diese Arbeit leitet Starodubzeff. Zehntausende von Lagerinsassen, von den Hungerrationen im Sammelgefängnis noch kaum erholt und kaum imstande, ihre entkräfteten Beine zu bewegen, werden auf die Wald-, Erd- und sonstige Arbeiten geworfen. Sie können aber dort noch nichts leisten. Das Werkzeug ist noch nicht da. Es fehlen Sägen, Äxte, Schaufeln, Karren, Schlitten. Auch Kleidung ist nicht da; aber die kommt auch nicht: im Walde bei zwanzig Grad Frost, bis über die Hüften im Schnee watend, wird jeder in dem Zeug arbeiten müssen, das er im Augenblick der Verhaftung anhatte.

Wenn nicht genügend Äxte da sind, werden die Normen nicht erfüllt. Die Menschen bekommen kein Brot aus den gleichen Erwägungen, wie es die Erdarbeiter des Abschnittes 3 nicht bekamen. Dort gab man wenigstens je 400 Gramm; denn es wurde immerhin etwas ausgebuddelt, hier aber wird man nur je 200 Gramm geben, da die Erfüllung ungefähr gleich Null ist.

Die RVA, das heißt einfach Starodubzeff, erfüllt ihre Aufgabe »sturmartig«. Er hat die Arbeitskraft zur Verfügung gestellt. Was mit dieser Arbeitskraft weiter geschieht, ist ihm dann schnuppe. Diese Suppe soll die Produktionsabteilung allein auslöffeln. Die Produktionsabteilung oder vielmehr ihre Ingenieure laufen wie toll hin und her, sammeln Äxte und Sägen, flehen, diesen Strom von Menschen, die nicht ausgenützt werden können, anzuhalten. Der Strom ist aber nicht zu bannen.

Man war gezwungen, mit Bogojawlenski zu sprechen, nicht darüber, daß die Menschen umkommen – denn er pfiff darauf –, sondern darüber, daß, wenn in ein, zwei Wochen die Hälfte des Lagers zu der »Schwachkraft« übergeht, daß ihn dafür die GULAG auch nicht mit Handschuhen anfassen wird. Der Strom wurde angehalten, und das war mein erster geschäftlicher Zusammenstoß mit Starodubzeff.

Die Unbildung

Die Bauleitung des Wasser-Elektrizitätswerkes am Niwa (»Niwastroj«) fordert von unserer Abteilung achthundertsechzig Zimmerleute an. Auf Grund dieser Forderung schickt man Bauern, unter der Annahme, daß jeder Bauer mehr oder weniger ein Zimmermann sei. In diese Gruppe werden hundertvierzig Usbeken mit beordert, weil sie in der »Personalkartei« in der Spalte Beruf als Bauern eingetragen sind. Der Aktiv der RVA hat keine blasse Ahnung, daß diese Usbeken, in den wald- und wasserlosen Wüsten von Mittelasien aufgewachsen, von dem Zimmermannsgewerbe nicht das geringste verstehen, daß sie infolgedessen als Arbeitskraft nutzlos werden, als Esser bei der Nichterfüllung der Norm nur 200 bis 400 Gramm Brot bekommen und schließlich, daß sie als Bewohner eines trockenen und heißen Landes hinter dem Polarkreis in die Tundra, in die Sümpfe, in die Polarnacht geraten, wie die Fliegen vor Hunger und Skorbut dahinsterben.

Die Unvernunft

Mehrere Tage hintereinander ergoß Starodubzeff in die Telefonmuschel ein unbeschreibliches Geschimpfe auf die Vorgesetzten des dritten Unterlagers. Doch war dieses Geschimpfe nichts als eine übliche Methode der administrativen Einwirkung. Jeder Sowjetvorgesetzte, statt seinen Denkapparat in Gang zu bringen, greift bei jedem »Durchbruch« zu der gewohnten Waffe: Schimpfpassagen und »dicke Luft machen«. Man brauchte eigentlich nicht besonders schlau zu sein, um zu erraten, daß, wenn der Durchbruch da war, alles, was in den Rahmen des hier üblichen Schimpfwortreichtums fiel, bereits ohne Starodubzeff getan war. Daß es bereits gehagelt hatte von »schönen Worten«: »Strammstehen«, »Eins draufgeben« und »Marsch, in den Arrest« seitens der Kolonnenführer, Statistiker und Gruppenführer, ganz zu schweigen von dem Chef des Unterlagers. Ein Amerika brauchte Starodubzeff hierbei nicht zu entdecken. Auch war es nicht schwer, zu erraten, daß, wenn das Geschimpfe auf unteren Registern nicht half, auch das Starodubzeffsche nichts erreichte … Jedenfalls dauerten diese Tonverzierungen fünf Tage lang, und ich habe nebenbei gehört, daß es um das dritte Unterlager ganz schlecht bestellt sei. Eines Tages endlich werde ich zu Bogojawlenski befohlen, mit dem ich zu dieser Zeit ganz erträgliche »Geschäftsbeziehungen« angeknüpft hatte.

»Hören Sie mal, knibbeln Sie diese Teufelei auseinander! Nach unseren Angaben erfüllt das Unterlager 3 seine Norm fast voll, und diese Idioten aus der Produktionsabteilung geben nur fünfundzwanzig Prozent an. Was soll das eigentlich?«

Ich setze mich hinter einen Haufen von graphischen Darstellungen, von denen einhundert ausgereicht hätten, um damit ein früheres mittelgroßes deutsches Fürstentum bedecken zu können. Die Spalten der Aufstellungen, in denen die Fuhrleistungen eingetragen waren, machten mich stutzig. Ich rufe die Veterinärabteilung des Unterlagers an:

»Was ist bei Ihnen mit den Pferden los?«

»Bei uns, konkret gesprochen, mit den Pferden ist faktisch die Sache ganz faul.«

»Sie sollen vernünftig reden – was geht vor?«

»Die Pferde arbeiten nicht.«

»Warum arbeiten sie nicht?«

»Mit Verlaub zu sagen, sind fast alle krepiert.«

»Weshalb krepiert?«

»Das ist von wegen dem Zweigfutter. Im Herbst haben wir die Tannenzweige eingemietet, und dann sind die Pferde nach und nach krepiert.«

»Womit fahren Sie denn das Holz?«

»Faktisch gesprochen – haben wir die Lagerinsassen eingespannt. Menschliche Zugkraft.«

Nun wurde mir alles klar … Die Kampagne, selbstverständlich eine »Sturmkampagne«, zur Einführung der Zweigfütterung fiel in der Sowjetunion durch, als ich noch in der Freiheit war. Als von der Entkulakisierung und Kollektivierung kein Hafer, nicht einmal mehr das Gras wachsen wollte, begann die Sowjetmacht die Zweigfütterung einzuführen. Offiziell wurde nachgewiesen, daß das Futter aus Kiefern- und Tannenzweigen kalorienreich, vitaminhaltig und so weiter sei. Das war eine gleiche Geschichte wie die Kaninchenzucht. Wer sich erdreistete, zu zweifeln oder, Gott bewahre, Einwendungen zu machen – fuhr ins Zwangsarbeitslager. Die Kolchosmänner und -weiber schlenderten wehmütig durch die Wälder, schnitten Tannen- und Kiefernzweige ab und stampften sie in den Mieten ein … Die gleiche Geschichte machte man auch hier. Solange Heu da war, haben sich die Pferde einigermaßen gehalten, nachdem man aber die Zweigfütterung hundertprozentig eingeführt hatte, krepierten sie alle.

Die Vorgesetzten des Unterlagers haben ganz richtig überlegt, daß sie mit der Feststellung der Ergebnisse der Zweigfütterung sich nicht besonders zu beeilen brauchen; denn obwohl diese Vorgesetzten an der bewußten Neueinführung keineswegs mitschuldig waren, hatten sie doch zu gewärtigen, daß gerade sie eins draufbekommen, und zwar nach dem Schema, welches ich in dem Kapitel über den Aktiv schilderte: alles muß der kleinste »Haltdieschnauze« ausbaden. So fuhr man Holz auf Wagen oder Schlitten, vor die Menschen gespannt waren, sechs bis elf Kilometer weit. Da die »menschliche Zugkraft« in den Normtabellen vorgesehen war, haben die Lagerinsassen diese Norm in Höhe von siebzig bis achtzig Prozent erfüllt – doch wurde dafür die Holzfällernorm nicht erreicht. Mit Hilfe einiger statistischen Manipulationen hat die Intelligenz des Unterlagers dieses prozentuale Verhältnis auf volle Hundert frisiert. Aber von all diesen Maßnahmen wurden die tatsächlichen Holzmengen nicht größer, und das einzige, was die Intelligenz der Produktionsabteilung machen konnte, war, auf dem Wege ähnlicher Manipulationen den Prozentsatz der tatsächlich aufbereiteten Hölzer von fünf bis zehn Prozent auf vierzig bis fünfzig Prozent zu heben. Von der letzteren Tatsache ausgehend, gab die Verpflegungsabteilung die entsprechenden Rationen aus.

Die »Unterlagerbevölkerung« begann allmählich zu der »Schwachkraft« abzuwandern, was aber nicht so leicht war: denn um in die Reihen der »Schwachkraft« zu kommen, mußte man erst eine medizinische Untersuchung durchmachen, man mußte »objektive Anzeichen des Verhungerns« haben, wobei diese Anzeichen nicht so sehr der Arzt als die Mitglieder der aus Aktivisten bestehenden Kommission feststellten. Außerdem wurden in die immer überfüllten »Schwachkraft«abteilungen bei weitem nicht alle aufgenommen. Das Unterlager begann bereits zu dem Zeitpunkt auszusterben, als ich meine Entdeckung des eingemieteten Zweigfutters machte …

Als ich mit diesen Ergebnissen zu Bogojawlenski ging, um Vortrag zu halten, stürzte Starodubzeff gleich hinterher. Ich hielt Vortrag. Bogojawlenski sah auf Starodubzeff:

»Zwei Wochen … zwei Wochen lang waren Sie nicht imstande, die Sachlage zu erkennen … Mitarbeiter? Hol euch alle der Satan … Ich werde Sie auf einen Monat in den Strafisolator setzen.«

Er tat es aber nicht. – Man hielt Starodubzeff für einen unersetzlichen Spezialisten in RVA-Sachen. An die Hauptverwaltung in Medgora »flog« ein im tragischen Ton verfaßtes Telegramm mit der Bitte, eine »außerplanmäßige Verpflegung« des Unterlagers 3 in Anbetracht der aufgetretenen Pferdeseuche zu genehmigen. Drei Tage später kam aus Medgora die Antwort:

»Alles klären und die Schuldigen strengstens bestrafen …« Nunmehr wurde auf »die Sache« der ganze Aktiv der dritten Abteilung gehetzt. Man verhaftete Veterinäre, Stallburschen, Pferdeknechte und Fuhrleute. Selbst der Chef des Unterlagers, ein Tschekist, wurde verhaftet. Niemand ging es aber durch den Kopf, was mit den Pferden und mit den eingemieteten Tannenzweigen auf anderen Unterlagern sich ereignen würde. Auf dem Unterlager 3 arbeiteten etwa fünftausend Menschen.

*

Ungeachtet der »Massenmaßnahmen« befaßt sich der Aktiv auch mit der individuellen Ausplünderung von Lagerinsassen, die irgend etwas besitzen, und auch von solchen, die gar nichts haben. So zum Beispiel kann man sich von der Verschickung auf ein »Niwastroj« mit einem Liter Wodka loskaufen. Ein Liter Wodka ist gleich dem Holzfällerlohn von vier bis fünf Monaten. Der Holzfäller bekommt drei Rubel achtzig Kopeken je Monat und hat das Recht, für dieses Geld in der Kantine des Unterlagers 600 Gramm Zucker und 20 Gramm Machorka einmal im Monat zu kaufen. Und es ist schon besser, man verzichtet auf den Zucker, auf Machorka und sogar auf die Briefmarken für die Briefe nach Hause, als nach Niwastroj zu fahren. Ähnliche Maßnahmen – mitunter ganz grausame – stehen dem Aktiv in reicher Auswahl zur Verfügung …

Ich glaube, daß im Falle des Sturzes der Sowjetmacht dieser Aktiv ungefähr vollzählig abgeschlachtet wird – in Ausmaßen von siebenstelligen Zahlen. Ich bin kein blutrünstiger Mensch, glaube aber doch, daß sie es verdient haben.

 

Wofür sitzen die Menschen?

All diese »Durchbrüche«, »Kampagnen« und das übrige blutige Zeug berührten auch mich in der Eigenschaft als »Wirtschaftsplankonstrukteur«, obwohl ich während meines ganzen Aufenthaltes auf diesem verantwortungsvollen Posten nicht für eine Kopeke etwas »geplant« hatte. In der Eigenschaft des Justitiars konnte ich trotz der optimistischen Meinung Nasedkins – »Na, Sie werden schon selbst wissen, was und wohin« – durchaus nicht begreifen, was ich mit diesen zentnerweise aufgehäuften »Personalakten« tun sollte. Endlich begriff ich: Wenn du deine niemandem bekannten Funktionen als »Rechtsberater« aufziehst, dann können sie etwas werden, was deinen persönlichen Bestrebungen entspricht. Aber die Vorgesetzten haben diese Rechtshilfe sehr schief angesehen:

»Na, wollen Sie etwa die Kulaken aus dem Lager ausklauben?« … Ich erklärte aber, daß nach der Instruktion der GULAG eine solche Funktion existiert. Gegen die Instruktion der GULAG wagte Bogojawlenski selbstverständlich nichts einzuwenden. Wohl hat er diese Instruktion niemals vor Augen gehabt, ich auch nicht; aber selbst eine nicht existierende Instruktion der GULAG flößte Achtung ein.

Diese zwölf Zentner »Personalakten« waren nichts als Rechtlosigkeit und Unbildung. Hier wirkte das Sowjetschema: sinnvolle Grausamkeit der GPU und sinnloser und ungebildeter Eifer des Aktivs. Mit den Aktenstücken, die von der GPU kamen, konnte ich gar nichts anfangen; denn es stand darin: »Iwanoff, Paragraph soundso, zehn Jahre Lager«. Und Punktum. Daraus kann man keinerlei »Rechtshilfe« quetschen. Die Bevölkerung saß fast ausschließlich auf Grund von GPU-Urteilen. Wenn mitunter auch Gerichtsurteile vorkamen, so waren sie in der erdrückenden Menge von Fällen nach sowjetistischen Maßstäben genügend stark begründet. Die Bauern saßen sowohl auf Grund von GPU-Urteilen als auch Beschlüssen von zahllosen »Tribunals und Quintbunals«, die ihre Urteile nach der Entkulakisierung, Kollektivierung, der Getreideablieferung und dergleichen zu fällen hatten. Ich bin sogar auf Urteile wegen Sabotage der Einführung von Zweigfütterung gestoßen – ja, ja eben erwähnter … Hier konnte man ebenfalls nichts ausrichten. Die Urteile waren gewöhnlich wie folgt formuliert: Iwanoff Iwan, Mittelbauer, 47 Jahre alt, 7. 8. Nummer, zehn Jahre. Das bedeutete, daß der Bauer für die Übertretung des Gesetzes über das »heilige sozialistische Eigentum« (Gesetz vom 7. August 1932) festgesetzt und zu zehn Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt worden war. Auch Volksgerichtsurteile und motivierte Urteile verschiedener »Tribunals« waren darunter. Eins von diesen lautete: »Zehn Jahre Zwangsarbeitslager dafür, daß der Angeklagte Petroff, der sich auf dem Kolchosfelde befand, Kartoffeln gestohlen hat, was dadurch bewiesen wurde, daß man selbiger drei Stück in der Tasche des vorgenannten Angeklagten Petroff bei einer Leibesvisitation auffand.«

Mit den motivierten Urteilen gab es eine mühselig qualvolle Arbeit. Wenn irgendein Tatbestand überhaupt vorlag, dann wurde er in den literarischen Übungen eines »Selbstlerners«, der als Sekretär des Volksgerichtes in Dingsda saß, so verwickelt, daß man sich weder ein- noch auskannte. Oft lag im gleichen Aktenstück auch eine Erklärung des Verurteilten – erst im Lager geschrieben. Auch aus dieser Erklärung ging nichts hervor. – Soziale Herkunft – selbstverständlich proletarisch, Treuebeteuerungen dem sozialistischen Aufbau und »unserem großen Führer der Völker« gegenüber; schließlich ein Appell an die proletarische Gnade; gleichzeitig eine »volle und von reinem Herzen kommende Reue« und die Bitte um Wiederaufnahme des Verfahrens, da »werktätig vom Kindesalter, und was in dem Urteil geschrieben steht, da bin ich nicht schuldig« …

Von solchen Urteilen ist mir besonders eins im Gedächtnis geblieben: der Bauer des Busulukgebietes Lytschkoff, verurteilt zu zehn Jahren für Teilnahme an einem Bandenüberfall auf eine Kolchoswagenkolonne. Im gleichen Aktenstück fand sich eine Zuschrift des Krankenhauses von Busuluk, aus der hervorgeht, daß der Angeklagte von einem Monat vor dem Überfall bis anderthalb Monate nach diesem mit Flecktyphus darniederlag. Man sollte meinen: ein Alibi, wie es im Buche steht. Das »Gericht« erkennt in seiner Urteilsbegründung sowohl die Zuschrift wie das Alibi an, gibt aber trotzdem zehn Jahre. Weiter war in dem Aktenstück eine reumütige Erklärung des Angeklagten, aus der rein gar nichts zu verstehen war. Ich entschloß mich, Lytschkoff »zwecks Klärung der Angelegenheit« in die RVA vorzuladen. Sofort bäumte sich der Aktiv auf: ich untergrabe die Arbeitsdisziplin, ich halte die Arbeitskraft auf und so weiter. Aber es stand hinter meinem Rücken die berühmte »Instruktion der GULAG«, die ich nach eigenem Gutdünken ausdeuten konnte bis zur Grenze ihrer Glaubwürdigkeit. Diesmal schaute mich Bogojawlenski nicht ohne ein gewisses Mißtrauen an – »ob du nicht lügst, Brüderchen, von wegen der Instruktion?« … Laut sagte er nur:

»Na, denn man tau … wenn es in den Instruktionen steht. Machen Sie aber davon nicht allzuoft Gebrauch.«

Der zur RVA beorderte Lytschkoff erklärte, daß er von einem Überfall eigentlich gar nichts wisse. Die Sache besteht aber darin, daß er, Lytschkoff, in Freierskrieg mit dem Sekretär des Dorfsowjets wegen einer jungen Kolchosniza lag. In diesem »sozialistischen Wettbewerb« zog der Sekretär den kürzeren, Lytschkoff wurde mit in die Sache des Bandenüberfalles hineingepfuscht und zu zehn Jahren BBK verurteilt: du sollst mit den Vorgesetzten nicht wetteifern.

In einem besonders günstigen Augenblick gelang es mir, mich an Bogojawlenski heranzupirschen, und er erlaubte mir, nach Medgora etwa fünfzehn solcher Sachen zu senden »behufs Weiterleitung zur Wiederaufnahme des Verfahrens«. Das war mein letzter Erfolg in der Eigenschaft als Justitiar der RVA …

 

Der Aktiv springt an die Gurgel

Ich habe mich wegen der »Untersuchungssachen« in die Pfütze gesetzt. Es handelt sich um folgende Angelegenheit:

Das Territorium des BBK zieht sich, wie ich schon sagte, in meridialer Richtung ungefähr zwölfhundert Kilometer hin.

Auf diesem weiten Gelände gibt es ununterbrochene Durchsuchungen, Razzias, Ausweiskontrollen und so weiter: in den Zügen, auf den Dampfern, auf den Straßen, auf den Brücken, auf den Märkten. Jede Person, die keine genügenden Ausweise bei sich hat, wird als ein Lagerflüchtling angesehen und kommt ins Lager; bis zum Abschluß der »Untersuchungssache« wird das onus probandi nach echter GPU-Tradition dem Angeklagten auferlegt: du sollst beweisen, daß du zwei Augen hast. Ein ins Lager geratener Mensch kann vernünftige Beweise selbstverständlich nicht erbringen. Und dann beginnt die RVA durch die Verwaltung des BBK Recherchen anzustellen, und zwar nach den von dem Inhaftierten angegebenen Adressen seiner Wohnung, seiner Dienststelle, der Ortsgruppe des Berufsverbandes und dergleichen.

Es versteht sich, daß sich bei dem Tempo der dunklen »Selbstlerner« solche Recherchen nicht nur Monate, sondern oft Jahre hinzogen. Inzwischen wird so ein Unglücksrabe irgendwohin nach Uchta, nach Wischera oder nach dem Dallag versetzt: er sitzt ohne Urteil, ohne bestimmte Dauer. Seine Familie gerät in Schwierigkeiten. Den Paß bekommt sie entzogen, dessen Vorweisen beim Bezug von Lebensmitteln unerläßlich ist. Sie ist gezwungen, in den verschiedenen sowjetistischen Kanzleikaschemmen herumzurasen, jede versucht die Sache durch irgendein nichtiges Schriftstück von sich abzuwälzen, und schließlich wird daraus ein Teufelsdurcheinander. In dem Haufen, den ich während meiner »Justitiartätigkeit« bearbeitet hatte, gab es etwa fünfzig sogenannte »Untersuchungssachen«. Darunter war eine besonders drollig: Ein Petersburger Kommunist – der Name ist mir entfallen – hat an einer Arbeiterexkursion nach dem Weißmeer-Ostsee-Kanal teilgenommen. Selbstverständlich haben die Exkursionsteilnehmer eine besondere Führung, außerdem werden ihnen sämtliche Ausweise abgenommen, an deren Stelle sie ein zeitweiliges Papierchen und die strenge Ermahnung bekommen, sich von der Exkursion auf keinen Fall zu trennen … Mein Kommunist, offensichtlich in der Annahme, daß die sowjetistischen Gesetze für ihn als Kommunisten nicht geschrieben seien, trennte sich von der Exkursion oder, wie er es in seiner späteren Angabe geschraubt schrieb: »aus dem Grunde der individuellen Vorliebe zum Fischfang mittels einer Angel«. Bei dieser durchaus nicht bolschewistischen Beschäftigung fiel er ins Wasser, und nachdem er wieder ans Land gekrochen war und sich abgetrocknet hatte, stellte sich heraus, daß die Exkursion weitergewandert war und der Inhalt des Papierchens vom Wasser bis zur Unkenntlichkeit auseinandergelaufen war. Wegen seiner »individuellen Vorliebe« saß er bereits acht Monate. Seit etwa einem halben Jahr befanden sich in seinem Aktenstück alle für seine Befreiung erforderlichen Auskünfte, darunter auch die Auskunft der entsprechenden Parteiorganisation sowie die Zuschrift für die Hauptverwaltung des BBK, das Parteibuch des ungeratenen Anglers und darin auch ein Lichtbild …

Sündiger Mensch, der ich bin – an einer beschleunigten Befreiung dieses Fischers hatte ich kein Interesse. Mag er noch sitzen und sich umschauen! Wer Kegeln schiebt, muß auch mit aufsetzen … Doch ließen die übrigen Sachen mein intellektuelles Gewissen nicht in Ruhe. Der Haken war der, daß zunächst die Lagerverwaltung sich allen Befreiungsmaßnahmen gegenüber äußerst unfreundlich verhielt, aber dann auch, daß unter den betreffenden Sachen solche waren, die bei der RVA über ein halbes Jahr bereits als »aufgeklärt« dalagen und schon längst zur Hauptverwaltung nach Medgora abgesandt werden mußten. Das hatte Starodubzeff zu erledigen. Vom Standpunkt der lagerbürokratischen Technik war es eine ziemlich verwickelte Kombination, ich hätte aber die Sache durchgebracht, wenn mir nicht ein großer technischer Fehler unterlaufen wäre: als Bogojawlenski aus Anlaß eben dieser Sachen etwas meckerte, sagte ich ihm, daß ich bereits mit dem Inspektor Minin gesprochen hätte. Minin »instruierte« gerade in diesen Tagen unsere RVA. Er war aus Medgora, daher als Vorgesetzter anzusehen, und folglich gab es nichts mehr, was vor Medgora vertuscht werden konnte. Aber mit Minin hatte ich noch nicht gesprochen, ich hatte es nur vor. Bogojawlenski aber war schneller als ich gewesen, das wurde mir sehr unangenehm. Außerdem fiel es mir leider nicht ein, Starodubzeff irgendwie vorher zu rehabilitieren und einige »objektive Umstände« auszuklügeln, die das unnötige Verbleiben dieser Sachen bei der RVA entschuldigen konnten. Allerdings hätte Starodubzeff durch diese Verzögerung nichts Besonderes zu gewärtigen – höchstens ein kräftiges Wort aus dem Munde von Bogojawlenski. Doch genügte diese ganze Situation, um Starodubzeff zu einer entscheidenden Attacke zu veranlassen.

Eines schönen Tages – ein sehr unfreundlicher Tag meines Lebens – teilte man mir mit, Starodubzeff habe der dritten Abteilung eine Eingabe gemacht, daß ich zum Zwecke einer konterrevolutionären Sabotage an der Arbeit der RVA und, um mich an ihm, Starodubzeff, zu rächen, aus seinem Schreibtisch zweiundsiebzig Aktenstücke der zur Befreiung bestimmten Häftlinge gestohlen und im Ofen verbrannt hätte. Ferner stand in der Eingabe, daß diese Tat von etwa sechs Zeugen aus den Kreisen der RVA-Aktivisten bestätigt werden könne. Ich fühlte sofort, daß ich diesmal, so sicher wie kaum in meinem Leben, nahe an der »Wand« stand.

Das »theoretische Schema« war mir bedrückend klar, hoffnungslos klar: die Eingabe Starodubzeffs und die Bekundungen der Aktivisten werden der dritten Abteilung vollkommen ausreichen, um so mehr als sowohl Starodubzeff wie auch die Aktivisten und die dritte Abteilung alle »unsere Leut« waren und unter einer Decke steckten. Dazu habe ich noch Bogojawlenski mit meiner mysteriösen Unterredung mit Minin an der Nase geführt. Bogojawlenski war ich nicht immer sehr bequem durch meine Aktivität, die hauptsächlich auf den »faulen Liberalismus« gerichtet war … Und schließlich, wenn die Sache die Hauptverwaltung in Medgora erreicht, wird man Bogojawlenski fragen: »Und weshalb, zum Teufel, haben Sie der Instruktion zuwider für diese Arbeit einen Konterrevolutionär angestellt und dazu noch mit solchen Paragraphen?« Außerdem war es ein konterrevolutionäres Verbrechen, worauf das »Höchstmaß der Strafe« stand, so daß die ganze Sache unbedingt nach Medgora gehen mußte, was aber Bogojawlenski veranlassen wird, mich von seiner Rechnung abzusetzen und den wilden Tieren vorzuwerfen … Im Lager und auch in der Freiheit kann man dienstliche und persönliche Interessen der Partei- und Halbparteivorgesetzten noch berechnen, doch darf man weder auf Menschlichkeit noch auf einfache Anständigkeit von ihnen hoffen.

Die Einzelheiten der Starodubzeffschen Denunziation kannte ich nicht, habe ich auch nie erfahren. Ich denke nicht, daß die sechs Zeugenaussagen ohne die schreienden Widersprüche redigiert wurden (um in solcher Sache Widersprüche zu vermeiden, mußte man immerhin Gehirne haben), doch wird man mir, selbst vor der Erschießung, diese Aussagen nicht zeigen … Ich konnte noch mit der Erwägung argumentieren: Wenn ich mit »Diversionszielen« die Arbeit des Lagers sabotieren wollte, dann hätte ich für das Lager etwas weniger Vorteilhaftes ausgedacht als den Versuch, in ihm auf die Dauer von ein bis zwei Jahren siebzig Paar Arbeitshände mehr zu belassen. Auch auf die psychologische Unsinnigkeit der Annahme könnte ich hinweisen, daß ich, der nichts unterließ, um jeden einzelnen zu befreien, keinen anderen Racheakt ausdenken konnte, um Starodubzeff meine beleidigten hohen Gefühle zu vergelten, als zweiundsiebzig Mann, die schon für die Befreiung vorgesehen waren, im Lager behalten zu wollen. Freilich konnte man mit all diesem argumentieren … Aber wenn sogar die Leningrader GPU, in der Person des Genossen Dobrotin, weder Logik noch Psychologie gelehrt wurde, was soll man dann sagen von den Aktivisten aus der dritten Abteilung in Podporog?

Etwa fünfzig »Untersuchungssachen«, derentwegen ich mich eigentlich in die Pfütze gesetzt hatte, waren aber doch gerettet: Minin hat sie nach Medgora mitgenommen. Fürwahr, »es gibt keine größere Liebe, als sein Leben für seine Nächsten zu opfern« – zu meiner Betrübnis muß ich aber bekennen, daß diese Erwägung mir entschieden keinen Trost spendete. Die Rolle eines Märtyrers trotz ihrer szenischen Vorteile war nicht für mich geschrieben. Wahrscheinlich zum hundertsten Male gedachte ich mit nicht gerade schönen Worten meines Gewissens, das mich so oft zwang, Unternehmungen anzufangen, bei denen es so leicht war, alles zu verlieren, und absolut unmöglich, etwas zu gewinnen. Das erinnerte sehr an den Säufer, der schwört: »Kein Gläschen mehr«. Er schwört vom Morgenkater bis zum Abendsuff.

Ein Lichtblick kam. Die Denunziation war der dritten Abteilung vor fünf Tagen zugestellt, und bis heute war ich noch nicht verhaftet.

Zur Erklärung dieser außergewöhnlichen Verzögerung konnte man eine Anzahl genügend wahrscheinlicher Hypothesen aufstellen, doch hätten diese Hypothesen gar nicht geholfen. Boris behandelte gerade während dieser Zeit den Chef der dritten Abteilung wegen einer »romantischen« Krankheit. Er versuchte ihn auszufragen, aber der Chef schmunzelte nur mit zynischer Rätselhaftigkeit und ließ nichts Gescheites vernehmen. Boris war der Meinung, daß man auf alle Hypothesen und auf alle Präventivmaßnahmen spucken und daß man, ohne eine Stunde zu verlieren, fliehen muß. Aber wie fliehen? Und wohin fliehen?

Georg hatte eine merkwürdige Mischung von Optimismus und Pessimismus. Er meinte, daß wir aus dem Lager im besonderen und der Sowjetunion im allgemeinen (für ihn war Sowjetlager und Sowjetrußland ungefähr dasselbe) sowieso keinerlei Chancen hatten auszureißen. Das Ausreißen war aber unbedingt notwendig. Das »im allgemeinen«. Und »im besonderen« setzte Georg große Hoffnungen auf den sogenannten Spiegel.

Spiegel war ein junger Jude, den ich niemals gesehen und dem ich seinerzeit eine kleine an sich ganz geringfügige Gefälligkeit sozusagen »in Abwesenheit« erwiesen hatte. Kurze Zeit danach saßen meine Frau, Georg und ich in Odessa im Tschekagefängnis. Georg war damals sieben Jahre alt. Wir saßen ohne jede Hoffnung, der Erschießung zu entgehen; denn bei der Verhaftung wurden solche Schriftstücke bei uns vorgefunden, die, wie es heißt, »keinerlei Zweifel zulassen«. Spiegel tummelte sich damals in dieser Tscheka herum. Ich weiß nicht, aus welchem Motiv er handelte – damals handelten die Menschen aus den verschiedensten Motiven; auch weiß ich nicht, auf welche Art es ihm gelang – damals hatte man die verschiedensten Arten; aber alle unsere Papiere ließ er aus der Tscheka verschwinden und mit ihnen auch unsere beiden »Sachen«, sowohl die meiner Frau wie auch meine, so daß wir, nachdem wir »genügend« gesessen hatten, zu unserer beiderseitigen und unaussprechlichen Verwunderung freigelassen wurden. Das Ganze zusammengenommen und durch einige Einzelheiten ausgeschmückt, die sich später herausstellten, hätten völlig für einen Hollywoodfilm ausgereicht, an den kein vernünftiger Mensch geglaubt hätte.

Jedenfalls wurde der Terminus »Spiegel« in unser Familienwörterbuch aufgenommen … und Georg hatte nicht so unrecht. Wenn es ganz schlecht ging, ganz miserabel, wo nach der menschlichen Logik keinerlei Rettung zu erwarten war – tauchte »ein Spiegel« auf … Auch diesmal.

 

Genosse Jakimenko und die ersten Challuren

Zwischen den beiden Extremen – dem Gefühl einer vollen Aussichtslosigkeit und dem Gefühl einer vollen Sicherheit – verging ungefähr ein ganzer Tag. Alles mögliche habe ich mir in dieser Zeit durch den Kopf gehen lassen. Auch darüber dachte ich nach, wie unklug ich eigentlich handelte. Gar nicht nach jener Theorie, die sich während der langen Jahre des Sowjetlebens herauskristallisierte und die in kategorischer Form vorschrieb, aus allen am Horizont aufsteigenden Perspektiven, vor allen Dingen nach der Chalture Unübersetzbares Wort. Es bedeutet sowohl, was wir mit Vorspiegelung falscher Tatsachen bezeichnen, wie schlechte Arbeit, Murkserei. zu greifen. Unter dem Deckmantel der Chalture kann man auch etwas Gescheites tun. Doch ohne die Chalture ist der Mensch schutzlos, wie ein Ritter des Mittelalters ohne Harnisch. Ungeachtet aller Theorien ging ich ans Werk. Wie konnte nur aus meinem Kopfe die unbedingte und imperative Notwendigkeit, vor allem und zuerst immer die Chalture zu ergreifen, sich verflüchtigen? … Der nächste »Spiegel« und die nächste Chalture tauchten unerwartet auf … Es trafen in Podporog neue und immer neue Transportzüge von Lagerinsassen ein, und der ursprüngliche »Produktions-Finanzplan« war schon längst übererfüllt. Gegen Mitte Februar waren in Podporog bereits etwa fünfundvierzigtausend Häftlinge. Ein heilloses, völlig unvorstellbares Durcheinander wütete in der RVA. Zehntausende von Menschen standen da ohne Werkzeug, folglich ohne Arbeit und infolgedessen auch ohne Brot. Niemand wußte eigentlich, wieviel Volk sich auf jedem einzelnen Unterlager befand. Einzelne »Kommandos« bekamen doppelte Verpflegungsrationen, andere überhaupt nichts. Sämtliche Verzeichnisse wurden durcheinandergebracht. Fünfundvierzigtausend Personalakten, fünfundvierzigtausend Personalkarten, fünfundvierzigtausend Formulare und andere Papierchen, aus all denen mich irgendwo untergehende Menschen ansahen, haben die RVA mit einer wahren Papierlawine zugeschüttet: Schreibpapier, Tapeten, Etiketten der alten Kusnetzoff-Tee-Verpackungen, alte, vorrevolutionäre Steuerbanderolen und weiß Gott, was sonst noch alles, was man in der Sowjetunion Papierhunger nannte …

Ähnliche Formulare, Personalkarten, Leistungsberichte und so weiter, jede Art in je fünfundvierzigtausend Exemplaren, wurden von endgültig verdrehten Statistikern und Kolonnenführern von Kolonne zu Kolonne, von Baracke zu Baracke hin und her geschleppt. Taufende namenlos Gewordene, »von ihren Ausweisen Getrennte«, die nicht wußten, wohin, lungerten in hungrigen Gruppen auf der Quarantäne und auf der Verschiebestelle herum. Hunderte von Kolonnenführern rasten durch die Baracken und versuchten, ihre auseinandergelaufenen Horden zusammenzutrommeln.

Es war Tauwetter. Die Hälfte der Baracken stand ohne Dach, und durch die schadhaften Decken drang das Tauwasser ein. Die andere Hälfte hatte zwar Dächer, war aber auch nicht ganz wasserdicht. Die Menschen aus den dachlosen Baracken wanderten trotz aller Hinderungsversuche der Innenwache in die überdachten Baracken, so daß jedwede Gruppen- und Kolonneneinteilung dahinschmolz wie der Schnee auf den Decken der dachlosen Baracken. Gegen Ende Februar herrschte im Lager endgültiges Chaos. Um es zu liquidieren, kam aus Medgora der Chef der RVZ (Registrations- und Verteilungs-Zentrale) der Hauptlagerverwaltung. Über ihn wie über jeden Lagerpascha, der über Leben und Tod verfügte, gingen im ganzen Lager Legenden um, die dazu noch mit aktivistischer Unterwürfigkeit, mit der Phantasie der Urkis und mit der Angst der Lagerinsassen ums eigene Leben ausgeschmückt waren.

*

Etwa um zwei Uhr nachts, nachdem wir unseren »Arbeitstag« gerade beendet hatten, versammelte man uns im »Kabinett« Bogojawlenskis. An seinem Tisch saß ein hochgewachsener Mensch in schneidigem Tschekistenmantel mit hartem, gebieterischem und glattrasiertem Gesicht. Sogar etwas Patrizialisches drückte dieses Gesicht aus. Mit unverhohlenem Widerwillen auf den zusammengekniffenen Lippen beschaute er sich diesen zerlumpten, hungrigen und diebischen Haufen Aktivisten, der sich stoßend und stolpernd in das Kabinett ergoß; ihn quälte anscheinend die Notwendigkeit, die gleiche Luft mit diesem Lumpenpack einatmen zu müssen, das die Stütze und unvermeidliche Bedingung seines Vorgesetztendaseins war. Seine wohlgenährten Backen zuckten vor kaltem Abscheu. Das war der Chef der RVZ – Genosse Jakimenko. Der Haufe drängte sich unschlüssig an den Türen. Manche verbeugten sich unterwürfig vor Jakimenko, anscheinend auf Grund einer früheren »Mitarbeit«, doch schaute er geradeaus und antwortete auf die Verbeugungen nicht. Georg und ich drängten uns durch und ließen uns auf einem Fensterbrett nieder.

»Los, los, sammelt euch schneller und nehmt Platz …«

Aber es war nichts da zum Platznehmen. Der Haufe floß zurück und kam mit Schemeln, Holzklötzen und Brettern wieder. Nach einigen Minuten hatte sich alles gesetzt. Jakimenko begann seine Rede.

Ich habe viele Sowjetreden gehört. Doch eine derart grobe, niederträchtige, sowohl dem Sinne als auch dem Ton nach, habe ich noch nie gehört. Jakimenko redete seine Horde weder mit »Genossen«, nicht mal mit »Bürger« an. Die Rede war fast inhaltlos: Der Apparat sei verludert, so dürfe man nicht arbeiten. Man brauche Sturmtempo. Niemand solle denken, daß es jemandem gelänge, aus der RVA fortzugehen irgendwo anders hin. (Das war eine Anspielung auf die Professoren, auf mich und Georg.) Aus der RVA heraus komme man entweder in die Freiheit oder ins Grab …

Ich dachte unwillkürlich daran, daß ich eigentlich das gleiche vorhabe: in die Freiheit oder ins Grab! Aber Entschuldigung, ich meine die richtige Freiheit … obwohl augenblicklich die Sache allem Anschein nach viel näher zum Grab stand …

Die Rede war beendet. Will sich jemand äußern? Der Haufe schwieg.

Bogojawlenski begann zu sprechen. Er sagte all das, was auch Jakimenko sagte – nicht mehr und nicht weniger. Nur der Ton war weniger gebieterisch, die Rede weniger literarisch, und die nichtliterarischen Ausdrücke waren weniger stark. Wiederum Schweigen. Jakimenko mißt mit einem verächtlich-forschenden Blick die erdfahlen Gesichter des Haufens, streift gleichgültig die Intelligenz – Georg, die Professoren und mich – und sagt drohend: »Nu?«

Starodubzeff räuspert sich: »Wir natürlich erkennen unsere proletarische Pflicht, um sozusagen unsere Verbrechen vor dem proletarischen Vaterlande wiedergutzumachen; wir müssen sozusagen mit Sturmtempo … Weil ein gewisser Teil von Mitarbeitern tatsächlich arbeitet in einer klapprigen Art und wiederum kein revolutionäres Bewußtsein hat, was aber bei unserer Sturmabteilung bedeutet, daß die Partei uns einen verantwortungsvollen Abschnitt des großen sozialistischen Aufbaues anvertraut hat, so müssen wir, ohne unsere Kräfte zu schonen, zum Nutzen des Weltproletariats mit Sturmtempo in der Art einer Kampfaufgabe arbeiten.«

Wie ein unsinniger Reigen von sinnlosen Phrasen tanzen die verhaspelten Sätze vorbei – gestanzte Phrasen eines beliebigen sowjetistischen »Gemeinschaftlers«: im Säulensaal zu Moskau wie im verrauchten Verschlag des Kollektivdorfsowjets als auch zwischen den Werkbänken einer Werksversammlung werden sie gedroschen. Aber was ist das? In achtzehn Jahren hat man nicht gelernt, so zu sprechen, daß, wenn nicht ein sinngemäßes, dann wenigstens ein etymologisches Subjekt zum Vorschein kommt? Oder ist es vielleicht Schutzfärbung? Nicht auftreten darf man nicht, sonst ist man ein »Antigemeinschaftler«. Und wie darf man auftreten? … Man drischt eine Viertelstunde lang leeres Stroh. Ein derart leeres Stroh, damit man ihn nicht festnageln kann. Eine völlige Sinnlosigkeit, aber keine »Abweichung«.

Endlich hält Starodubzeff die Klappe.

»Sind Sie fertig?«

»Jawohl!«

Wiederum mißt Jakimenko den Haufen mit einem hypnotisierenden Blick.

»Nu? … Wer noch? … Nicht mal was sagen könnt ihr?«

Nasedkin räusperte sich.

»Gestatten Sie, ich habe einen konkreten Vorschlag. Betrifft den Abschluß eines sozialistischen Wettbewerbes mit der RVA des Wasserwerkes »Rote Fahne«. Wenn Sie gestatten, lese ich vor …«

»Lesen Sie vor«, gestattete Jakimenko mit verächtlicher Wiederholung.

Nasedkin liest vor. Mein Gott, was das für eine Chalture ist! … Was für eine dürftige, provinzielle, zwei Fünfjahrespläne rückständige Chalture! Wenn ich bloß könnte …

Nasedkin ist am Ende. Wiederum das befehlende »Nu?«, wiederum Schweigen. Ich entschließe mich:

»Gestatten Sie, Bürger Chef?«

Ein gestattendes »Nu« … Ich spreche, aus dem Fensterbrett sitzend, ohne meine Stellung zu ändern und fast ohne den Kopf zu heben. Man kann sich den Sowjetvorgesetzten gegenüber korrekt verhalten oder auch nicht korrekt; aber ehrerbietig soll man niemals sein. Sogar hinter einer äußeren Korrektheit sollst du immer zeigen: Eigentlich spucke ich auf dich und werde auch ohne dich fertig. Dann denken die Vorgesetzten, daß ich tatsächlich allein fertig werde und daß ich infolgedessen irgendwo irgendein Steinchen im Brett ohne sie habe … Und die Steinchen können ganz verschieden sein. Darunter auch sehr hochgestellte … Ein sowjetistischer Vorgesetzter hat aber vor jedem Steinchen Angst …

»… Ich, ein neuer Mensch im Lager – erst zwei Wochen hier – wage es selbstverständlich nicht, mit entscheidenden Vorschlägen aufzutreten … Andererseits aber bin ich soeben aus der Freiheit gekommen und kenne genau jene neuen Formen der sozialistischen Organisation der Arbeit (Gott vergebe mir!), die von Millionen der Stürmer nachgewiesen wurden, und deren Resultate wir aus dem Dneprostroj, aus dem Magnitostroj und aus tausenden unserer proletarischen Neubauten (und an hunderttausenden Umgekommener! …) sehen. Deshalb, unter Annahme des interessanten (und ob!) Vorschlages des Genossen Nasedkin als Grundlage halte ich es für angebracht, diesen Vorschlag zu detaillieren.«

Ich hebe den Kopf und begegne den Augen Starodubzeffs. Darin lese ich:

»Fasele nur weiter … Es ist dir ohnehin nicht lange Zeit zum Faseln mehr geblieben …« Ich richtete meinen Blick auf Jakimenko. Jakimenko antwortet mit einem antreibenden »Nu« …

Und nun lege ich los: Verfeinerung der Vertragspunkte, Termine festlegen nach dem Kalender … Koeffizient der Erfüllung, Kontrolltroykas (Tribunal) … Bugsieren oder Ins-Schlepptau-Nehmen der Nachzügler, sozialistischer Zusammenschluß der Lagergemeinschaft, Vorschub der besten Stürmer …

Ich fürchte, der Leser wird von diesem Kauderwelsch nichts verstehen. Habe auch Gründe, zu vermuten, daß hieraus überhaupt niemand klug wird. Auf den verschlungenen Wegen der Generallinie und der Fünfjahrespläne hat all das den Sinn und den Charakter von Zauberformeln eines Hexenmeisters oder dem Geheul eines Jakutenschamanen. Man muß auf die Emotionen einwirken. Ich glaube, das wirkt immer. Nach einer halben Stunde solcher Zauberformeln verspüre ich selbst Lust, jemandem an die Gurgel zu springen …

Ich hebe wieder den Kopf und sehe flüchtig Jakimenko an … Auf seinem Gesicht lese ich Spott. Ziemlich demonstrativ, aber auch nicht bar einer gewissen Interessiertheit …

»Aber außer dem Apparat der RVA selbst«, setze ich fort, »ist noch der Unterapparat da – Kolonnen, Unterlager, Baracken. Dieser Unterapparat, entschuldigen Sie den Ausdruck, ist nicht einmal zum Sch… zu gebrauchen (wenn Jakimenko sich nicht genügend literarisch ausdrückte, dann hatte ich im vorliegenden Fall keine Veranlassung, überflüssige Prüderie zu bewahren). – Neue Menschen sind nicht immer des Lesens und Schreibens kundig und absolut nicht im Bilde über die elementarsten technischen Belange der Registrations-Verteilungsarbeiten … Deshalb müssen wir – der Apparat der RVA – in erster Linie uns ihrer annehmen … Jedes Unterlager muß eine bestimmte Gruppe von Sachbearbeitern bekommen … Jeder Sachbearbeiter muß die entsprechenden Mitarbeiter des Unterapparates mit der Technik der Arbeit vertraut machen … Genosse Starodubzeff als der älteste und erfahrenste unter den Mitarbeitern der RVA wird selbstverständlich (in den Augen Starodubzeffs blitzt etwas Unflätiges auf) dazu bereit sein … Jeder von uns muß noch einige Stunden mehr leisten (mein Gott, was für ein Quatsch – sowieso arbeiten wir an achtzehn Stunden täglich). Man muß auf der Schreibmaschine oder auf dem Hektographenapparat wenigstens die einfachsten Instruktionen vervielfältigen …«

Ich fühle, daß ich nach wenigen »Details« und »Konkretisationen« einen kompletten Unsinn weiterreden werde, und halte an …

»Sind Sie zu Ende, Genosse …?«

»Solonewitsch«, sagt Bogojawlenski eiligst vor.

»Sind Sie zu Ende, Genosse Solonewitsch?«

»Ja, Bürger Chef …«

»Na, alsdann … das ist mehr oder weniger konkret … Ich schlage vor, eine Kommission zur Ausarbeitung zu wählen, bestehend aus: Solonewitsch, Nasedkin. Na, wer noch? Na ja. Sie, Genosse Starodubzeff. Frist – zwei Tage! Machen wir Schluß! Es ist bereits vier Uhr morgens.«

Die Wahlen à la soviet sind vorbei. Wir treten auf den Hof hinaus und stampfen durch die mageren Schneehaufen. Der Kopf schwindelt, und die Beine versagen. Ich verspüre einen starken Hunger: aber es gibt gar nichts zu essen. Doch irgendwo hinter all diesem das Bewußtsein, daß eine Stellung erobert ist, noch nicht klar, wie und welche; aber immerhin eine Stellung im Kampf ums Leben, im Kampf gegen den Aktiv der dritten Abteilung und die »Wand«.

 

Der »Herr« in weißen Handschuhen …

Am anderen Tag schaute Starodubzeff ganz verbissen drein. Sogar das Bewußtsein dessen, daß irgendwo im Dschungel der dritten Abteilung seine Denunziation »bearbeitet wird«, brachte ihm offensichtlich keine volle moralische Genugtuung.

Mein »Arbeitskabinett«. In der Ecke des Zimmers steht ein Schemel. Ich sitze auf dem Fußboden, auf einem Holzscheit. Über mir auf den Regalen, ringsherum auf dem Fußboden und vor mir auf dem Schemel liegen alle meine »Sachen«; jetzt sind es schon zwanzig Zentner – zwanzig Zentner buntes Papier – mit fünfundvierzigtausend Menschenschicksalen darin.

Starodubzeff geht an meinem »Tisch« vorbei, stößt mit einer demonstrativen Unachtsamkeit den Schemel mit dem Fuß an, und meine Sachen flattern zu Boden. Ich erhebe mich mit der endgültig formierten Absicht, die Visage Starodubzeffs zu verwüsten. An diesem christlichen Vorhaben hindert mich die Stimme Jakimenkos:

»Da ist er ja! …«

Ich drehe mich um.

»Hören Sie mal, wo haben Sie denn in drei Deubels Namen gesteckt? Ich suche Sie in allen Löchern der RVA … Als ob Sie tatsächlich eine Miniatur wären … Und nun stecken Sie hier. Was ist das – arbeiten Sie auch hier?«

»Ja«, ironisiere ich trübe, »das ist die Justitiar- und Wirtschaftsplanungsabteilung.«

»Hier zu arbeiten ist doch unmöglich! Konnten Sie sich nicht wenigstens einen Tisch herstellen?«

»Es ist keiner mehr da, nur Holzscheite.«

» Tarde venientibus – Holzscheite«, ironisiert geckenhaft Jakimenko. »Kommt aber vor, daß tarde venientibus – mit Holzscheiten …«

Indessen hat Jakimenko mit verständnisvollem Blick die ganze Szene überschaut: den umgekippten Schemel, die auseinandergeflogenen Papiere, mich, Starodubzeff und unser beider Haltung und Gesichtsausdruck.

»Eine Unmöglichkeit ist das. Sagen Sie Bogojawlenski, daß ich befohlen habe. Ihnen einen anständigen Arbeitsplatz, einen Stuhl und einen Tisch zu beschaffen. Einstweilen kommen Sie jetzt mit zu mir, ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen.«

»Sofort, ich möchte nur vorher die Papiere vom Fußboden aufheben.«

»Lassen Sie man, Starodubzeff wird sie auflesen. Starodubzeff, nun mal ran!«

Mit vor Wut entstelltem Gesicht beginnt Starodubzeff die Papiere aufzuheben … Jakimenko und ich verlassen die RVA.

»Ein verrücktes Wetter«, sagt er in einem Ton, der eine teilnehmende Entgegnung meinerseits voraussetzt. Ich mache sie ihm. Die Unterhaltung beginnt so, wie es der gute Anstand verlangt: das Wetter, womöglich fängt er noch an, vom Theater zu sprechen …

»Ihren Namen habe ich schon gehört. Sind das Ihre Bücher – über Touristik?«

»Ja.«

»Das ist sehr angenehm, wir sind sozusagen Berufsgenossen. In diesem Jahr habe ich vor, durch Swanetien Im Kaukasus. zu wandern.«

»Sehr schöne Gegend …«

»Wie wanderten Sie? Vom Norden her? Über Donguz-Orun?«

… War das nicht »Mirabeau« und seine schwarzen Tulpen? …

So gehen wir dahin und erzählen uns von den Schönheiten der Wanderwege des »freien« Swanetiens. Uns kommt der Chef der dritten Abteilung entgegen. Ehrerbietig legt er die Hand an die Mütze. Jakimenko hält ihn an:

»Lassen Sie, bitte, mein Auto um sechs Uhr vorfahren … Kennen Sie sich schon?«

Der Chef der dritten Abteilung wird verlegen …

»Nein? Dann gestatten Sie, Sie bekannt zu machen … das ist unser bekannter Reiseschriftsteller und Organisator der Touristik, Genosse Solonewitsch … wird uns demnächst, hoffe ich, Vorlesungen über Touristik halten. Und das …«

»Ich habe bereits das Vergnügen, den Genossen Petroff zu kennen«, antworte ich.

Genosse Petroff legt die Hand an die Mütze, klirrt mit den Sporen und reicht mir die Hand. In dieser Hand befindet sich bereits die Denunziation Starodubzeffs, diese Hand hat vor, in absehbarer Zeit mich an die Wand zu stellen, trotzdem drücke ich sie …

»Man muß eine Versammlung unserer Mitarbeiter anberaumen … selbstverständlich der freien Angestellten … Genosse Solonewitsch wird uns einen Vortrag über Wanderungen im Kaukasus halten …«

Der Chef der dritten Abteilung schlägt wiederum die Hacken zusammen:

»Wird ein Vergnügen sein. Sie zu hören …«

Diese ganze Komödie betrachte ich mit etwas verworrenen Gefühlen …

*

Wir betreten die Behausung Jakimenkos. Ein großes, sauberes Zimmer. Jakimenko legt den Mantel ab.

»Gestatten Sie, bitte, Genosse Solonewitsch, daß ich mir die Stiefel ausziehe und mich etwas hinlege.«

»Aber ich bitte sehr«, stotterte ich …

»Zwei Nächte hintereinander habe ich nicht geschlafen. Ein Zuchthausleben …«

Dann, als ob er sich besonnen hätte, daß es nicht schicklich sei, in meiner Anwesenheit von Zuchthausleben zu sprechen, verbessert er sich sofort:

»Ich meine, ein Zuchthausleben muß unsere heutige Generation ertragen …«

Ich antworte mit einem undefinierbaren »Hm« …

»Nun, Genosse Solonewitsch, Touristik hin, Touristik her, man darf aber die Arbeit nicht vergessen …«

Ich spitze die Ohren …

»Sagen Sie mir offen, wofür sitzen Sie eigentlich?«

Ich erkläre es ihm kurz: meine Arbeit als Dolmetscher, meine Verbindung mit Ausländern, meine oppositionellen Unterredungen …

»Und Ihr Sohn?«

»Formell für das gleiche, in Wirklichkeit – zur Gesellschaft …«

»Tja. Es ist schon besser, um die Ausländer einen Bogen zu machen. Na, nitschewo, noch kein Grund, den Kopf besonders tief hängen zu lassen. Im Lager ist es für einen kultivierten Menschen, besonders wenn er nicht auf den Kopf gefallen ist, gar nicht so übel.« – Jakimenko lächelt etwas zynisch. »Besonders schön ist das Leben in der Freiheit auch nicht … Freilich ist es am Anfang schwer … Der Mensch gewöhnt sich aber an alles … Und selbstredend werden Sie doch nicht alle acht Jahre absitzen müssen.«

Ich bedanke mich bei Jakimenko auch für diese Vertröstung.

»Nun aber zur Sache. Sagen Sie mir offen, was für eine Meinung haben Sie von dem Apparat der RVA?«

»Ich habe keine Veranlassung, meine diesbezügliche, auch Ihnen wohlverständliche Meinung zu verbergen.«

»Ja, fürwahr; aber was soll man machen? Ein anderer Apparat steht uns nicht zur Verfügung. Ich hoffe, daß Sie mir helfen, den bereits vorhandenen in Gang zu bringen … Gestern haben Sie von den Instruktionen für die unteren Mitarbeiter gesprochen. Eigentlich habe ich Sie gerade deswegen bemüht … Wir machen also folgendes: ich erzähle Ihnen, worin die Arbeit der einzelnen Teile dieses Apparates besteht, und Sie entwerfen dann entsprechende Instruktionen, aber kurz und klar, damit es in die härtesten Schädel hineingeht. Soweit ich mich entsinne, verstehen Sie etwas vom Schreiben.«

Ich nicke bescheiden mit dem Kopfe.

»Sehen Sie, Genosse Jakimenko, ich befürchte, daß man auf meine Unterstützung nicht viel rechnen kann. Man hat hier einen Klatsch losgelassen, daß ich ein paar Dutzend Personalakten gestohlen und verbrannt hätte, und ich erwarte …«

Ich sehe Jakimenko an und fühle, wie bei mir innerlich ein Zittern aufkommt.

Das Gesicht Jakimenkos verzieht sich zu derselben verächtlichen Grimasse wie gestern:

»Ach das? Spucken Sie drauf! …«

Gedanken und Empfindungen wirbeln bei mir durcheinander. Gestern war es noch völlig aussichtslos. Heute – »spucken Sie drauf« … Jakimenko lügt nicht, schon deshalb nicht, weil er dazu gar keine Veranlassung hat. Sollte »Spiegel« wirklich wieder da sein? Die Zigarette in meinen Fingern zittert. Ich stecke die Hand unter den Tisch …

»Unter gegebenen Umständen ist es nicht so einfach, darauf zu spucken. Ich bin hier ein Neuling …«

»Ach, Quatsch! Ich werde diese Denunziation … Ich kenne die Sache. Ein blöder Mist ist das. Die Sache ist einfach die, daß Starodubzeff alle Termine verpaßt hat, sich weder ein- noch auskannte und dann alles in den Ofen warf. Ich kenne ihn … Quatsch … Ich werde befehlen, die Sache zu liquidieren …«

In meinem Kopf wird es ruhig und leer. Nicht mal eine besondere Erleichterung verspüre ich, eher eine Art von Bestürzung …

»Gestatten Sie, bitte, Genosse Jakimenko, zu fragen, warum Sie an diesen Quatsch nicht geglaubt haben?«

»Na, wissen Sie … Ich kenne doch die Menschen … Daß ein Mensch Ihrer Art und, nebenbei bemerkt, Ihrer Paragraphen« – Jakimenko lächelt – »versuchen würde, die Rache an irgendeinem unglücklichen Starodubzeff zu erkaufen mit dem Preis … wieviel wird es sein? Es waren etwa siebzig Aktenstücke. Ja? Na, also summa summarum noch hundert Jahre … Sie werden doch selbst zugeben müssen, daß es Ihnen nicht ähnlich sähe …«

»Ich bedaure sehr, daß nicht Sie meine Sache bei der GPU zu bearbeiten hatten.«

»Die GPU ist etwas anderes. Wünschen Sie Tee?«

Man bringt den Tee mit Zitrone, Zucker und Gebäck. In dem Auf und Ab des Sowjetlebens, wo Ab den Tod bedeutet und Auf – etwas Warme, ein Stück Brot und ein paar Minuten des Gefühls der Sicherheit – fühle ich mich jetzt auf einem etwas phantastischen Auf.

Wie im Nebel kehre ich zur RVA zurück. Auf der Straße dunkelt es bereits. Ein greller, fast hysterischer Zuruf Georgs:

»Wa? Du?«

Ich drehe mich um. Mir entgegen laufen Boris und Georg. Aus ihren Gesichtern sehe ich, daß sich etwas ereignet hat. Etwas sehr Beunruhigendes.

»Hat man dich losgelassen, Wa?«

»Wieso losgelassen?«

»Warst du nicht verhaftet?«

»Ich hatte es nicht vor«, ironisiere ich nicht ganz geschickt.

»Oh, diese Lumpen«, sagt Georg mit großer Wut, zugleich aber mit einer mir noch unverständlichen Erleichterung in der Stimme. »Diese Lumpen!«

»Warte mal, Schorschi«, sagt Boris. »Er lebt und ist nicht bei der dritten Abteilung, Gott sei gelobt. Bei der RVA erzählten Starodubzeff und die übrigen, daß du von Jakimenko selbst verhaftet und unter Anführung des Chefs der dritten Abteilung abpatrouilliert wurdest.«

»Hat das Starodubzeff erzählt?«

»Ja.«

In mir steigt der dringende Wunsch auf, Starodubzeff zu umarmen und ihn so zu drücken, daß er in Arm und Brust fühlte, wie seine Wirbelsäule langsam knackt und bricht … Was mußten Boris und Georg in den Stunden erlebt haben, wo ich bei Jakimenko saß, Tee trank und schöne Gespräche führte?

Doch stößt mir Georg bereits seine Faust freundschaftlich in den Leib, und ebenso freundschaftlich umarmt mich Boris mit seiner schweren Tatze. In den Augen Georgs stehen Tränen. In der Abenddämmerung küssen wir uns ganz feierlich, und es bemächtigt sich meiner ein Gefühl der Zärtlichkeit und Zuversicht … Hier vor mir stehen zwei mir so nahverwandte und teure Menschen auf diesem so ungemütlich eingerichteten Erdball. Sollen wir denn bei unserem engen Zusammengehörigkeitsgefühl und bei dem absoluten Wahlspruch: »Einer für alle, alle für einen«, umkommen? Nein, das kann nicht sein … Nein, wir kommen nicht um.

Wir drücken und knuffen einander und sprechen verschiedene liebe, zärtliche und für ein fremdes Ohr völlig sinnlose Worte, unsere Familienworte … Als ob die Tatsache, daß ich nicht verhaftet bin, irgend etwas für den morgigen Tag vorausbestimmen könnte – denn weder Boris noch Georg wissen von der drastischen Aufforderung Jakimenkos: »Spucken Sie drauf« … Allerdings heißt es hier in der Tat: carpe diem; wir leben heute – und Gott sei Dank.

Ich mache mich aus dem Schraubstock Boris' und der Umarmung Georgs feierlich frei und verkünde ebenso feierlich:

»Und nun, sehr verehrte Herren, die letzte Nachricht von der Siegesfront – der ›Spiegel‹ war da.«

»Ist es wahr, Wa? Ehrenwort?«

»Du, in der Tat, du sollst uns nicht umsonst auf die Folter spannen«, sagt Boris.

»Ich meine es ganz ernst.« Und ich erzähle ausführlich meine Unterredung mit Jakimenko.

Wieder bin ich in doppeltem Schraubstock; dann sagt Georg im Tone einer unerschütterlichen Unfehlbarkeit:

»Siehst du, ich habe es geahnt. Wenn es ganz dreckig geht, dann muß doch irgendein ›Spiegel‹ erscheinen, sonst wäre es –«

Leider haben viele andere keinen »Spiegel«.

*

Die Unterhaltung mit Jakimenko, wie aus dem Buche »Tausend und eine Nacht« abgeschrieben, hat mit einem Male alles »liquidiert«: die Denunziation, die dritte Abteilung und die Aussichten auf die »Wand« oder eine Flucht in den sicheren Tod, die aktivistischen Anfechtereien und den größten Teil der Arbeit in dem Tohuwabohu der RVA.

Statt mich in den Machorkaschwaden der RVA räuchern zu lassen, saß ich nun an den Abenden im Zimmer Jakimenkos, trank Tee, aß Gebäck dazu und hörte mir Vorlesungen über das Lagerleben an. Der theoretische Teil dieser Vorlesungen unterschied sich eigentlich gar nicht von dem, was mir im Viehwagen der Urki-Bandenführer Michajloff erzählte. Auf Grund dieser Vorlesungen schrieb ich dann die Instruktionen. Jakimenko hatte vor, sie für das ganze BBK einzuführen und sie sogar der GULAG zur einheitlichen allgemeinen Einführung zu empfehlen. Wie ich später erfahren habe, hat er es auch getan. Selbstverständlich hat er das Projekt als Verfasser unterschrieben.

Das bescheidene Kapital seiner Korrektheit und seines Teegebäcks hat Jakimenko nicht umsonst verausgabt.


 << zurück weiter >>