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Der Frühlingsabend lag warm und goldig über der gewaltigen Stadt, als Silvia aus dem Schlosse trat und den Weg nach Hause einschlug. Langsam, sinnend wandelte sie dahin. Was sie in der letzten Stunde erlebt hatte, war so viel seltsamer, als Alles, was sie bis jetzt erfahren, daß sie sich ernstlich fragte, ob sie träume oder wache. Hier fluthete der Abendschein noch um die Kuppeln der Tempel, um die Zinnen der Paläste, der Himmel blaute hoch hernieder – und eben erst war es um sie her kerzenerhellte Nacht gewesen; die Menschen drängten an ihr vorüber – Niemand sah ihr an, woher sie kam; dort trat die Wache vor der Prinzessin Philipp-Franz, die in offenem Wagen fuhr, in's Gewehr, und Spaziergänger auf den Trottoirs machten Front, lüfteten die Hüte und schauten sehr glücklich und befriedigt, wenn die schöne hohe Dame mit dem Kopfe nickte – und mit ihr hatte der König gesprochen, er hatte ihre Hand in der seinen gehabt und sich tief verbeugt. Gab es denn noch Wunder? Und war es viel weniger als ein Wunder, daß sie genau zu der Stunde bei ihrer Tante sein mußte, als der König dort eintrat? Ja, wem hätte sie geglaubt, der ihr gesagt, daß der König sich durch die Corridore seines Schlosses stehle, um Tante Sara zu besuchen, Tante Sara, des Vaters Schwester, die man dem Kinde so verdächtigt hatte, und die schließlich doch nur eine originelle, geistreiche alte Dame war, die allerdings in die alltägliche, hausbackene Wirklichkeit nicht paßte.
Und ihr selbst, die sie durch diese Wunder hindurchschritt, ihr würde der Wunder größtes gelingen: die Befreiung des Mannes, den Alle verlassen und verrathen, der trotz seiner göttergleichen Stärke seinen Feinden unterlegen war! Ihr würde das gelingen, ihr, die noch vor wenigen Stunden die Hände in hilfloser Verzweiflung gerungen!
Das junge Mädchen blickte stolz um sich, und im nächsten Moment senkte sie wieder die Augen. Nein, nicht stolz! – demüthig wollte sie sein, demüthig und reines Herzens, dann – aber dann auch gewiß – mußte Alles herrlich gelingen.
So langte sie beim Hotel des Freiherrn an. Sie wunderte sich, die Thür auf und den Portier und den Diener Paul in eifrigem Gespräche mit einigen Bedienten aus einem benachbarten Hause zu finden. Als die Gruppe der jungen Dame ansichtig wurde, trat sie auseinander.
Was giebt's? fragte Silvia den geschmeidigen Bedienten.
O, die gnädigen Fräulein sind vor einer halben Stunde weggefahren, nachdem sie bis zum letzten Augenblick auf Fräulein Silvia gewartet hatten; drinnen liegt ein Brief für Fräulein Silvia. Soll ich ihn holen?
Es ist nicht nöthig.
Silvia's Herz schlug heftig, als sie den Flur entlang nach dem Wohnzimmer ging. Was hatte dies zu bedeuten?
Auf dem Tische lag ein Brief von Walter's Hand: »Liebste Silvia! Soeben erhalte ich die Nachricht, daß der Freiherr sehr gefährlich erkrankt ist. Ich bringe Fräulein Charlotte und Amélie nach Tuchheim. Bleib Du bis auf Weiteres hier. Ich schreibe Dir, sobald ich kann, jedenfalls morgen.«
Gerade jetzt!
Das war Silvia's erster Gedanke. Gerade jetzt mußte dies neue Unheil kommen! – Bleib bis auf Weiteres – was heißt das? Bis morgen. Und dann? Dann fort von hier, während vielleicht noch nichts mit Leo entschieden ist. Sind wir denn nur die Schleppenträger dieser Familie, und haben kein eigenes Schicksal?
Die Thür wurde aufgerissen, und Miß Jones stürzte in das Gemach. Sie hatte in der Eile den runden, hochgelben Strohhut verkehrt aufgesetzt, daß die breiten Lilabänder über die Schulter herab auf die blaue Mantille hingen. Ihre Gesichtsfarbe war von der Eile und der Aufregung sehr geröthet, ihre Augen standen voll Thränen, und ihre Stimme war von Schluchzen unterbrochen, als sie, Silvia umarmend, rief:
Oh, Theuerste, Theuerste, haben Sie es gehört? Ist es nicht schrecklich? Armes, armes Mädchen! Wie wird sie es tragen?
Silvia antwortete nicht, aber in ihr sagte eine Stimme: Wer hat mich gefragt, wie ich es trage?
Ich bin positiv, daß er sterben wird, fuhr Miß Jones fort, positiv! Was gedenken Sie zu thun, Silvia? Heute Abend elf Uhr geht der Courierzug, der aber keine Verbindung mit Tuchheim hat.
Ich kann nicht fort, sagte Silvia.
Des Hauses wegen? Theuerste, lassen Sie das mir! Uebermorgen beginnen meine Pfingstferien; es ist sehr glücklich, daß diesmal alle meine jungen Damen nach Hause reisen. Ich bin gänzlich frei, zu kommen und zu gehen. Wollen Sie heute Nacht fort, ich werde in einer Stunde hier sein, und Sie wissen, ich kann ein Haus verwalten!
Miß Jones ging mit entschlossenen Schritten in dem Salon auf und ab. Sie fühlte das Bedürfniß, in dieser Lage irgend etwas zu thun. Dann aber überkam sie die Trauer um das neue Unglück, das so plötzlich über die Familie hereingebrochen war; sie setzte sich in einen Stuhl und klagte um den gütigen, milden Herrn, aus dessen Munde sie nie ein rauhes, unfreundliches Wort gehört habe die fünfzehn Jahre hindurch, die sie in seinem Hause verlebte; der, wenn er mit Frauen und Kindern sprach, nie die Stimme erhoben habe, und der, wenn je ein Mensch, ein Gentleman im schönsten Sinne des Wortes gewesen sei. Und wie das edle Haus, dessen Herr jetzt dahin gehe, einst so stolz dagestanden habe, und wie seine Säulen eine nach der andern gebrochen seien, und jetzt nur noch die Frauen da wären, über den Trümmern zu weinen.
Miß Jones wischte sich die Augen, setzte ihren Hut wieder auf den großen Kopf, umarmte Silvia mit den Worten: Senden Sie zu mir, wenn Sie meiner bedürfen! und stürmte zur Thür hinaus.
Silvia blieb allein – unruhig, verwirrt. Der tiefe, edle Schmerz der treuen, wackeren Miß hatte kein volles Echo in ihrer Brust gefunden. Sie hatte nicht weinen können, als sie die Thränen der älteren Freundin fließen sah. Jetzt aber, wie sie sich umblickte in den Zimmern, die sie so oft mit heiteren, geistreichen Menschen belebt gesehen, und die nun öde und leer standen, um sich vielleicht nie wieder zu füllen, als ihr Auge auf diese Möbel fiel, an deren jedem so viele ihrer Erinnerungen hafteten, auf jenes Sopha mit dem Ueberzug von blauem Damast, das sie als Kind so unendlich bewundert und das ihr nun fast fadenscheinig vorkam; als ihr Blick die Bilder an den Wänden streifte – die feinen, blassen Züge Charlotten's, das rosige, von dunklem Haar umflatterte Mädchengesicht, das Amélie in ihrem zwölften Jahre vorstellte und ihr noch heute ähnlich sah, das schöne, freundliche Antlitz des Mannes, der immer nur Güte und Liebe gegen sie gewesen und der jetzt dem Tode verfallen sein sollte – da athmete sie tief und schwer, aber weinen konnte sie auch jetzt nicht. Sie brauchen mich ja nicht, rief es in ihr, sie haben, Alle, Alle so viel Liebe im Leben und im Tode; er hat Niemand – nicht Vater, nicht Mutter, nicht Geschwister oder Freunde – Niemand, Niemand als mich!
In dem Zimmer wurde es dunkel, das Kammermädchen kam, brachte Licht und fragte, ob das Fräulein befehle, daß zur gewöhnlichen Stunde servirt werde? Das Mädchen hatte den lebhaften Wunsch, das Fräulein in eine Unterhaltung zu verwickeln, aber Silvia antwortete nicht, und das Mädchen schlich davon. Sie hatte dem Bedienten Paul nie glauben wollen, daß es mit der Herrlichkeit bald zu Ende sein werde – jetzt ließ es sich freilich mit Händen greifen, daß es zu Ende sei.
Endlich fand sich Silvia in ihrem Zimmer am offenen Fenster sitzend. Sie hätte nicht zu sagen gewußt, wie sie dorthin gekommen sei. Von dem Garten wehte die lauliche Luft herein. Der sanfte Schimmer des Mondes lag auf den hohen Bäumen, die Lilien auf den Beeten schienen weißlich durch das Dunkel. Aus einem benachbarten fürstlichen Garten kam fernher der Gesang der Nachtigallen.
Wie konnte ich früher schwelgen in der Schönheit solcher Nacht! früher! die ganze Herrlichkeit der Welt trank meine Seele in der Ahnung eines Glückes, das mir die Zukunft bringen mußte und von dem mir das Säuseln des Windes in den Blättern, die Strahlen des Mondes und die Flötentöne der Nachtigallen nur ferne, verworrene und doch so süß berauschende Kunde brachten. Ich wußte noch nicht, daß ich mein Leben in dieser Sehnsucht, die mir damals so köstlich dünkte, verzehren, daß die goldene Zukunft, der ich entgegenharrte, niemals kommen, daß man mich einspinnen würde in die Erbärmlichkeiten eines engbegrenzten Daseins ohne Ziel und ohne Zweck. Er hat mich herausgerissen aus dieser Qual, und deshalb muß ich ihm dienen als meinem Heiland und Erlöser. Das ist das holde Glück nicht, das ich mir erträumte; es hat nichts zu thun mit alledem, was sonst ein Mädchenherz beseligt. Es ist kein Kosen in blühenden Lauben; – es ist der strenge Dienst der Priesterin in der kühlen Halle ihrer Gottheit. Einsam ist die Priesterin, aber der Gott ist es nicht minder. – Ja, du bist einsam, du Schöner, Stolzer! Einsam, wie der Mond da droben! Jetzt bedecken schwarze Wolken deinen Glanz: aber herrlicher denn zuvor wirst du daraus hervorgehen und hoch und höher deine leuchtende Bahn durch die Himmelsräume ziehen. Ich will nichts von dir! nichts als den Schimmer, der von deinem Glanz in meine Dunkelheit fällt!
Sie legte das Haupt auf den Arm an der Fensterbrüstung. So saß sie lange, lange Zeit.