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S o mochte seit seiner Ankunft vielleicht eine Woche vergangen sein, als er, von einer längeren Promenade zurückkehrend, unter den während dieser Zeit angekommenen Briefen ein kleines zierlich gefaltetes Bittet fand, dessen Aufschrift » Mr. S. Tissow Esqu.« von einer ihm gänzlich unbekannten und offenbar englischen Hand ihn einigermaßen in Erstaunen setzte. Dieses Erstaunen wurde noch vermehrt durch den Inhalt des Billets, welcher nichts mehr und nichts weniger war, als eine, in englischer Sprache abgefaßte, höfliche Einladung: bei Mr. und Mrs. Durham eine Tasse Thee am Abend desselben Tages trinken zu wollen. Sven hatte nicht die entfernteste Ahnung, was ihm die Ehre dieser Einladung von einer englischen Familie, deren Namen er heute zum ersten Male hörte, verschafft haben könnte. Er war bei seinem früheren Aufenthalte in der Universitätsstadt mit mehren englischen Familien befreundet gewesen. Von diesen war aber jetzt keine mehr hier, und er wußte sehr wohl, daß es keine Durham's darunter gegeben hatte. Auch kannte er die Zurückhaltung und die Vorsicht, welche die Engländer in der Anknüpfung neuer Verhältnisse beobachten, viel zu gut, als daß ihn diese brüske Einladung ohne vorhergegangene Annäherung seinerseits nicht hätte stutzig machen sollen. Er nahm deshalb an, daß aller Wahrscheinlichkeit nach hier ein Mißverständniß obwalte, und setzte sich an seinen Schreibtisch, um die übrigen eingegangenen Briefe zu beantworten.
Er hatte indessen kaum ein paar Zeilen geschrieben, als er die Feder wieder bei Seite legte, und das zierliche Billet mit der hübschen rapiden englischen Handschrift wieder ergriff.
»Durham, Durham?« murmelte er; »ich weiß doch ganz gewiß, daß unter meinen Bekannten niemals einer dieses Namens gewesen ist. Es muß ein Mißverständniß sein, und doch! die Adresse stimmt zu genau. Ich muß doch einmal Madame Schmitz fragen, ob ihre Allwissenheit nicht auch dieses Räthsel zu lösen vermag.«
Als hätte sie geahnt, daß »der Herr in der Bell-Etage« ihres freundschaftlichen Rathes bedürftig sei, klopfte Madame Schmitz in diesem Augenblicke an die Thür, und trat auf Sven's Herein in das Zimmer. Sie kam, um sich bei dem »Herrn Baron« – Madame Schmitz hielt etwas auf ihre Miethsherren und machte sie, wenn sie das Unglück hatten, unbetitelt zu sein, nach Discretion zu Grafen, Baronen und zum mindesten Doctoren – zu erkundigen, ob ihm heute Morgen das Frühstück nicht geschmeckt habe, da dasselbe fast unberührt wieder in die Küche gewandert sei? und ihm – mit der Hand auf dem Herzen – die Versicherung, zu geben, wie sie sich, sollte die Schuld an ihr gelegen haben, eine solche Vernachlässigung des besten, gentilsten Miethsherrn, den sie seit vielen Jahren in ihrem Hause gehabt habe, nun und nimmer vergeben würde, vergeben könne.
Madame Schmitz war eine kleine, überaus lebhafte, stets mit einem Ueberfluß von falschen, kohlschwarzen Locken und einer sehr bänderreichen Mütze geschmückte Dame von vielleicht fünfzig Jahren. Sie stand, nachdem sie Herr Jakob, oder, wie ihn seine intimeren Freunde nannten, Köbes Schmitz, weiland renommirter Stiefelputzer, Kleiderreiniger und Factotum der akademischen Jugend, der vor einigen Jahren das Zeitliche segnete, verlassen hatte, allein da in der Welt. Oft entrang sich ihrem gepreßten Herzen eine leise Klage über das grausame Schicksal, welches sie früh in eine so bedenkliche und gewissermaßen hülflose Lage brachte, indessen war diese Beschuldigung des Fatums wenigstens insofern nicht ganz begründet, als Madame Schmitz schon seit langer Zeit, und eigentlich von jeher, sich ausgezeichnet gut selber hatte helfen können. Auf ihren zarten Schultern hatte die ganze Last, das hübsche Vermögen, dessen sie sich jetzt erfreute, zu schaffen und zu erhalten, gelegen. Sie hatte Herrn Köbes, der ein sehr lebhafter und wenn er – was oft geschah – der Flasche zugesprochen hatte, äußerst enthusiastischer Herr war, immer wieder an die Pflichten seines leichten und nützlichen Berufes erinnert, und – in des Wortes bildlicher und eigentlicher Bedeutung – zur Prosa des Lebens ernüchtert. Sie war auf den lucrativen Einfall gekommen, die Wäsche, welche die Studenten ihr aus Rücksichten der Reinlichkeit anvertraut hatten, im Interesse dieser Herren selbst so lange zurückzuhalten, bis sie ihr die darauf vorgestreckte, oft nur geringfügige Summe wieder entrichtet, oder, im Falle den Herren ein Leben ohne Wäsche unerträglich war, die erste Verschreibung durch eine zweite, welche jener, bis auf eine kleine Veränderung in den Zahlen, durchaus gleich lautete, ersetzt hatten. Frau Köbes Schmitz sprach oft und gern von ihrem guten Herzen und ihrem nur allzu weichen Gemüthe, welches es ihr unmöglich mache, mit der Jugend in ihren Freuden und Leiden nicht zu sympathisiren. Indessen konnte ein schärferer Beobachter hierbei eine gewisse Einseitigkeit und Parteilichkeit bemerken. Es war nicht zu leugnen, daß Frau Köbes die Thorheiten und Ausschreitungen ihrer zahlenden und zahlungsfähigen Kunden mit der liebenswürdigsten Bonhomie beurtheilte, ja bis zu einem gewissen Grade begünstigte, aber sie war eine unerbittlich strenge Richterin der armen Sünder. Sie hatte stets zwei Maximen für ihre Kunden in Bereitschaft. Die eine hieß: »was man nicht lassen kann, das soll man thun,« die andere lautete: »was man nicht thun kann, das soll man lassen.« Die erstere sprach sie mit lächelnder Miene, wenn sie einem neuen Kunden, einem übermüthigen aristokratischen Jünglinge etwa, das Geld, welches er zur Ausführung irgend eines Thorenstreiches bedurfte, vorstreckte; die letztere erwiederte sie mit gerunzelter Stirn auf die Bitten eines armen Schluckers der seinen Termin nicht einhalten konnte.
Der consequenten Anwendung dieser beiden Grundsätze verdankte Frau Köbes Schmitz den stetigen Wachsthum ihres Wohlstandes, welcher schon vollständig gesichert war, als Herrn Köbes Schmitz das unerbittliche Schicksal mitten in der Blüthe seiner Jahre, und, so zu sagen, mitten in der Ausübung seines Berufes fortraffte.
Herr Köbes hatte »müde nach durchlaufener Bahn« sich eines Abends dem harmlosen Genusse freundschaftlicher Unterhaltung bei einem Schoppen in einer Weinstube hingegeben. Ob die Hitze im Locale verwirrend auf die Sinne des Ehrenmannes wirkte, ob es nur die Folge einer ihm plötzlich überkommenden bacchantischen Stimmung war, genug, Herr Köbes fing – jedenfalls verleitet durch eine allzu lebhafte Reminiscenz seiner täglichen Beschäftigung – plötzlich an, die Röcke seiner Trinkgenossen mit dem Rohre, welches er stets bei sich führte, zu bearbeiten, ohne ihnen Zeit zu lassen, die übliche Vorsichtsmaßregel anzuwenden, d. h. sich derselben vorher zu entledigen. Die betreffenden Herren waren nicht in der Stimmung, diese harmlose Vergeßlichkeit zu übersehen, und Herr Köbes wurde mit mehren, nicht mißzuverstehenden Beweisen ihres Unwillens am Kopfe nach Hause getragen, und hauchte, da sich ein hitziges Fieber, an welchem er häufig litt, zu den Folgen dieses Abends gesellte, bald darauf seine enthusiastische Seele aus.
Frau Köbes war untröstlich über diesen herben Verlust. Nur in der angestrengtesten Thätigkeit konnte sie Vergessenheit ihres Schmerzes finden. Sie mußte Menschen um sich haben, die sie pflegen, für die sie sorgen, die sie mit ihrem Rathe, vielleicht auch mit ihrem Gelde unterstützen konnte. Sie erbaute ein großes zweistöckiges Haus, dessen Fronte nach der Straße, dessen Hinterseite nach dem Flusse sah, und hing in die Fenster, als es fertig war, mit weißem Papier beklebte Pappetafeln, auf denen mit großen Lettern die für den Uneingeweihten in die Mysterien der englischen Sprache geheimnißvollen zwei Worte: » to let!« zu lesen standen.
Frau Köbes wurde in allen ihren Unternehmungen mit Glück begünstigt. Die geheimnißvollen Affichen verschwanden reißend schnell aus den Fenstern, und an Stelle derselben erblickte man bald Herren mit langen weißen Zähnen und dünnen Backenbärten, welche vor einem Toilettenspiegel ihre Cravatte umbanden, oder junge Damen mit langen Locken, aus deren schönen – meistens halb geöffneten – Munde man die Monosyllaben yes und no häufiger hören konnte, im Falle man das Glück hatte, auf der Promenade an ihnen vorüber zu streifen.
Die Parteilichkeit, welche Frau Schmitz in ihrem früheren Beruf an den Tag gelegt hatte, verleugnete sie auch in diesem neuen nicht. Auch ihre jetzigen Kunden theilte sie in zwei Klassen, in solche nämlich, welche die Rechnungen bezahlten, ohne sie zu lesen, und in solche, welche sich die Freiheit nahmen die einzelnen Items einer specielleren Prüfung zu unterwerfen. Jene liebte und verehrte Frau Schmitz, diese haßte und verachtete sie. Für jene konnte sie sich unter Umständen aufopfern, konnte, wenn sie krank waren, ihnen die kräftigsten Suppen kochen, ja selbst Nächte lang an ihrem Bette wachen, für diese war ihr jeder Weg zu weit, jeder Dienst zu schwer – und kein Versehen in der Rechnung zu groß.
Sven, der seit acht Tagen bei ihr wohnte, hatte sie besonders in ihr Herz geschlossen. Sven hatte die Wochenrechnung nicht nur nicht geprüft, sondern Madame gebeten, ihn mit dieser wöchentlichen Misere in Zukunft zu verschonen; hatte ihr eine größere Summe eingehändigt, sie ersucht, damit zu wirthschaften und die Ausgaben zu bestreiten und ihm nur einfach zu sagen, wenn sie damit zu Ende sei. Sie vergötterte Sven und war deshalb alles Ernstes betrübt, daß sein Frühstück, bei dessen Bereitung sie sich noch ganz absonderliche Mühe gegeben hatte, beinahe unberührt in die Küche zurückgewandert war. Sven beruhigte sie über diesen Punkt und brachte nach einigem höflichen Phrasenaustausch die Rede auf die Engländer im Allgemeinen und die zur Zeit die Universitätsstadt mit ihrer Gegenwart beehrenden im Besondern. Dies war ein Kapitel, in welchem Frau Köbes Schmitz unerschöpflich war. Sie theilte, wie Alles, so auch die Engländer in zwei Klassen: solche, die bei ihr wohnten, und solche, die nicht bei ihr wohnten. Seit den zehn Jahren ihrer Gastfreundschaft gegen alle zahlungsfähigen Individuen waren ganze Scharen von Misters, Masters, Mistresses und Misses durch ihre Hausthür und ihre Hände gewandert. Sie vermochte noch heute das Aussehen eines Jeden, seine Eigenthümlichkeiten, seine Vorzüge und Schwächen aufzuzählen. In diesem Augenblick waren nur zwei Söhne Albions unter ihrem Dache, ein junger Gentleman mit seinem Erzieher, die, um deutsch zu lernen, nach Deutschland gekommen, bereits zwei Jahre hier waren und bereits eben so viel deutsche Worte im Zusammenhang zu sprechen vermochten. Es seien gegenwärtig überhaupt sehr wenig englische Familien in der Stadt, und unter diesen wenigen gebe es kaum eine respectable, was ja schon, ganz einfach aus dem Umstande hervorgehe, daß keine bei ihr wohnen. Da seien Mr. und Mrs. Smith mit ihren vier Töchtern. Du lieber Himmel, wenn man sie so paarweise durch die Straßen gehen sieht; ihn und sie voran, die Töchter zwei und zwei hinterher, alle die Nasen gleichmäßig in die Höhe gerichtet und die Unterlippen gleichmäßig hängen lassend, könnte man glauben, Mr. Smith sei mindestens ein Lord. »Und nun rathen Sie einmal, Herr Baron, was der Mann in seiner Heimath gewesen ist? Es läßt sich kaum in ehrbarer Gesellschaft aussprechen – Scharfrichter ist er gewesen, hangman, wie sie es nennen, er hat mindestens fünfzig Menschen in seinem Leben aufgeknüpft, und jetzt sagt er, meine Wohnung sei nicht genteel genug! stolzirt hier umher wie ein Pfau und alle Welt macht sich ein Vergnügen und eine Ehre daraus, ihn bei sich zu sehen. Es ist lächerlich, es ist verächtlich!« rief Frau Schmitz und warf mit einer ärgerlichen Handbewegung das lange Band ihrer Haube über die Schulter.
»So lebt keine einzige Familie hier, mit der man anständigerweise umgehen könnte?«
»Nicht eine einzige, mit Ausnahme der Durhams, die aber ihrerseits wieder mit Niemanden umgehen.«
»Wer?« sagte Sven.
»Nun Mr. und Mrs. Durham. Haben denn der Herr Baron noch nicht von der schönen Engländerin gehört?«
»Kein Wort,« sagte Sven.
»Sie wohnen ja ganz in unserer Nähe,« sagte Frau Schmitz, an die offene Balkonthüre tretend und nach dem Hause mit der Terrasse hinüberzeigend, »dort in Frau Bartelmann's Haus. Die wird sich freuen, daß sie endlich einmal eine respectable Familie hat, und noch dazu eine, die mir von Rechtswegen zukommt.«
Sven hatte Mühe gehabt, vor dem scharfsichtigen Auge der Frau Schmitz seine Bestürzung zu verbergen. Er sollte also in das Haus, das geheimnisvolle Haus, um welches sich, seitdem er hier war, sein Sinnen und Denken unaufhörlich bewegte, Zutritt erlangen. Das Bild war also keine Phantasie; das Original dazu lebte – wer sollte sonst die »schöne Engländerin« sein? – und er, er sollte sie noch heute Abbild sehen!
»Weshalb von Rechtswegen Ihnen?« fragte er, das letzte Wort der Frau Schmitz auffassend.
»Weil sie vor vier Jahren schon einmal hier gewesen sind, und damals bei mir gewohnt haben, zum Theil hier in diesem selben Zimmer, das der Herr Baron jetzt bewohnen. Dies Zimmer war das Zimmer von Mrs. Durham. Hier, wo ihr Schaukelstuhl steht, war auch ihr Lieblingsplätzchen. Die Meubel sind überhaupt noch ganz dieselben, an Ihrem Schreibsecretär habe ich Mrs. Durham oft halbe Tage lang sitzen sehen. Die schrieb beinahe noch mehr, als der Herr Baron.«
»Wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen, liebe Frau Schmitz?« sagte Sven, seiner Wirthin einen Stuhl präsentirend.
»Danke, Danke, Herr Baron! ich habe keinen Augenblick zu verlieren. Mr. Tomlinson wird gleich von seinem Spaziergange zurückkommen und dann –«
»Mrs. Durham ist vermuthlich die schöne Engländerin?« fragte Sven.
»Gewiß! gewiß!« erwiederte Frau Schmitz, die sich, einem scheuen Vogel gleich, der sofort wieder davon fliegen wird, auf den äußersten Rand des Stuhles gesetzt hatte; »obgleich sie eigentlich gar kein Recht zu diesem Titel hat.«
»Weshalb denn nicht? ist sie nicht schön?«
»Nicht schön? so schön, daß Schöneres auf der ganzen weiten Welt nicht existiren kann. Ob sie noch so schön ist, weiß ich freilich nicht, denn ich habe sie, seitdem sie wieder hier ist, noch nicht gesehen; aber damals war die ganze Stadt wie toll. Wo sie sich blicken ließ, sammelte sich ein Haufen Menschen, um sie wie ein Wunder anzustaunen.«
»Das muß für die Dame sehr unbequem gewesen sein.«
»Nun, die Damen können in dieser Hinsicht ziemlich viel vertragen,« sagte die philosophische Frau Schmitz, aus einer kleinen silbernen Tabacksdose eine ganz kleine Prise nehmend; »aber Mr. Durham war es vielleicht desto unbequemer. O, das ist ein Mann, sage ich Ihnen, Herr Baron! ein wahrer, wie nennen Sie's doch gleich, wenn Einer ein Mohr ist, und seine arme Frau quält?«
»Othello.«
»Jawohl, ein richtiger Othello. Glauben der Herr Baron, daß er drei Worte mit mir gesprochen hat, die acht Wochen lang, die er hier war? Na, und wer mit seiner Wirthin nicht spricht, die es gut meint und ihm sein Frühstück besorgt und stets darauf hält, daß die Thürschlösser, die Spucknäpfe – mit Respect zu sagen – und alles Uebrige blitzblank ist, der spricht auch mit seiner Frau nicht, darauf können sich der Herr Baron verlassen –«
Madame Schmitz strich ihre schwarzseidene Schürze glatt und wartete einen Augenblick, ob Sven die Wahrheit dieser Behauptung anfechten werde. Da der junge Mann aber, den Kopf in die Hand gestützt, nachdenklich, ohne etwas zu erwiedern, vor sich niederschaute, so fuhr Frau Schmitz also fort:
»Ja, ja, Herr Baron, darauf können Sie sich verlassen, denn eine Wirthin – ich meine eine gute Wirthin – thut manchmal mehr an ihren Gästen, wie eine leibliche Mutter an ihren Kindern; und was ist meistens der Dank dafür? daß man die gute Wirthin vergißt, sobald man aus dem Hause ist, daß man, wenn man ein paar Jahre darauf an denselben Ort zurückkommt, thut, als ob man nicht wüßte, daß sie die schönsten meublirten Zimmer in der ganzen Stadt zu vermiethen hat, und statt dessen, nur um sie zu kränken, bei Frau Bartelmann eine Wohnung nimmt! bei Frau Bartelmann!«
Frau Schmitz warf die Bänder ihrer Haube mit einer energischen Handbewegung zurück und schoß einen verächtlichen Blick durch die offene Balkonthür auf die Villa, die im Morgensonnenschein so freundlich herübergrüßte, daß für jeden Unbefangenen der Gedanke, bei Frau Bartelmann zu wohnen, durchaus nichts Abschreckendes haben konnte.
»Aber ich weiß, was Mr. Durham dazu bestimmte, eine so lächerliche Wahl zu treffen,« fuhr Frau Köbes Schmitz noch erregter fort. »Mein Haus ist groß und es würden, außer Mr. Durham, noch Andere darin wohnen. Da könnte es nun leicht geschehen, daß Mrs. Durham auf der Treppe einem hübschen jungen Baron – keine Anspielung, Herr Baron, keine Anspielung! – begegnete, und da könnte es wieder Scenen geben, wie damals, als Bob Wesley mit im Hause wohnte.«
»Was geschah da?«
»Nun, der Bob war ein toller Bursch, höchstens achtzehn Jahre, aber er sah aus wie vierundzwanzig, und bildhübsch, das muß ihm sein Feind lassen. Er war erst seit ein paar Tagen von England herübergekommen, blos um Forellen zu fangen, wie er sagte, aber ich glaube, um so viel tolle Streiche wie möglich auszuführen. Sie gingen und fuhren und ritten alle Tage zusammen aus und schienen ein Herz und eine Seele. Aber eines Abends, als sie später wie gewöhnlich nach Hause kamen, – ich stand im Flur und leuchtete, – sagte Mrs. Durham: ich bin so müde, ich wollte, es trüge mich einer die Treppe hinauf. Sie hatte das kaum gesagt, als Mr. Bob sie um den Leib faßte und mit ihr, als ob sie ein Kind wäre, die Treppe hinauflief. Mr. Durham blieb unten stehen und schaute ihnen nach. Der Lichtschein fiel hell in sein Gesicht und ich werde den Ausdruck nie vergessen. Er wurde so finster, wie die Nacht, und die Zähne knirschten über einander, daß ich es deutlich hörte. Am andern Tage reisten sie plötzlich ab, obgleich sie anfänglich den ganzen Sommer hier bleiben wollten. O, ich sage Ihnen, Herr Baron, dieser Mr. Durham ist noch schlimmer, wie ein schwarzer Mohr. Der arme Mr. Bob! Nein, so ein Bild des Jammers, als der Wagen mit den Durham's davonrollte! Wollen Sie glauben, daß er vier Tage lang keinen Bissen gegessen hat?«
»Da scheint es allerdings hohe Zeit gewesen zu sein, daß Mr. Durham weiterreiste.«
»Wo denken Sie hin, Herr Baron?« rief Frau Schmitz mit großer Indignation; »nein, Alles was recht und billig ist, aber ich möchte der Mrs. Durham, um Alles in der Welt nichts Schlechtes nachgesagt haben. Um etwas Schlechtes zu thun, ist sie viel zu stolz, obgleich sie eigentlich auch wieder gar keine Ursache zum Stolzsein hat, denn Lucy, ihr Kammermädchen, erzählte mir – Sie müssen nicht glauben, Herr Baron, daß ich nach den Geheimnissen meiner Miether mich erkundige, aber diese Mädchen tragen es einem zu, man mag hören wollen oder nicht – Lucy erzählte mir, daß Mrs. Durham gar keine Engländerin, sondern eine Deutsche, und sogar eine blutarme Deutsche sei, die Mr. Durham von der Straße aufgelesen habe. Aber, wie gesagt, wer mag solchen Klatsch glauben! so viel ist freilich gewiß, daß Mrs. Durham so gut deutsch sprach wie ich oder der Herr Baron, und daß auch die Kinderchen deutsch redeten, daß es nur solche Freude war.«
»Wie viel Kinder sind denn da?«
»Zwei, ein Knabe und ein Mädchen. Sie waren damals fünf und drei Jahre alt. Edgar und Kitty hießen sie; es waren reizende kleine Bälger; Edgar – aber nun muß ich fort, hören Sie nur, Herr Baron, wie der Mr. Tomlinson an der Klingel reißt! So würden Sie nicht schellen und wenn Sie auch schon eine Stunde auf Ihr Frühstück gewartet hätten, und Sie sind doch ein Baron und das ist nur ein einfacher Mister. O, diese Engländer, diese Engländer!«
Frau Köbes Schmitz eilte aus dem Zimmer mit einer Geschwindigkeit, welche ihre Haubenbänder wie Flaggen hinter ihr herwehen machte, und deutlich genug verrieth, wie viel Werth sie auf den Comfort Mr. Tomlinson's legte.
Sven sprang, sobald sich Frau Schmitz entfernt hatte, in einer Aufregung vom Stuhle empor, die der scharfsichtigen Dame, wenn sie dieselbe gesehen hätte, sehr viel zu denken gegeben haben würde. Er lief ein paar Mal in seinem Zimmer auf und ab, ergriff dann seinen Operngucker, um nach der sonnebeschienenen Villa drüben hinüberzuschauen, legte, als er sah, daß nichts zu sehen war, das Glas wieder aus der Hand, um abermals aufgeregt im Zimmer hin- und herzuwandern.
Also dies Ideal, dieses Bild seiner Träume lebte, lebte in seiner unmittelbaren Nähe; es war die weiße Gestalt, die er einmal in der Abenddämmerung sich auf die Balustrade hatte lehnen sehen! Und sie war verheirathet, verheirathet mit einem Manne, der sie mit grundloser Eifersucht quälte, mit einem Unwürdigen ohne Zweifel, denn wann wäre jemals der Werth einer edlen Frau von einem Manne und noch dazu von ihrem Manne wahrhaft erkannt worden! es war die alte Geschichte, in deren dunkeln Kapiteln er gelesen hatte, als seine Augen aufgethan wurden über dem Wirrwar des modernen Lebens! die alte Geschichte, deren beweinenswerthe Heldin seine edle, unglückliche Mutter gewesen war! die alte Geschichte, die er seitdem schon so oft wieder und wiederum hatte lesen müssen! Und sah es nicht wie eine schlechte Ironie des Schicksals aus, daß er in aller Form eingeladen wurde, dem verhaßten Schauspiel als Zuschauer beizuwohnen? welcher Zufall, welcher tückische Dämon hatte bei dieser geheimnisvollen, unerklärlichen Einladung die Hand im Spiele?
Da flog die Thür auf und herein hüpfte Benno, den Hut, wie gewöhnlich, etwas auf dem einen Ohr, das Collegienheft, aus dem er eben docirt hatte, unter dem Arme und in der Hand einen Gegenstand tragend, den er mit einem (etwas schadhaften) rothseidenen Taschentuch bedeckt hatte.
»Was der Tausend bringst denn Du da?« fragte Sven, als Benno den Hut und das Collegienheft auf den Tisch gelegt hatte, und jetzt, den verhüllten Gegenstand in der Hand, mit einer gewissen Feierlichkeit in Miene und Geberde sich vor ihn hinstellte.
»Etwas, das Dich baß erfreuen wird, Bruderherz,« sprach Benno. »Sieh« – bei diesen Worten zog er langsam das Taschentuch weg, und präsentirte ein mit einem durchlöcherten Papierdeckel zugebundenes Glas, in welchem auf einer hölzernen Leiter ein großer Laubfrosch saß – »sieh dieses holde Geschöpf, welches Dich aus seinen großen, milden Augen so verständnißinnig anschaut, dessen zarter Busen in freudiger Erwartung unruhig Dir entgegenbebt. Noch gestern paßten auf dieses Kind der Natur des Anakreon duftige Verse:
Auf den blum'gen Wiesen weilst Du,
Leichten Sprunges fröhlich scherzend –
und heute Morgen schon saß es unter der Luftpumpe einsam, verlassen, hülflos – fühllose Henker umstanden es, weideten sich an seinen Qualen, und erwarteten, während die gerechte Indignation über eine so brutale Behandlung seinen Busen höher schwellen machte, mit teuflischer Freude den Augenblick, wo es in dem luftleeren Raum, der es umgab, die lustige Seele aushauchen würde. Da sprach ich also zu mir selbst: was beginnst du, schnöder Marterknechte Oberster? siehst du nicht in diesem unglücklichen Gefangenen deines liebsten Freundes theures Bild? Sitzt nicht auch er unter einer selbstgeschaffenen Luftpumpe? hat er nicht durch allerhand künstliche Mittel einen luftleeren Raum um sich verbreitet, indem seine arme Psyche unruhig umherflattert? schwellt nicht auch ihm die Indignation über eine verderbte Welt das edle Herz zum Zerspringen? und wird nicht auch er, wenn er die dünnen Ideen, die noch in seiner Atmosphäre flattern, aufgezehrt hat, aus Mangel an neuem Stoff für Hirn und Herz elend ersticken? – Und wie ich solches dachte, packte mich der Menschheit ganzer Jammer. Ich fiel dem schnöden Jünger der Wissenschaft, der sich an der Pumpe abmühte, in die Arme: halt, donnerte ich, halt, Elender, Du mordest meinen Freund! – Und so bringe ich denn nun hier dem Holden Holdes, dem Märtyrer seinen Bruder Märtyrer! Seid einig! fange Du Dir Deine Grillen, während er sich seine Fliegen fängt und während er die stillen, einfachen Weisen singt, welche ihn die Mutter Natur lehrte, blase Du auf der Melancholie süßer Flöte!«
Benno überreichte mit einer zierlichen Handbewegung Sven das Glas welches dieser lächelnd entgegennahm und in das Fenster stellte.
»Und nun von was Anderem;« sagte Benno, der sich unterdessen in Sven's Schaukelstuhl geworfen, und ein zierlich gefaltetes Billet aus der Brieftasche genommen hatte. »Willst Du nicht die Güte haben, mir diesen Brief, so mir heute Morgen von dem Boten der Post überbracht wurde, in mein geliebtes Deutsch zu übertragen? so viel ich sehen kann, kommt er von einem Mister, dessen Namen mir so fremd ist, wie die Sprache, in welcher er mich anzureden die Güte hat.«
Sven nahm das Billet. Es war genau dieselbe Einladung, die auch an ihn ergangen war. Er zeigte Benno das Billet, welches er erhalten hatte.
»Aber, wie kommen wir zu der Ehre?« fragte Benno.
»Das ist dieselbe Frage, die ich so eben an Dich richten wollte.«
»Und wo wohnt denn dieser gastfreundliche Sohn Albions?«
»Dort!« sagte Sven, mit der Hand durch die offene Balkonthür nach der sonnebeschienenen Villa deutend.
»Wo? dort in dem Hause an der Ecke, wo wir an dem Morgen Deiner Ankunft eingebrochen sind?«
»Genau da.«
»O, nun wird mir Alles klar!« rief Benno, »nein, das ist zu köstlich, zu famos!« und er lief im Zimmer umher, schnippte mit den Händen, und lachte aus voller Kehle, »das ist auf Ehre der schönste Witz, den ich seit langer Zeit erlebt habe.«
»Aber was hast Du Benno? ich verstehe ja von dem Allen kein Wort.«
»Nun, die Sache ist doch einfach genug! Wir haben ja in dem Hause Visite gemacht, weshalb sollte man uns denn nun nicht, wie es des Landes der Brauch ist, mit einer Einladung zum Thee beehren – ha, ha, ha?«
»Wir Visite gemacht? Du wirst doch unsern Studentenstreich von neulich keine Visite nennen?«
»Weshalb nicht? muß man denn die Leute, die man visitiren will, immer zu Hause treffen? Wozu wären denn die Visitenkarten, ha, ha, ha!«
»Aber um Himmelswillen, Benno, Du hast doch nicht meine Karte, die ich Dir an jenem Morgen gab, weil Du Dir, ich weiß nicht was? notiren wolltest, aus Versehen dagelassen?«
»Dagelassen? ja! aus Versehen? nein! im Gegentheil! ich habe auf Deine Karte in leserlichen Zügen p. f. v. pour faire visite, franz.: »um einen Besuch zu machen« – Anm.d.Hrsg. geschrieben und dazu ›Hotel zum Goldnen Stern;‹ dazu habe ich meine bescheidene Karte gelegt. Ich versichere Dich, sie nahmen sich ganz allerliebst aus neben der angefangenen Stickerei von Mistreß, wie sagtest Du, daß die guten Leutchen,hießen? ha, ha, ha!«
»Aber, Benno, Benno! was hast Du Dir denn bei dem Allen eigentlich gedacht?«
»Nichts mein Schatz, auf Ehre, nichts. Pfui, wer wird sich denn immer bei Allem gleich etwas denken! Ich habe der Katze Zufall ein Kügelchen hingeworfen, auf daß sie damit nach Belieben spielen und rollen kann. Nun wohl! was ist's denn weiter? Katze Zufall hat, uns ein paar Einladungskarten in die Hände gespielt. Wir können ja noch immer damit thun, was wir wollen.«
»Das Räthsel ist nur erst halb gelöst,« sagte Sven nachdenklich. »Es ist gegen alle englische Sitte und Gewohnheit, einen Fremden auf eine bloße Visitenkarte hin – ich nehme an, man hat unsere Visitenkarten für voll angesehen – einzuladen.«
»Warum könnten diese nicht eine Ausnahme von der Regel machen? Und halt, da besinne ich mich, daß Dr. Müller, den Du ja auch noch kennen mußt – der kleine Müller, weißt Du, er wohnte am Markte, der nette Kerl mit den rothen Backen und den weißen Händen – i, Du mußt Dich ja seiner erinnern; er trug stets einen abgeschabten schwarzen Sammtrock und lispelte etwas – na, es kommt ja nicht weiter darauf an – aber, was Du für ein Gedächtniß hast, auf Ehre, wie ein großlöcheriges Sieb – eh bien! Der kleine Müller erzählte mir, als wir neulich an der Villa vorüberkamen, es wohne ein reicher Engländer darin, der die sehr liebenswürdige Eigenschaft habe, außerordentlich gastfrei zu sein, besonders gegen Gelehrte und Solche, die es werden wollen. Er fragte mich, ob, er mich einführen solle. Ich achtete damals nicht darauf – jetzt fällt mir die Sache wieder ein. Möglicherweise ist er heute Abend auch da; jedenfalls kann ich von ihm erfahren, ob es sich der Mühe verlohnt, für ein paar Stunden mit einem Frack und ein paar neuen Glacés ausgerüstet, den Liebenswürdigen zu spielen.«
»Ich werde auf jeden Fall hingehen;« sagte Sven.
»Wirklich? nun das freut mich. Du scheinst doch mehr Geschmack zu finden an dem Treiben der Menschlein beiderlei Geschlechts, als Dein College, der melancholische Dänenprinz, der bekanntlich keinen Geschmack am Manne hatte und am Weibe auch nicht. Da kann ich meinen armen Laubfrosch ja wohl wieder mitnehmen?«
»Um ihn morgen wieder unter die Luftpumpe zu bringen? Nein, laß ihn nur hier! er soll eine Art memento mori! für mich sein.«
»Dem Du aber von Zeit zu Zeit eine Fliege geben mußt, wenn es seinen Zweck erfüllen soll. Wünschest Du, daß ich Dich heut Abend abhole, oder ziehest Du vor, als einzelner Stern am Theetisch von Mistreß Durham aufzugehen?«
»Du mußt ja doch hier vorüber.«
»Nun gut, so komme ich um acht. Au revoir, mon ami! ich bin überzeugt, wir werden uns gottvoll amüsiren.«