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» E s verlohnt sich nicht mehr der Mühe, zu Bett zu gehen. Es wäre ein zu prosaisches Ende einer solchen ambrosischen Nacht. Hörst Du, Sven, wie die Vögel über uns in den dichten Kronen der Kastanien mit verschlafenem Zwitschern das Herannahen der Sonne verkündigen? Komm, laß uns das Erscheinen der Himmlischen begrüßen! Diese Straße hier führt an das Ufer, wie Du Dich von früher her erinnern wirst, als Du und ich, zwei Knaben wilder Art, so brüderlich zusammen aufgewachsen –«
»Ich bitte Dich, Benno, wenn Dir an meiner Gesellschaft etwas liegt, schwatze etwas weniger viel und laut. Mir ist von den Erinnerungen, die heute Nacht durch mein Hirn gezogen sind, so still –«
»So feierlich, so ganz, als wollt' es öffnen sich – das ist der Tag des –«
»Adieu, Benno, frage morgen, wenn Du die Wirkungen der Bowle verschlafen hast, im goldnen Stern nach mir.«
»Bruderherz, geliebtes! verschließe Dich nicht vor mir hinter den Pforten Deiner Karavanserei zu den übrigen Kamelen und Dromedaren! Ich will ja auch stumm sein, taubstumm, wenn Du willst; aber verlasse mich nicht jetzt, und mische nicht durch Deinen hypochondrischen Eigensinn Wermuth in die Süßigkeit eines Wiedersehens nach langen Jahren der Trennung! Im Ernst, Sven, ich will vernünftig sein; die aufgehende Sonne soll an diesem Tage noch keinen vernünftigeren Menschen beschienen haben.«
Der so sprach und bei den letzten Worten den Arm seines Begleiters faßte, um ihn mit freundlicher Gewalt in die Straße zu ziehen, die von diesem Punkte aus zum Ufer des großen Stromes hinabführte, war ein junger Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren. Seine Gestalt war fast unter Mittelgröße, aber gedrungen und wohlgebildet. Das dichte Haupthaar, die langen Wimpern und der seidenweiche Schnurbart waren von glänzender Schwärze. Die Züge seines überaus lebhaften Gesichtes waren, ohne schön zu sein, markirt und fein und die etwas niedrige feste Stirn, die blitzenden Augen und vor Allem der Mund, um den es fortwährend zuckte und spielte, verkündeten ein reges inneres Leben, an welchem freilich der Verstand einen größeren Antheil haben mochte, als das Herz.
Dies war ein Zug, der ihn mehr wie alles Andre von seinem Begleiter unterschied, dessen edelschönes Antlitz gerade die entgegengesetzte Mischung der Seelenkräfte aufzuweisen schien; besonders in diesem Augenblicke, wo eine Wolke von Melancholie, oder von Schwärmerei auf seiner hohen Stirn und über seinen großen sanften tiefblauen Augen hing. Er war schlank und hoch gewachsen, fast zwei Köpfe höher als sein munterer, breitschultriger Gefährte. Seine Haltung war die eines Mannes, der sich in guter Gesellschaft zu bewegen gewohnt ist und die Manieren, die er sich dort angeeignet, selbst in unbewachten Augenblicken nicht ablegt, weil sie ihm zur zweiten Natur geworden sind. Er war vielleicht mit seinem Begleiter in einem Alter, obgleich diesen die zuckende Lebhaftigkeit, die jetzt durch den reichlich genossenen Wein noch erhöht war, um mehre Jahre jünger erscheinen ließ. Er war noch in demselben eleganten bequemen Reiseanzug, in welchem er gestern Abend bei seiner Ankunft in der Universitätsstadt aus dem Wagen gestiegen war. Dieses Costüm und seine ganze übrige Erscheinung machten es schwer, ihn irgend einer bestimmten Berufsklasse zuzutheilen; sein gesprächiger Genoß in dem etwas abgeschabten schwarzen Anzug war wol ein junger Gelehrter, ein Privatdocent an der Universität, oder dergleichen.
Sie waren Arm in Arm die etwas abschüssige Straße hinabgewandelt und befanden sich jetzt unmittelbar an dem Ufer des großen Stromes. Der junge Mann im Reiseanzug nahm seinen Strohhut ab, beugte sich nieder, tauchte seine Hand in das Wasser und benetzte damit seine Stirn, vielleicht nur, um sich nach der durchschwärmten Nacht zu erfrischen, vielleicht, um den vielgeliebten Strom, an dem sich für ihn so viel schöne Erinnerungen knüpften und den er jetzt nach so manchen Jahren zum ersten Male wieder erblickte, seine Huldigung darzubringen. Sein Genoß hatte sich unterdessen nach einem Platze umgeschaut, von dem aus man besser, als vom flachen Ufer, dem Schauspiel des Sonnenaufganges zusehen könnte. Links von ihnen, auf der Höhe des Ufers, lag eine Villa, die letzte der langen Reihe, die sich, von der Stadt aus, am Strome hinzog. Eine hohe Terrasse war ihr vorgebaut. Zu dieser führte eine breite Steintreppe, die oben mit einem eisernen Geländer verschlossen war. Als Sven sich aus seiner gebücktem Stellung wieder aufrichtete, sah er, wie Benno, der unterdessen die Treppe hinaufgestiegen war, eben versuchte, sich über das nicht allzu hohe Geländer hinüberzuschwingen.
»Was fällt Dir ein, Benno?« rief er hinauf.
Der antwortete nicht, sondern kletterte vollends hinüber, lehnte sich dann mit beiden Armen auf die Balustrade und schaute lächelnd auf seinen Begleiter hinab; richtete sich wieder empor und schien durch allerlei Gesten die Bewunderung auszudrücken, welche er über die Aussicht von seinem erhabenen Standpunkte empfand.
»Laß die Possen und komm herab!« rief Sven.
»Mitnichten!« antwortete Jener; »laß Deine Bedenken und komm herauf. Es ist allerliebst hier oben und wir sind hier, auf Ehre, keinem Menschen im Wege.«
»Ist denn das Haus nicht bewohnt?«
»Jedenfalls ist keiner der Bewohner oder Bewohnerinnen hier, uns in unserm harmlosen Naturgenuß zu stören. Komm, Sven; es verlohnt sich wirklich der Mühe; die Aussicht ist ganz köstlich. Die Sonne muß in wenigen Minuten aufgehen.«
»Du bist doch immer noch der alte Windbeutel, der meine guten Sitten durch sein böses Beispiel verdirbt;« sagte Sven lächelnd, indem er sich anschickte, seinem leichtblütigen Genossen zu folgen.
»Und Du, der alte Sittenprediger, der stets den Weg der Tugend weist, um die Dornenpfade des Lasters zu gehen. Nimm Dich in Acht, sonst bleibt Dein Rockschoß an besagten Dornen hangen! – Nun sage selbst, ist es nicht allerliebst hier oben?«
»In der That!« erwiederte Sven, von der Terrasse einen Blick in die Landschaft werfend, um dann seine Umgebung mit neugierigem Auge zu mustern.
Auf der Terrasse standen Tischchen und Gartenstühle in jener malerischen Verwirrung durcheinander, wie sie durch den Aufbruch einer Gesellschaft hervorgebracht wird. In dem einen Stuhl saß eine Puppe, anderes Kinderspielzeug lag auf dem Boden. Auf dem einen der Tischchen lagen Journale, deutsche und englische, auf einem andern eine angefangene Stickerei, Seide, Garn, Fingerhut, Scheere und die übrigen niedlichen Werkzeuge einer geschickten weiblichen Hand. Offenbar benutzten die Bewohner der Villa bei dem köstlichen Sommerwetter die Terrasse als ein luftiges Zimmer. Auch die Fensterthür, welche von der Terrasse in den Salon führte, stand weit geöffnet. Sven warf einen verstohlenen Blick in das hohe, schöne, mit kostbaren Möbeln, Vorhängen und Teppichen reich ausgestattete Gemach. Während er so auf der Schwelle stand und sein Blick über die Einzelheiten dieses reizenden Interieurs flüchtig wegeilte, blieb sein Auge auf einem Porträt haften, das ganz in seiner Nähe an einem der Fensterpfeiler hing. Es war das lebensgroße Bild einer Dame. Bei der halben Dämmerung, die noch immer in dem Zimmer herrschte, vermochte Sven nur die Umrisse deutlicher zu erkennen, aber was er sah, war so anziehend, daß er unwillkürlich noch einige Schritte näher trat, bis er unmittelbar vor dem Bilde stand. – Es war ein wundersames Bild, eines jener Bilder, die den Beschauer wie durch einen mystischen Schleier aus einer dämonischen Welt heraus anblicken, in welcher unsere Träume leibhaftig sind und die geheimsten Wünsche unseres Herzens zur Wahrheit werden; eines jener Bilder, deren Anblick wie eine Offenbarung auf uns wirkt, und deren Erinnerung wir von dem Augenblicke an in allen Wechselfällen unseres Lebens nicht wieder verlieren können. Sven fühlte sich auf eine seltsame Weise bewegt. Er wußte es wohl, es war nicht das reiche braune Haar, es waren nicht die dunkeln, von langen dunkeln Wimpern halb überschatteten Augen, es war nicht der liebliche und bei aller Lieblichkeit so feste Mund, es war überhaupt keine Einzelheit, welche diese unbeschreibliche Wirkung auf ihn hervorbrachte, – es war der Ausdruck, den der geniale Künstler besonders in dem Blick des halb von den Lidern bedeckten Auges und in dem leise herabgezogenen Winkeln des Mundes zu concentriren gewußt hatte, – die tiefe, hoffnungslose Schwermuth, welche, wie ein feiner Duft über einer reichen Landschaft, über den schönen geistvollen Zügen lag.
Sven stand noch in Betrachtung verloren vor dem Bilde, das ihn mit einer fast unheimlichen Gewalt an sich zog, als ihn ein Ruf des Gefährten an seine Situation erinnerte. Er trat wieder auf die Terrasse hinaus und fand Benno in einem der bequemen Gartenstühle sitzend und mächtige Wolken aus einer eben angezündeten Cigarre in die frische Morgenluft hinausblasend.
»Nach meinem Chronometer,« sagte Benno, auf die Uhr blickend, »muß die Sonne in fünf Minuten über den Horizont kommen. Setze Dich her zu mir und laß uns dieses Schauspiel mit der Andacht von Feueranbetern genießen.«
Sven antwortete nicht und lehnte sich auf die Balustrade. Die Luft war frisch und erquickend, von den Wiesen drüben jenseits des Flusses wehte der Ostwind den Duft des unlängst geschnittenen Heu's herüber. Man sah das gegenüberliegende Ufer nur auf Augenblicke, denn aus dem Wasser aufsteigende Dünste, die sich bald in einzelne schlankere Säulen theilten, bald zu größeren Massen zusammenballten, trieben unaufhörlich stromab – wie ein geisterhaftes Heer, wie die Schemen der Krieger, die mit ihrem Blut die grünen Wasser dieses herrlichsten Stromes färbten. Die Kuppen des nahen Gebirges leuchteten schon in dem röthlichen Schein der aufgehenden Sonne, und wenn auf Momente die Nebelschleier auseinander wallten, sah man die breiten Bergwände und die weißen Häuser des Städtchens an ihrem Fuß. Und jetzt stieg das Gestirn des Tages, schwimmend und zitternd in seinem Glanz, über die niedrige Hügelreihe des jenseitigen Ufers, und die Gespensterwolken zerflatterten hierhin und dorthin; die Wasser des breiten Stromes blitzten im prächtigen Morgensonnenschein man sah den Dampfer, dessen Brausen man schon lange gehört hatte, mit stürmischer Eile zu Thal fahren, daß die Wellen, die seine Räder aufwühlten, an den Strand brandeten.
»Der Tag ist da,« sagte Sven; »und unser nächtliches Abenteuer muß ein Ende nehmen. Komm, Benno, ich warte keine Minute länger.«
»Hast Du nicht eine Visitenkarte bei Dir?« fragte Benno.
»Weshalb?«
»Ich wollte mir eine meteorologische Bemerkung, die ich sonst zu verschlafen fürchte, notiren.«
»Hier; aber nun komm auch!« sagte Sven, aus einem kleinen Etui eine Karte nehmend; und er wandte sich zu gehen.
Er sah nicht, wie Benno, seiner alten Gewohnheit, keine Gelegenheit zu einem übermüthigen Streich vorübergehen zu lassen, getreu, diese Karte nebst seiner eigenen auf das runde Tischchen neben die angefangene Stickerei legte, und sodann seinem Gefährten folgte, der schon am Fuß der Treppe angelangt war.
Sie gingen Arm in Arm die Uferstraße hinauf, durch das enge Thor und die noch immer stillen Gassen der Universitätsstadt auf den Marktplatz. Hier an der Thür des Hotels zum Goldenen Stern angekommen, trennten sie sich.