August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Beim Geschlechtsältesten.

Von den »Herren im Walde« war zu Anfang dieses Jahrhunderts ein Zweig entsprossen, der lebte fern von der alten Heimat am Rande des Gebirgs. Da es der älteste Sohn gewesen, der einstmals im Unmut aus dem Hause seines strengen Vaters gegangen war, so wohnte jetzt auf dem entlegenen Gute der Älteste unseres Gesamtgeschlechts.

Auch dort suchten wir die alte Urkunde. –

Es war nicht weit zu gehen gewesen vom letzten Flecken. Wir standen vor einem großen Holzgarten, in dem gewaltige Stämme lagen. Mitten hindurch schoß ein reißender Gebirgsbach, aus einer schönen Gruppe von Erlen und Weiden tönte das Kreischen der Sägen, und im Hintergrunde, am Berge, lag ein behäbiges, schloßartiges Wohnhaus.

Wir stiegen die Freitreppe empor und fragten im kühlen Flur einen Knecht nach dem Herrn Baron.

»Der junge Herr Baron ist nicht zu Hause, aber der alte Herr Baron ist droben,« sagte der Knecht.

121 »Dann melden Sie uns beim alten Herrn,« erwiderte der Vater.

Der Mann sah uns verwundert an, ging dann die Stiege hinauf, winkte uns, schritt durch einen langen Korridor, machte vor einer Thüre Halt, drehte sich rasch zu uns her, zeigte ein pfiffiges Gesicht und verschwand schleunig.

Wir klopften einmal, zweimal, dreimal. Endlich rief eine Baßstimme »Herein!«

Wir standen in einem geräumigen, düsteren Gemache. An den Wänden hingen gekreuzte Schwerter und Hellebarden, alte, verdunkelte Gemälde, viele Jagdtrophäen. Ganz hinten in der düstersten Ecke saß auf einem Ledersofa an einem großen Ahorntisch ein Mann mit schneeweißem Haupthaar und Bart.

Der erhob sich voll Feierlichkeit und rief uns entgegen: »Ich heiße Sie willkommen! Ich wußte gar wohl, daß Ihre Ankunft erfolgen werde. Nehmen die Herren Platz!«

Dieser Empfang war ein recht freundlicher, und der Vater besann sich, ob eine förmliche Vorstellung unter solchen Verhältnissen überhaupt noch statthaft wäre. Er zog es aber doch vor, seinen und meinen Namen zu nennen, und wollte gerade damit beginnen. Da erhob sich der Greis noch einmal und sagte mit seiner tiefen Stimme: »Thut nichts zur Sache. Setzen sie sich nur!«

Er selbst saß auch schon wieder, und jetzt bemerkten 122 wir, daß seine Augen so seltsam glanzlos an uns vorüber ins Leere starrten.

Wir nahmen von zwei Stühlen Besitz, und es entstand eine Pause.

Wie schön doch der greise Mensch vor uns war. Wie edel war der Schnitt seine Antlitzes, wie groß und kräftig war die Gestalt des Achtzigjährigen, kaum ein klein wenig gebückt erschien sie mir. Nur die Augen waren so glanzlos, ja die Augen waren blöde, wenn ich mir's recht gestand.

Vor dem Alten stand eine große Kaffeetasse. »Das ist ein Tag, das ist ein Tag!« sagte er feierlich einmal über das anderemal und goß sich den schwarzen Trank aus der Kanne ein. Dann öffnete er eine geräumige Büchse und entnahm ihr eine Hand voll Zuckerstücke. »Daß ich den Tag erlebt habe!« fuhr er in seinem Selbstgespräche fort und warf den Zucker in die Tasse. Jetzt rührte er die Brühe mit dem Löffel, nahm eine weitere Hand voll Zucker aus der Büchse, rührte und rührte und murmelte unverständliche Worte in den Bart. Zuletzt schauten die Zuckerbrocken über den Rand der Tasse empor, und der Vater, der gleich mir mit Grausen zugesehen hatte, begann nun endlich mit seinem Anliegen herauszurücken.

Aber kaum hatte er die ersten Worte gesagt, da unterbrach ihn der Greis und sagte feierlich: »Thut nichts zur Sache! Ich weiß, Sie bringen mir die Bitte 123 Seiner Majestät des Königs, ich solle meinen Hammer wieder anzünden. Seien Sie willkommen. Der Tag ist groß. Ein altes Geschlecht ohne Hammer. Zum Lachen. . . .«

Der Vater schwieg und schaute mich bedeutsam an, der Greis murmelte Worte, die wir nicht verstanden, und rührte geistesabwesend in seiner Tasse herum.

Wir wollten uns entfernen; denn unsere Lage war sehr peinlich. Da ging die Thüre auf, und ein Mädchen trat in das Gemach. »Ach!« rief sie. »Wer hat denn . .?«

Der Vater stellte sich und mich vor. Der Alte aber richtete sich wieder stramm in die Höhe und sagte laut und sehr aufgeregt: »Thut nichts zur Sache! Sieh', liebe Maria, diese Herren kommen vom König von wegen des Hammers. Du weißt ja!«

Das Mädchen sah uns ängstlich an. Sie fürchtete wohl, wir möchten uns über den alten Mann lustig machen. Als sie aber meine ernste Miene wahrnahm und als der Vater sagte, es möchte da gewiß ein Mißverständnis vorliegen, gab sie uns unvermerkt mit bittenden Blicken ein Zeichen. Wir traten zurück, sie aber setzte sich auf das Sofa, legte ihre Hand auf den Arm des aufgeregten Greises und fragte ihn schmeichelnd: »Will Großvater, daß ich die Maschine hole?«

Der Mann hob seine runzelige Hand, strich kosend über das schöne Gesicht seiner Enkelin und lächelte.

Maria aber sprang auf und brachte aus der 124 Nebenstube das ziemlich große Modell eines Eisenhammers, stellte es auf den Tisch vor den Alten und wandte sich dann zu uns: »Wollen die Herrn mit mir in den Garten gehen? Großvater erlaubt es schon.« »Nicht wahr?« fragte sie den Greis, der mit zufriedenem Gesichtsausdruck vor dem Spielzeug saß. »Thut nichts zur Sache,« entgegnete er. »Der Hammer wird wieder angezündet. Ein altes Geschlecht und keinen Hammer . . . zum Lachen . . .!« Und dabei ließ er aus einem Behälter Sand auf die kleinen Schaufelräder des Werkes laufen, sie drehten sich rasch und rascher, die hölzernen Hämmerchen begannen zu pochen, und als sich die Thüre schon wieder hinter uns geschlossen hatte, hörten wir immer noch die tiefe Stimme sagen: »Der Hammer wird wieder angezündet.«


Wir standen im Garten mit dem Mädchen. Sie sah uns traurig an und sprach: »Es thut mir immer weh, wenn Fremde meinen armen Großvater sehen. So lange ich denken kann, ist er nie anders gewesen. Aber früher, da war er bekannt weit und breit im Lande. Von allen Seiten sind die Leute gekommen und haben sich seine Eisenwerke angeschaut und haben ihn um Rat gefragt. Das ist lange, lange her. Es ist eine böse Zeit über sein Haupt gegangen. Die kleine Hammerindustrie kam immer mehr zurück, allenthalben, nicht nur bei uns. Da mußte er sich endlich entschließen, seine Öfen auszulöschen 125 und die großen Sägwerke einzurichten, die Sie sehen. Aber er hat die alte Zeit nie verschmerzen können – und namentlich seit er schwachsinnig geworden ist, glaubt er fest, daß sie wieder brennen werden.« »Vergessen Sie das Bild, und denken Sie an den kraftvollen Hammerherrn, von dem ich Ihnen erzählt habe,« bat sie leise, »und nicht an den Greis.«


Die Nacht war angebrochen, als wir nach einem mehrstündigen Marsche vor der »Post« des nächsten Städtchens standen. Maria hatte uns gesagt, ihr Vater brächte den heutigen Abend dort zu. Da könnten wir ihn am besten sprechen.

Eine Wagenburg war vor dem großen Hause aufgefahren. Alte Karrossen, elegante, hochgebaute Jagdwagen, moderne Landauer, bescheidene Einspänner standen da im trüben Lichte der Öllaternen. Das Haus war erleuchtet von unten bis oben, aus den weit geöffneten Fenstern zur ebenen Erde drang lautes Stimmengewirr; in den oberen Stockwerken waren die Fenster geschlossen.

Der Landadel der Umgegend hatte sich heute in diesem Hause zusammengefunden, wie er es alle Wochen einmal zu thun pflegte.

Wir traten unter den Thorbogen und fragten ein Schenkmädchen, das gerade eilig vorüberging, nach dem Herrenzimmer.

126 »Alles voll, heut ist ja der Abend,« rief sie. »Schauen's ins Kutscherzimmer, da ist noch Platz.«

Wir waren sehr hungrig und beschlossen, uns nicht lange zu besinnen und vorläufig anstatt zu den Herren zu ihren Kutschern zu gehen. Hernach konnten wir ja den Vetter in aller Gemütsruhe aufsuchen.

»Ja, der Herr Baron ist schon droben,« antwortete die Kellnerin auf unsere Frage. »Der bleibt nach lang sitzen.«

Bestäubt, wie wir waren, betraten wir das Kutscherzimmer. Wir legten unsere Tasche in eine Ecke und schritten durch den Qualm der Stube auf einen Tisch zu, an dem noch einige Plätze frei waren.

Als wir uns setzten, hielten die glattrasierten Männer einen Augenblick in ihrer Unterhaltung inne und betrachteten uns.

Unser »Guten Abend« wurde mit einem wohlwollenden Kopfnicken belohnt.

Man hatte uns geprüft, und nun kam auch das unterbrochene Gespräch wieder in Fluß.

Bescheiden und anspruchslos saß ich neben einem feisten Kutscher, der in gelb und blauer Livree stak, und machte meine Beobachtungen. Ich kannte keinen einzigen von all den Herren droben im Gesellschaftszimmer – aber mit welchen Manieren sich ein jeder durch sein Dasein zu bewegen gewohnt war, das glaubte ich in der Karikatur ganz genau an seinem Kutscher 127 beobachten zu können. Ja, wenn ich zeitweise die Augen schloß oder mich in meinen Suppenteller vertiefte, dann war mir's fast, als säße ich mitten unter Herren. Denn da hieß es nicht »Christian«, »Johann«, »Xaver«, wenn einer den andern rief, sondern jeder trug den Geschlechtsnamen seines Gebieters, und es schwirrte hin und her von -heims, -burgs, -bergs, -ings, -ungs und -erns.

Man schien mit der Zeit meine stumme Höflichkeit wohlgefällig wahrgenommen zu haben, und mein gelbblauer Nachbar »Kerdern« beschloß, mich ins Gespräch zu ziehen. Herablassend fragte er, ob wir Reisende wären.

Ich bejahte ernsthaft.

In was wir denn machten?

»Der Herr neben mir in Geneanomie und Genealogie, ich in Heraldik und Sphragistik,« erwiderte ich sehr höflich. Es entstand eine Pause.

Ob das gute Geschäfte wären? hieß es weiter.

Ich that sehr verwundert, daß ihm die große Bedeutung dieser Branchen zumal in seiner Eigenschaft als Herrschaftsdiener nicht näher bekannt wäre, und mein Nachbar schwieg wieder.

Ich biß mir auf die Lippen und fragte nach einer Weile, ob wir wohl seinen Herrn in unseren Angelegenheiten sprechen könnten.

Da hatte der Bediente sofort wieder seine alte Würde gefunden und sagte erhaben, daß er bestimmt 128 wisse, sein Herr sei in diesen Artikeln hinreichend versehen. Er beziehe sie immer direkt von Wien.

Ich bezwang mich mit anerkennenswerter Energie und blieb ernsthaft.

Inzwischen hatte auch der Vater seine Mahlzeit beendet und gab nun unserm Nachbarn die Karten, damit er uns bei seinem Herrn melde.

Der nahm die kleinen Dinger in seine großen Hände, las die Schrift, besah uns, besah wieder die Schrift und machte sich dann langsam auf den Weg. Aber so lange ich ihn mit den Augen verfolgen konnte, schüttelte er sein dickes Denkerhaupt. Es war auch gar seltsam: er und sein Herr und wir bestäubte Landstreicher sollten einen und denselben Namen führen. Zu seltsam!


Droben vor der Thüre des Herrenzimmers auf dem spärlich erleuchteten Korridore stand uns der Baron gegenüber und musterte uns von oben bis unten.

»Wir suchen eine alte Urkunde, die uns vielleicht wichtige Aufschlüsse über die Geschichte unseres Geschlechts zu geben vermag,« sagte der Vater nach den einleitenden Worten.

»Bedaure, kann nicht dienen,« schnarrte der Baron. »Würde auch derlei alte Dokumente nicht wohl aus den Händen geben.«

»Es handelt sich lediglich um familiengeschichtliche Forschungen,« fuhr der Vater mit der Zähigkeit des 129 Genealogen fort. »Unser Geschlecht ist vor Zeiten aus Böhmen in die Oberpfalz eingewandert. Ist Ihnen darüber Näheres bekannt?«

»Ja, sollen aus Böhmen stammen,« meinte der Baron und betrachtete uns wieder mißtrauisch. »Hab's schon gehört. Und Sie wollen also auch Kerdern heißen, am Ende gar mit mir verwandt sein?«

Dabei prüfte er wieder unsere Kleider, die von Sonnenschein und Regen allerdings etwas arg mitgenommen waren, und – griff mit der Hand in die Tasche.

Der Vater, dem in seinem genealogischen Eifer diese Wendung völlig unerwartet kam, stand einen Augenblick sprachlos. Der Baron aber hielt uns nachlässig ein Geldstück hin.

Da trat ich rasch einen Schritt vor, nahm ihm den halben Gulden aus den Fingern und lachte ihm hellauf und lustig ins Gesicht. Dann machte ich eine tiefe Verbeugung und sagte, noch immer lachend: »Schönen Dank, Herr Vetter, der kommt zum ewigen Gedächtnis an meine Uhrkette!«

Ich weiß nicht, was so sehr wirkte: war es mein Lachen oder waren es meine Worte. Aber die Wirkung war vollkommen da; der Baron verbeugte sich höflich und sagte: »Verzeihung, meine Herren, es ist hier sehr dunkel. Ich glaube, etwas Arges gethan zu haben. Ich kann es wohl durch nichts mehr gut machen!«

»O ja,« versetzte nun der Vater mit feinem Lächeln, 130 »wenn Sie uns alles sagen, was Sie über unser Geschlecht wissen.« – –

Wir haben nach diesem komischen Empfang einen sehr schönen Abend mit dem wohlthätigen Vetter verbracht, und er hat uns auch alles erzählt, was er von der Vergangenheit wußte. Aber es war nicht viel, und die alte Urkunde besaß er – nicht.

Den halben Gulden trage ich heute noch an meiner Uhrkette und schaue ihn oft mit stillem Behagen an. Wenn einer auf Geneanomie, Genealogie, Heraldik und Sphragistik reist, dann verdient er wohl selten einen halben Gulden. Uns aber war das Glück hold gewesen. 131

 


 


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