August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Das Handgemal.

Der vorspringende Thorbau bildete mit der niedrigen Stadtmauer einen ziemlich großen Winkel, über dem ein mächtiger Kastanienbaum sein Geäste ausbreitete. Wir traten an den Zaun, der den Winkel einfriedigte.

Unter der Kastanie brannte ein kleines Feuer, ein Mann kniete davor und hielt einen Eisenstab in die Flammen. Er hatte ein Schurzfell umgebunden, und die Ärmel seines Hemdes waren hoch hinaufgestreift. Auf dem Kopfe trug er ein schwarzes Käppchen, unter dem dünnes, weißes Haar hervorschaute. Die warme Mittagssonne lag auf den grauen Mauern und spielte um den wappengeschmückten Thorturm.

Jetzt nahm der Greis die Stange aus dem Feuer, erhob sich, trat bedächtig auf die Fässer zu, die hinten an der Mauer aufgestellt waren, und zeichnete sie mit dem glühenden Eisen, eines nach dem andern.

Als er fertig war, öffneten wir das Thürchen, 73 traten hinzu und grüßten. Er rückte freundlich seine Kappe, lehnte den Stab an den Baum und steckte die mageren Hände in das Schurzfell.

»Fleißig, fleißig?« sagte der Vater.

»Macht sich schon,« entgegnete der Alte. »Bloß meine Fässer mit dem Handzeichen brennen, daß ich sie kenne. Sie sind gewiß Reisende?«

»Ja,« sagte der Vater und fragte, ob er der Vetter von der Müllerin wäre und Kerdern hieße.

»Wohl, wohl,« sagte der Alte und nickte. »Der Tuchmacher Veit Kerdern.«

»Ich habe Euch für einen Büttner gehalten. Was thut Ihr denn mit den Fässern, wenn Ihr ein Tuchmacher seid?«

»Nun, bei uns haben alle Bürger solche Fässer von wegen der Kommunalbrauerei, in der jeder von den eingesessenen Bürgern sein Bier brauen darf.«

Inzwischen war ich an die Fässer getreten und sah mir das Zeichen an, das der Alte sein »Handzeichen« genannt hatte.

Der Vater redete weiter und erkundigte sich nach den Ortsgewohnheiten – ich aber hörte nichts mehr von seinen Fragen und von den Antworten: Das Zeichen vor mir war ein roh gearbeiteter Vogel mit krummem Schnabel und starken Fängen, ich sah näher, ich tastete mit der Hand die schwarzen Ränder entlang, ich traute 74 meinen Augen nicht: das Bild war ja der Falke aus unserm Wappen!

Ich wandte mich und rief den Vater herzu. Der kam heran und prüfte das schwarze Zeichen. Dann sagte er leise und erregt zu mir: »Siehe da! Sein ›Handzeichen‹ hat es der Mann genannt? Ganz richtig. Es ist aber nichts anderes, als das alte Handgemal, mir dem der Deutsche sein Eigentum zeichnete, lang ehe es Wappen gab. Aus diesem Handgemal haben sich dann die Wappen entwickelt – und hier? Siehe, so laufen die menschlichen Dinge im Kreise: Das, was voreinst auf Fahnen in der Feldschlacht prangte, auf Schilden glänzte, Grüfte deckte, das brennt nach vielen hundert Jahren wieder Einer des Geschlechts als harmloses Zeichen – auf seine Fässer.«

Er trat zu dem Alten zurück und fragte: »Ist denn Euer Stamm schon lange hier am Ort?«

»Seit Menschengedenken sind unsere Voreltern immer in dem Ort gewesen,« erwiderte der Greis. »Ganz früher aber waren sie wieder wo anders.«

»Wo denn?« fragte der Vater. »Wir möchten es wissen; denn wir heißen auch Kerdern.«

Da sah uns der Letzte des vergessenen Zweiges eine Zeit lang prüfend an; dann griff er nach der Hand meines Vaters, hielt sie weitab von seinen Augen und betrachtete sie schweigend. Hierauf griff er auch nach 75 meiner Rechten und prüfte ihre Linien. Wir standen stille und ließen ihn gewähren; denn alles, was er that, war feierlich.

»Ja,« sagte er endlich, »Sie sind auch aus der Freundschaft. Sie haben Kerdernhände.«

»Sind denn die so besonders?« fragte der Vater lächelnd.

»Herr,« sagte der Greis, »besonders, gerade wie man's nimmt; die Hände sind noch viel verschiedener, wie die Gesichter. Und Sie sind aus der Freundschaft.«

»Ja,« sagte der Vater und drückte ihm die Hand. »Und jetzt möchten wir wissen, was Ihnen über die alte Heimat bekannt ist.«

Da reckte sich die gebeugte Gestalt des Greises hoch empor, er zog würdevoll sein Käppchen ab, und das weiße Haar glänzte wie Silber im Spiel der Sonnenstrahlen, die durch die Blätter fuhren. Er stand da wie ein Herr, streckte seinen rechten Arm aus, deutete weit hin über das breite Thal nach Osten, wo die blauen böhmischen Berge im Mittagslichte lagen, und sagte langsam:

»Dort hinten im Böhmerland ist vor hundert und hundert Jahren ein schrecklicher Krieg gewesen, daß das Blut in den Flüssen gelaufen ist wie Wasser, und von dorther sind die Alten geflohen vor hundert und hundert Jahren.« –

Mehr vermochte uns der Greis nicht zu sagen, als er jetzt wieder gebeugt wie vordem dastand, mehr 76 vermochte er uns auch später nicht zu sagen, als wir ihn am Nachmittage in seinem Hause darum fragten.

Alles andere, was nach jener Flucht aus den Strömen von Blut gekommen war, hatte sich mit der Zeit völlig verwischt, alles andere war neben dem einen Entsetzlichen verblaßt und farblos geworden.

* * *

Bald darauf schieden wir aus dem Städtchen und zogen weiter auf unserer Fahrt nach der alten Urkunde.

Wir hatten eine Art von Allerseelentag erlebt, und ein starkes Vergänglichkeitsgefühl lag uns im Herzen.

Oft noch habe ich an den zerstörten Friedhof meines Geschlechtes gedacht, an die zerschlagenen Grabsteine in der Gosse, an das Denkmal im Hausflur der Mühle und an alle die Spuren der Alten, die ein Windhauch verweht hatte.

Damals war mir's klar geworden, was die Schrift auf Stein wert ist. Damals war mir's aber auch klar geworden, daß es eine stolze Pflicht ist:

Die Altvordern ehren!

 


 


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