August Sperl
Hans Georg Portner
August Sperl

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Flucht.

Es war eine warme Nacht. Die Fenster in des Zantners Museum standen offen. Die Sterne flimmerten über der ruhenden Erde, und die Heimchen zirpten an allen Ecken und Enden.

Der Zantner stand vor seinem Pulte, stützte die Arme auf die Pultplatte und sah vor sich hin. Das Licht eines Wachsstockes flackerte im Luftzuge und malte tiefe Schatten auf sein runzeliges Gesicht. An der Thüre lehnte Ruth.

»Es wird nichts andres übrig bleiben, mein Kind.«

»Ich gehe nicht mehr nach Amberg, Herr Vater.«

»Es ist Regimentsbefehl, Ruth.«

»Und was kann mir geschehen, wenn ich ihm nicht gehorche, Herr Vater?«

»Dann lassen sie dich durch den Einspännig vorführen, Ruth.«

Das Mädchen schwieg, und die Heimchen zirpten.

»Gieb ihn auf, den Hansjörg!« sagte der Zantner plötzlich und kam langsam heran.

»Niemals, Herr Vater.«

»Du gehst uns allen ab, mein liebes Kind; es ist sehr einsam ohne dich auf dem Zant.«

Der alte Mann legte die Hand auf ihre Schulter.

269 Sie faltete die Hände unter der Brust, ihre Lippen bebten, ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie starrte auf das geliebte Antlitz, sie stöhnte: »Ich kann nicht, Herr Vater.«

»Ruth, liebe Ruth, was kannst du gegen die Gewalt? Komm Ruth, lache dieser Thoren, beuge dich und mache dich frei!«

»Frei, Herr Vater? Und seid Ihr denn – frei?« kam es zögernd und angstvoll von ihren Lippen.

Da nahm der Zantner sein Kind an der Hand und führte es zum Fenster: »Siehst du den glänzenden Stern da droben, meine Ruth?«

»Ja, Herr Vater.«

»Denkst du noch daran, mein Kind, wie oft wir miteinander zu den Sternen gesehen haben in stillen Nächten?«

»Ja, Herr Vater.«

»Und glaubst du, mein Kind, daß wir allein heute nacht emporblicken zu diesem strahlenden Sterne?«

»Es mögen hier und dort Menschen in den Ländern hinaufsehen zu ihm, Herr Vater.«

»Und sie alle werden ihn auf dem gleichen Punkte sehen, Ruth?«

»Dem einen scheint er höher, dem andern tiefer zu stehen, Herr Vater, je nach dem Grade.«

»Scheint, mein Kind – nicht?«

»Scheint, Herr Vater.«

»Und auf alle, Ruth, flimmert sein Licht ja doch hernieder aus der gleichen, unfaßbaren Ferne?«

»Ich weiß nicht, was Ihr wollt, Herr Vater.«

»Und unveränderlich in seinem Wesen funkelt es herab, mein Kind, ob nun hier ein Mensch zu ihm hinaufsieht aus hellen Augen oder dort einer aus blöden Augen – nicht?«

270 »Ja, Herr Vater. Doch mir wird angst, und ich fürchte mich.«

»Fürchten, Kind? Ich will dir hinüberhelfen über deine Furcht, meine Ruth!« flüsterte der Zantner. »Glaubst du, die ewige Gottheit, die diesen armen Stern geschaffen hat, verändere sich, wenn die blöden Menschen sagen: hierher stelle dich zum Gebete oder hierher oder hierher?«

»Die Gottheit nicht, aber doch wir, Herr Vater,« stammelte Ruth und trat zurück. »Herr Vater, so wollt Ihr auch, daß ich von meinem Glauben abtrete?«

»Ich will dir das Wesen der Gottheit und den Unverstand der Menschen künden, meine Ruth.«

»Und was soll ich in meiner Schwachheit viel über solche Religionssachen disputieren, Red' und Antwort geben und solche Hoheiten Gottes ergründen können, Herr Vater?«

»Du sollst frei werden, mein Kind.«

»Frei, Herr Vater?«

»Du sollst das Wesen der Gottheit ahnen, die hoch über unserm Erdenleide wohnt in ungezählten Sternenfernen.«

»Ihr irrt, Herr Vater,« antwortete Ruth mit bebendem Munde. »Mein Gott und Heiland ist mir so nahe, daß ich's gar nicht sagen kann. Das von den ungezählten Sternenfernen verstehe ich nicht. Und was hülfe mir auch ein Gott, der so weit von mir wohnte?«

»So wirst du niemals frei werden.«

»Aber ich will ja nicht frei werden, Herr Vater!« schrie sie mit thränenerstickter Stimme. »Ach, in allem beuge ich mich vor Euch. Aber das, was Ihr mir sagen wollt, Herr Vater, das dürfte wohl eher zu meiner Verzweiflung als zu meiner Befreiung führen.«

271 »Ich will dich beten lehren aus freiem Herzen, Ruth.«

»Beten, Herr Vater?« Sie hielt inne und sah den kleinen, grauen Mann flehend an. »Ach, Ihr habt ja auch in guten Zeiten niemals gebetet mit uns, Herr Vater!«


Der Landsasse war allein inmitten seiner Bücher und schritt rastlos auf und nieder, bis die Sterne verblichen und das Frührot erglühte.

*

Etliche Tage waren vergangen.

Die Sonne stand hoch am Himmel, und auf den Feldern unter dem Zant schnitten sie das Korn.

»Ahnfrau, Katechismus abhören!« sagte der zwölfjährige Zantner auf der Schwelle des Stübleins.

»Ei der Tausend, bist du über Nacht ein Bauernbub geworden?« fragte die Greisin.

»Ahnfrau, bitte schön, wollet mir den Katechismus abhören!« sagte der Knabe verlegen und schloß die Thüre hinter sich.

»So ist's recht, junger Edelmann!« lächelte sie und nahm das Buch. Der Knabe rückte einen Schemel herbei und setzte sich zu Füßen der Greisin.

»Was verbietet das erste Gebot?« fragte diese, hielt das Buch weit ab von den Augen und studierte die Zeilen.

Der Knabe faltete die Hände: »Es verbietet und verdammet Abgötterei, Zauber und Wahrsagekunst, Aberglauben und allerlei Gottlosigkeit.«

»Und was fordert es?«

»Hingegen fordert es, daß wir an einen einigen Gott glauben, ihn verehren und anrufen.«

272 »Noch mehr, Hans?«

»Das auf der nächsten Seite auch noch, Ahnfrau.«

Die Greisin wandte das Blatt und las: »Darf man wohl die Heiligen verehren und anrufen?«

»Ja freilich,« begann der Knabe.

»Nicht wahr ist's,« unterbrach ihn die alte Frau ärgerlich.

»Ja freilich,« wiederholte der Knabe; »nicht zwar auf eben jene Weise wie Gott, sondern in einem weit geringeren Maße, nämlich als liebste Freunde Gottes und unsre Fürbitter bei ihm.«

»Nicht wahr ist's,« murrte die alte Frau.

»Aber, Ahne, verzeiht, hier ist's doch ganz deutlich gedruckt!« Und er stand auf, der Großmutter die Stelle zu zeigen.

»Nicht wahr ist's,« murrte die alte Frau zum drittenmal.

»Und der Herr Dechant hat's uns doch auch ganz genau erklärt, Ahnfrau –?«

Da ging ein listiges Lächeln über das runzelige Gesicht; sie klappte das Buch zu, streichelte den blonden Enkelsohn und drückte ihn sachte auf den Schemel. Dann beugte sie sich vor und flüsterte ihm geheimnisvoll ins Ohr: »Hab' ich dich schon einmal angelogen, Hans?«

Der Knabe schüttelte heftig das Haupt.

»Nun hör auf mich!« flüsterte die Greisin, und ihre Augen funkelten. »Das ist jetzt eine böse, geschwinde Zeit, und wenn der Dechant die Heiligen unsre Fürbitter nennt, und wenn's auch in solchen Büchern gedruckt ist, so schweig du nur fein stille und denke dir, das gilt fürs Volk, fürs unvernünftige. Und wenn du's etwa selber aufsagen mußt, sag's ruhig auf und denke dir dabei, das gilt fürs Volk, 273 fürs unvernünftige; mein, des Hans von und auf Zant Fürbitter ist der Herr Christus allein, und ich, der Hans von und auf Zant, brauche die Heiligen samt und sonders nicht.«

»Ich, der Haus von und auf Zant brauche die Heiligen samt und sonders nicht,« murmelte der Knabe.

»Die sind nur fürs unvernünftige Volk,« wiederholte die Greisin mit Nachdruck.

»Die sind nur fürs unvernünftige Volk, ich aber bin ein Edelmann,« sagte der Knabe.

»Wir brauchen sie nicht. Aber schnaufen darf man nicht von solcher Wissenschaft in dieser bösen, geschwinden Zeit,« warnte die Greisin.

»Wir Zantner brauchen die Heiligen nicht, aber wir dürfen nicht schnaufen davon,« sagte der Knabe mit großer Wichtigkeit.

»Hast du mir sonst noch etwas aufzusagen, Hans?«

»Nein, Ahnfrau.«

»Dann geh – und merke dir's, nicht schnaufen von deinem Geheimnis!«

»Nicht schnaufen, Ahnfrau!« –

»Verzeih mir's Gott, aber ich – ich kann mir nicht anders helfen,« flüsterte Frau Barbara von Breuning, als ihr Enkelkind hocherhobenen Hauptes mit seinem Geheimnis aus der Thüre ging.


»Du, Ruth?«

»Ich, Ahnfrau.«

»Und was willst du denn?«

»Ich – ich gehe nach Ursensollen, Ahnfrau.«

Die alte Frau sah scharf herüber. »Und was ist daran Besonderes?«

274 »Ich – ich möchte von Euch Abschied nehmen, Ahnfrau.«

»Abschied nehmen? Seit wann ist's denn Brauch, daß man vor einem Nachmittagsbesuche Abschied nimmt voneinander?«

Ruth sank vor der Ahnfrau in die Kniee und küßte die schmalen, mageren Hände: »Ich kann nicht anders.«

»Da hör' ich nu rein gar nichts,« murmelte diese und kämpfte mit dem Weinen und schnitt ein grimmiges Gesicht. »Ist's wohl schön Wetter draußen, was?«

»Ein strahlend schöner Tag,« sagte Ruth.

»Könnt' schöner sein, hast recht, Kind. 's ist nimmermehr schön, hier ist's nicht schön, und ich denk' mir, wenn jemand anderswohin geht, ist's auch nicht schön. 's ist nirgend auf der Erde mehr schön. Also wird's gleich sein, wo einer bleibt.«

»Der Herr Vater ist auf der Birsch, und der armen Frau Mutter kann ich nichts sagen,« flüsterte Ruth.

»Oft hör' ich und oft hör' ich nicht,« murmelte die Greisin.

»Der Herr Vater –,« wollte Ruth aufs neue beginnen.

»I, laß doch, Ruth, ist oft besser, man hat gar nichts gehört,« unterbrach sie Frau Barbara von Breuning. »Nach Ursensollen willst also? Ja, fürchtest dich denn nicht, so allein?«

»Drunten, abseits in Stocka wartet er mit den Pferden, Ahnfrau.«

»Einen Stab und Stecken nimmst mit? So, so.«

»Drunten in Stocka –,« begann Ruth verwundert.

»Einen guten Stab und Stecken, jawohl, mein Kind, im finsteren Thal,« sagte die alte Frau mit 275 Nachdruck. »Jetzt hab' ich auf einmal gar keine Angst mehr um dich. Ist merkwürdig, oft hör' ich und oft hör' ich nicht. Aber das mit dem Stab und Stecken, das weiß ich ganz gut – ganz gut.«

»Er mit seinen Pferden aus Happurg, Ahne!«

»Ganz gut weiß ich's, das vom Stab und Stecken, und ist mir auch gar nicht mehr Angst um dich. Aber freilich, Ruth, es könnt' ein schweres Wetter kommen über dich –!«

»Sieht nicht aus danach, Ahnfrau.«

»Freilich, Ruth, es könnt' ein Wetter kommen; gewiß, Ruth, es wird ein Wetter kommen, nicht eines nur, sondern viele Wetter. Hängt immer der Himmel voll von Wettern, Ruth, wenn wir's auch nicht sehen, in dieser bösen Zeit.«

Ruth barg das Haupt im Schoße der alten Frau. Diese aber legte die Hände auf ihren Scheitel und murmelte schluchzend unverständliche Worte.


»Laß mich aufstehen, Ruth! So –!«

Sie humpelte an ihre Truhe, hob den Deckel und sagte: »So dumm hat's mir neulich geträumt, es sei auf einmal einer durchs Fenster hereingestiegen, hab' mir den Kragen umgedreht und aus dem Kasten da drinnen eure Sparbüchsen gestohlen.«

Sie kramte in der Tiefe, schnaufte heftig und zog einen großen Topf heraus. »Da hab' ich mir nun beim Aufwachen vorgenommen: ›Die sieben Spartöpfe giebst du fortan dem Zantner zum Aufbewahren; wär' ja doch schade, wenn dir einer den Kragen umdrehte von wegen des Mammons.‹ Und wie's halt so geht mit guten Vorsätzen, von einem Tag zum andern hab' ich's dann wieder aufgeschoben.«

276 Sie humpelte auf ihre Enkelin zu.

»That immer so gerne einen Batzen hineinlegen in den Topf. Aber alles Ding hat seine Zeit, und so denk' ich mir, die Ruth ist nun alt genug und kann wohl auch den Schatz selber aufbewahren. Da, Ruth!« Und sie flüsterte: »Ich wollt', es wäre mehr. Aber dreißig Thaler können's leicht sein.«


»Na, Ruth, was hast du denn? Laß doch das Geflenne! Ist ja nicht der Rede wert, der Spaziergang nach Ursensollen. Geh nur und grüß mir auch die Erckenprechtshäuserin! Geh nur! Ich will dir auch nachsehen aus dem –« die Greisin wandte sich ab und vollendete mit gebrochener Stimme – »Fensterlein.«

*

Die Sonne neigte sich gegen die Hügel, und einsam kauerte die Ahnfrau in ihrem Stuhle und las.

Da kamen leichte Schrittlein die Wendeltreppe herauf, ein Füßlein stieß an die Thüre, ein Aermlein tastete sich empor, und ein Händlein drückte mit Anstrengung die Klinke herab. »Ahne, wo ist denn die Ruth?« fragte die Kleinste und blickte suchend im Stüblein umher.

»Komm, Gutlein!« lockte die Greisin. »Komm, die liebe Ruth ist vorhin dahinunter gegangen, hinein zwischen die Felder.«

»Kommt die Ruth bald?« fragte das Kind und rührte sich nicht vom Flecke.

»Geh zu mir her, Gutlein, Lieblein!« sagte die alte Frau, stand mühsam auf und schleppte sich an die Truhe.

»Ich will Ruth warten,« beharrte das Kind und wandte sich.

277 »Komm, Gutlein, da, da komm doch, ich will dir Zuckerstücklein geben, Lieblein, Gutlein!«

»Ich will Ruth warten,« sagte das Kind ernsthaft und ging hinaus.

»Komm, Gutlein!« lockte die Greisin.

Das Kind aber stapfte unbeirrt die Treppe hinunter, ging trippelnd über den Hof, stellte sich unter das offene Thor und spähte den Fahrweg entlang, hinab ins Thal.

*

Im Birschgewande kam der Zantner abends aus dem Walde auf den kahlen Berggrat, trat vor den Graben und pfiff. Langsam senkte sich die Brücke herüber.

An den Buckelquadern des Bergfrieds lehnte ein barfüßiger Bub': »Ein Kompliment vom Herrn Dechant, und wenn's dem gnädigen Herrn recht wär', so käm' er heut abend auf ein Stündlein geritten.«

Der Zantner machte ein finsteres Gesicht, sagte, es sei ihm recht, und schritt weiter.

Im inneren Hofe spielten etliche seiner Kinder mit den Kindern der Burgleute. Sein Siebenjähriger hatte ein weißes Hemd übergezogen, ein rotes Tuch an einem Stänglein befestigt und ordnete die Prozession.

»Ich will die Fahne tragen,« sagte der Bub' des Thorhüters.

»Nein, ich trage sie,« antwortete der Herrensohn.

»Du bist ja doch der Dechant, der trägt doch die Fahne nicht.«

»Ich bin der Dechant, und die Fahne trage ich auch,« entschied der Kleine.

Das Gesicht des Zantners ward noch finsterer, und rasch ging er in die offene Hausthüre, ehe ihn die Kinder gesehen hatten.

278 An der Küche blieb er stehen: »Ruth, dein alter Vater ist müde und hungrig, Ruth!«

Alles war stille. Da stieß er die Thüre auf – die Küche war leer, und auf dem Herde brannte kein Feuer.

»Ruth!«

Hinter der Stiege rührte sich etwas. Von einem Fasse erhob sich eine dunkle Gestalt.

»Na, was ist denn los? Alles wie ausgestorben!« sagte der Zantner. »Du bist's, Annelies?«

Die alte Magd kam hervor, ging mit schwankenden Schritten heran, schlug die Hände vors Gesicht und heulte laut auf.

»So sprich doch!« befahl der Zantner. »Ist denn mein Haus verhext?«

Die Kinder im Hofe hatten sich zum Zuge geordnet und hielten den Umgang und plärrten, wie man's sie gelehrt hatte. Die Stiege herunter aber kam das Weib des Zantners.

»Wilhelm – da!«

Mit zwei Sätzen stand der Zantner vor ihr und nahm den Zettel.

Ihre Augen waren mächtig groß, und sie wandte keinen Blick von seinem Antlitz.

Der Zantner las, und seine Hand zitterte heftig.

Fassungslos hob er die Augen zu seinem Weibe.

»Gieb mir Trost, Wilhelm!« sagte sie heiser, und ihr Gesicht war erdfahl, und ihre herabhängende Unterlippe zitterte, und ihre Augen wandten sich nicht von den seinigen.

Der Zantner biß die Zähne zusammen und stotterte etwas. Im Hofe, weit weg, plärrten die Kinder.

»Gieb mir Trost!« wiederholte das Weib.

»Komm!« bat er, umschlang ihre zarte Gestalt und 279 versuchte, sie mit sich ins obere Stockwerk zu ziehen. Aber sie stemmte sich mit den schwachen Armen gegen seine Brust und sagte zum drittenmal, heiser wie vorher und dumpf: »Gieb mir Trost!«

»Trost?« murmelte er, indes die Kinder nahe an die offene Thüre kamen und mit Plärren vorüberzogen, daß es in dem gewölbten Hausflur hallte und gellte. »Trost?« wiederholte der Zantner, löste die Arme von seinem Weibe und wankte die Stiege hinauf. –

Wie war's doch so friedlich in seinem Heiligtum: Da standen die hohen Gestelle an den Wänden, und Rücken an Rücken sahen seine guten Freunde hernieder, und die Abendsonne warf ihre goldenen Strahlen in die Stube.

Wie ein Träumender ging der Zantner ziellos auf und ab, nahm die Büchse von der Achsel und lehnte sie an das Pult, nahm den Rucksack vom Rücken und hing ihn an einen Fensterreiber, nahm die Büchse und legte sie auf den Tisch, nahm den Rucksack und warf ihn auf die Dielen. Dann zog er den zerknitterten Zettel aus der Tasche und glättete ihn am Fenster, daß sich die Bleifassung in einem scharfen Halbkreise abdrückte, und las und las.

Dann ging er wieder auf und ab; doch er war nicht allein in dem friedlichen Turmgemache. Neben ihm ging die hohe Gestalt seines Kindes, und es war ihm, als müsse er aufschauen und könne doch nicht aufschauen und den Kopf hochheben; und sein Kind war so groß, so groß, und in seinen Ohren klang und summte es: ›Ich beug' mich nicht und geh' auch nicht nach Amberg; denn was sollt' ich viel über solche hohe Religionssachen disputieren und solche Hoheiten Gottes ergründen können? Will deswegen 280 einst vor dem Richterstuhle Gottes, nachdem ich einfältig geglaubt habe, auch einfältig meiner Seelen Seligkeit halber Rechenschaft geben. Ich kann nicht anders, vergebt mir, Amen! Vergebt mir, es ist alles aus, ich komme nie mehr heim.‹

Der Zantner ging auf und ab, auf und ab und stöhnte leise vor sich hin, und rastlos begleitete ihn die hohe Gestalt seines Kindes, und er vermochte die Augen nicht zu heben bis hinauf zu dem friedlichen Antlitze. ›Ruth, Ruth!‹

Dann wankte er an sein Pult, legte den Zettel mitten auf die Platte und beschwerte ihn mit dem grünen Glasblocke. Dann tastete er an dem Büchergestelle herum – er, der sonst jedes Buch zu stockfinsterer Nachtzeit fand, er tastete und tastete.

»Seneca an Gallio über ein glückliches Leben« – er stieß das Büchlein zurück. »Seneca über die Gemütsruhe« – er stieß es zurück. »Platon, Euthyphron« – er stieß das Buch zurück und tastete und tastete, und endlich hatte er's gefunden.

›Gieb mir Trost, du Inbegriff von allen andern!‹ murmelten seine bebenden Lippen, und er schlug das Buch auf, das von selber auseinander fiel:

»Die Gesetze des Gewissens, die wir der Natur zuschreiben, entstehen aus der Gewohnheit.«

›Ganz recht, aber das giebt mir doch keinen Trost. Gieb mir Trost, Montaigne, Trost!‹

»Die gemeinen Vorstellungen, die in unsrer Umgebung Geltung haben, vom Vater überkommen, sie erscheinen uns als die allgemeinen und natürlichen: was sich nicht um die Gewohnheit dreht, steht für uns außerhalb der Vernunft; Gott weiß, wie unvernünftig das bisweilen ist.«

›Gieb mir Trost, Montaigne, Trost!‹ schrie der 281 Zantner und blätterte in dem Buche und las: »Ergreift mich eine kummervolle Vorstellung, so finde ich es kürzer, sie mit einer andern zu vertauschen, als geradewegs zu unterdrücken. Kann ich ihr keine entgegengesetzte unterschieben, so hilft es schon etwas, wenn es nur eine andre ist. Kann ich den Verlust nicht bekämpfen, so suche ich ihm zu entwischen, und in der Flucht wende ich alle List an, rette mich ins Gewoge andrer Zerstreuungen und Gedanken, wo er meine Spur verliert und mir nicht folgen kann.«

»Trost! Das ist doch kein Trost!«

Und er blätterte mit zitternden Fingern und las: »Nach innen aus dem Gedränge muß der Weise die Seele ziehen, um ihr die Unabhängigkeit und Kraft zu einer freien Beurteilung der Dinge zu verleihen.«

›Trost! Das ist ja doch kein Trost! Ich – ich – und immer ich – wie kann ich meine Seele aus dem Gedränge bringen? Ich kann mich nicht beim Schopfe packen und in die Höhe reißen.‹ – Dann schrie er: ›Und du sagst es ja selbst mit Lächeln – que sais-je?Que sais-je?‹ Und er warf das Buch in die Mitte der Stube, daß es offen liegen blieb. ›Montaigne, mir versagt dein Trost,‹ stöhnte er und raufte seine Haare. ›Que sais-je?‹ stöhnte er. ›Es hat mich vergiftet, dein Que sais-je? du lächelnder Philosoph.‹

Angstvoll glitten seine Blicke über die sauberen Einbände seiner alten Freunde: ›Gebt mir Trost!‹

Da sah er ein großes Buch und schloß die Augen und griff danach, wandte sich, warf's auf das Pult, daß der Glasblock polternd auf die Dielen sprang, schlug es auf mit geschlossenen Augen, drückte den Finger auf eine Stelle, öffnete gierig die Lider und 282 las: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!« Und abermals warf er die Blätter um: »Lasset euch nicht mit mancherlei und fremden Lehren umtreiben; denn es ist ein köstliches Ding, daß das Herz fest werde, welches geschiehet durch Gnade.« Und zum drittenmal warf er die Blätter um und las: »Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.«

Der Zantner schloß das Buch und starrte lange vor sich hin.

Dann aber geriet er in einen großen Zorn, raufte sich die Haare, lief hin und her in seinem Gemache und knirschte: ›Trost!‹ Da fielen seine Blicke auf das Buch, das er in die Mitte des Gemaches geworfen hatte: ›Du! du!‹ Er sprang darauf und zerstampfte es mit seinen kotigen Absätzen. ›Du! Gieb mir Trost, jetzt brauch' ich Trost – wo ist dein Trost?‹

Und das Buch fiel auseinander, und die Fetzen hingen an schwachen Schnüren, und einer von den hölzernen Deckeln zerbrach. Unablässig stampften die Füße auf den schmutzstarrenden Blättern, und er keuchte: ›Der Herr – von – Zant – der seine Seele – aus allem Gezänke erhebt – in – die – krystallklaren Höhen – des Aethers – – Montaigne, gieb – ihm – doch Trost – dem armen – Sklaven! Trost –!‹

Vom Hofe tönte das fröhliche Geplärre der spielenden Kinder, und an der Stubenthüre wäre ein leises Pochen zu vernehmen gewesen. Der Zantner vernahm es nicht.

Da öffnete sich die Thüre, und das verwitterte, 283 bartlose Gesicht des Dechanten schob sich lächelnd herein.

»Ich störe Euch doch nicht? Alles wie ausgestorben in Euerm Hause, Herr. Nur die unschuldigen Kindlein im Hofe –«

Er trat vollends herein und schloß geräuschlos die Thüre.

»Endlich in Euerm Sanktuarium!« flüsterte er und ließ die Blicke neugierig über die Bücher schweifen. »Eine gewaltige Bibliothek – hätte das nie vermutet – aber freilich – –!«

Der Zantner faßte sich, stieß das Buch zur Seite und rückte heftig atmend einen Lehnstuhl, verbeugte sich kurz und lud mit einer Handbewegung den Gast zum Sitzen ein.

»Und was hat Euch dieses Buch gethan?« fragte der andre und ließ die stechenden Augen auf dem zerfetzten Montaigne ruhen.

Der Zantner schwieg.

Der Dechant aber hob die schmale Rechte, schwenkte sie anmutsvoll und lächelte: »Ich habe nichts gesehen, Herr von Zant, ich habe die Bücher nicht gesehen, die Ihr verborgen habt wider das kurfürstliche Mandat, ich weiß nichts, als das eine, daß Ihr Euch täglich befestigt. – Befestigt,« sagte er mit Nachdruck und ließ sich in den Stuhl sinken.

»Vielleicht noch eine Partie Schach gefällig vor dem Essen, Herr von Zant?«

Schwerfällig ging der Zantner an den Schrank, öffnete die knarrende Thüre und holte mit zitternden Händen Brett und Figuren.

Leichte Schrittlein kamen die Wendeltreppe herauf, ein Füßlein stieß an die Thüre, ein Aermlein tastete sich empor, und ein Händlein zog mit Anstrengung 284 die Klinke herab. Das Kleinste stand auf der Schwelle und blickte suchend in der Stube umher.

»Komm!« lockte der Dechant.

Aber das Kind wandte sich und stapfte die Stiege hinunter, ging an alle Thüren und suchte und suchte.

Und so that es noch viele Tage, suchte treppauf, treppab in allen Stuben und Kammern, suchte und suchte. 285


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