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Die zwölf jungen Damen in Miß Ethel Jones' Pensionat hatten zu Abend gespeist und eben unter Anführung von Miß Jones selbst und einer Unterlehrerin den Saal verlassen, um in das große Conversationszimmer geführt zu werden, in welchem sie vor dem Zubettegehen noch eine und eine halbe Stunde verweilen mußten. In dem Speisesaal war Niemand geblieben als Amélie, zu der sich alsbald eine Dienerin gesellte, dem Fräulein beim Abräumen zu helfen. Aber der große Speisetisch wurde nur halb zusammengeschoben und anstatt der grünen Wolldecke mit einem neuen Tafeltuch bedeckt; auch wurden neue Couverts für sieben Personen aufgelegt und die Tafel in einer Weise herausgeschmückt, die auf ein in so später Stunde noch zu feierndes Fest schließen ließ. Es war wohl keine Zeit zu verlieren, und Amélie, die eine weiße Küchenschürze über dem schwarzseidenen Kleide trug, hatte es sehr eilig. Ihre zarten Wangen waren von einer lebhaften Röthe überhaucht, wie sie sich eilig hierhin und dorthin bewegte und mit gewandter Hand die Flaschen, Gläser, Teller auf den Tisch vertheilte; das Mädchen, ein junges, rothbackiges Ding, frisch von Tuchheim, war desto ungeschickter, aber es bekam keine Schelte und keinen bösen Blick von Amélie, die im Gegentheil ihr: Nein, Dorette, anders herum! und: Wir machen das so, Dorette! immer in demselben freundlichen Tone wiederholte.
Dorette war weggeschickt worden, noch etwas zu holen, Amélie schaffte allein weiter. Ihre Miene war heiter, und manchmal sang sie sogar ein paar Töne, leise und sanft, wie Schwalbenzwitschern; dann flog auch wohl ein leichter Schatten von Ernst und Traurigkeit über ihr liebliches Antlitz; aber hell lachte sie auf, als die Thür sich jetzt öffnete und statt des erwarteten Mädchens Miß Jones selbst mit einer hohen Säule Teller im Arm hereintrat. Miß Jones stellte die Teller auf den Tisch und sagte: Help yourself! ich habe Dorette nach dem Weinhändler geschickt; ich bin positiv, der Mann nimmt die Bestellung für einen schlechten Scherz und läßt uns sitzen. Sie müssen also mit mir vorlieb nehmen. Aber für wie viel haben Sie denn gedeckt, Kind? Es fehlen noch zwei Couverts.
Und Miß Jones fing an, die zierliche Ordnung, die Amélie so eifrig zu Stande gebracht hatte, zu zerstören.
Nicht doch, nicht doch! rief Amélie eifrig; we are seven, Miß Jones, we are seven!
Poetical child! dear girl! murmelte Miß Jones, ohne sich irre machen zu lassen.
Ganz gewiß, versicherte Amélie. Sie und Tante Charlotte und ich – sind drei; Walter, Doctor Paulus, der Rechtsanwalt, Doctor Hauk, da der andere Redacteur nicht kommen kann, sind vier – sind sieben.
Sie haben Mister und Mistreß Rehbein vergessen, sagte Miß Jones mit einem kurzen heftigen Lachen, das bei der vortrefflichen Dame immer ein Zeichen ganz besonders aufgeregter Stimmung war.
Amélie blickte überrascht, flog dann auf Miß Jones zu und umarmte und küßte sie, indem sie rief: Liebe, Gute, haben Sie Dank, tausend Dank!
Miß Jones lachte wieder und sagte, indem sie sich aus Amélie's Armen losmachte: Sie wenden sich an die falsche Adresse, Kind! ganz an die falsche Adresse. Ich würde nie auf den Gedanken gekommen sein.
Wer denn? Tante Charlotte?
Ohne Zweifel.
Miß Jones setzte sich und fuhr in einem lehrhaften Tone fort:
Von mir konnte die Einladung nicht ausgehen. Sie wissen, Fräulein Amélie, daß ich aus einem Lande bin, wo man es mit den Rangunterschieden der verschiedenen Gesellschaftsklassen ein wenig genauer nimmt als in Eurer philosophischen Nation. Ich würde nie gewagt haben, die Frau eines Schneiders – denn, meine Theure, Mister Rehbein ist ein Schneider, Sie mögen mir sagen, was Sie wollen – an einem und demselben Tisch mit hochgeborenen Damen wie Ihre Tante und Sie selbst, mein Fräulein –
Amélie lachte silberhell und machte, indem sie ihre weiße Küchenschürze an beiden Zipfeln faßte, eine tiefe Verbeugung.
Lachen Sie nicht, Theuerste! sagte Miß Jones, ernsthaft mit dem Finger drohend. König Karl in der Köhlerhütte war immer König Karl, und eine Lady im Unglück ist immer eine Lady. Will sie nun in der Herablassung so weit gehen, sich mit Leuten aus dem Volke zu Tisch zu setzen, so ist sie dazu in ihrem Recht; ihr aber diese Zumuthung zu machen, wäre eine beleidigende Suggestion, deren ich mich niemals schuldig machen würde; niemals!
Und Miß Jones strich sehr energisch die Falten ihres großcarrirten Seidenkleides glatt.
Wie wird sich Walter freuen! rief Amélie, wie wird er glücklich sein, alle die lieben Menschen nun noch einmal um sich zu sehen. Ich muß hin, ihr zu danken! nein: erst will ich dies hier in Ordnung bringen, daß ich hernach ganz frei bin!
Sie machte sich mit erhöhtem Eifer wieder an ihre Arbeit; Miß Jones saß, gegen ihre Gewohnheit unthätig, nachdenklich da. Sie sah, während ihre Augen auf der leichten, anmuthigen Gestalt des jungen Mädchens ruhten, das Kind, das ihr vor nun beinahe achtzehn Jahren zur Pflege und Erziehung anvertraut worden war, das engelschöne, im Schoße des Reichthums großgewiegte Kind, dem die glänzendste Zukunft sicher schien; sie dachte daran, wie oft sie selbst, in ihrem Stolz auf den schönen Zögling, sich diese Zukunft ausgemalt hatte, mit Equipagen und Dienern ohne Zahl, und Parks und Schlössern und einer Grafen- oder Herzogskrone über dem Gemälde und da deckte sie nun den Tisch für die gar nicht aristokratischen Freunde ihres Geliebten, der morgen auf zwei Monate in's Gefängniß wandern sollte, und von Tuchheim heraufkommend, wo er von seinem alten Vater Abschied genommen hatte, in diesem Augenblick noch in einem Eisenbahnwagen – vermuthlich dritter Klasse – geschüttelt wurde.
Warum blicken Sie so ernst d'rein, liebe Jones? sagte Amélie; heute Abend darf Keiner traurig sein; Sie wissen, wir haben uns das Alle so fest vorgenommen! Fertig ist's und prachtvoll, nicht wahr? Schellte es nicht eben? aber es ist erst Neun, und um Neun kommt der Zug; wir haben noch ein paar Minuten Zeit, uns schön zu machen, bildschön, liebe, liebe Jones!
Sie schloß in zitternder Erregung Miß Jones in ihre Arme und eilte davon. Miß Jones blickte ihr nach, wiegte den großen Kopf und murmelte: Poor, noble child!
In dem hellerleuchteten, stattlichen Empfangzimmer saß Fräulein Charlotte mit Doctor Paulus, der eben gekommen war.
Ich mache mir nun doch rechte Vorwürfe, daß wir Walter nicht zugeredet haben, die dritte Instanz abzuwarten, sagte Charlotte; ein Aufschub wäre es immer gewesen, und wir hätten dann kühleres Wetter gehabt. Dem armen Jungen, der von Jugend auf die freie Luft des Waldes geathmet hat, muß ja ein so langer Aufenthalt in einer heißen dumpfen Zelle zur Qual werden. Ich bin recht um ihn besorgt, Doctor, Ihnen darf ich es ja sagen.
Der Doctor strich sich über sein spärliches Haupthaar und erwiederte:
Warum soll ich es leugnen, mir ist bei dem Gedanken, ihn so lange eingesperrt zu wissen, nichts weniger als heiter zu Muthe. Indessen Walter hat eine elastische Natur von großer Widerstandskraft und schließlich – ein Argument, das bei Ihnen, mein gnädiges Fräulein, von ganz besonderem Gewicht ist – die Sache war nicht zu ändern. Der Aufschub würde nur von kurzer Dauer gewesen sein, und nun haben wir den Vortheil, daß Walter zum nächsten Quartal, wo wir alle Kräfte brauchen werden, wieder frei ist. Walter ist ein zu guter Soldat, um nicht auf dem Platze zu sein, wenn es noththut. Vorläufig werden wir noch eine Zeitlang Windstille in der Politik haben, obgleich ich überzeugt bin, daß es nur die Ruhe vor dem Gewitter ist. Der König reist morgen ab; ich denke, die Kriegstrommel wird ihn bald genug zurückwirbeln.
Und haben Sie Nachrichten von Silvia?
Sehr indirecte und unsichere, von einem Collegen, der mit dem geheimen Medicinalrath Weber intimer bekannt ist. Der alte Schleicher, der Leo's wachsenden Einfluß beim König mit wachsendem Ingrimm sieht, macht seinem Groll in mysteriösen Andeutungen Luft, aus denen nur soviel mit Sicherheit hervorgeht, daß Silvia sich dem König gegenüber in eine Art von Egeria-Rolle hat hineindrängen lassen. Der König, scheint es, besucht Sara jetzt noch häufiger als sonst; er soll von Silvia in überschwänglichen Ausdrücken sprechen. Doch sind diese Nachrichten, wie gesagt, mit großer Vorsicht aufzunehmen. Es ist bekannt, daß der König den Geheimrath haßt, und Sie wissen, daß es seine königliche Gewohnheit ist, die Menschen, die er haßt, zu ärgern wie er kann, und sollte es auch auf seine eigene Kosten sein. Uebrigens, ehe ich es vergesse: auch Leo reist morgen ab; ich habe es zufällig aus guter Quelle. Man sagt, der König werde sich irgendwo mit ihm ein Rendezvous geben.
Charlotte schlug die schönen sanften Augen zu dem Doctor auf und sagte:
Sollten wir noch immer nicht den Versuch machen können, auf Silvia einzuwirken, jetzt, wo der König, wo Leo verreist, wo sie dem furchtbaren Schicksal, das sie sich bereitet, allein gegenübersteht und die Gefühle, die sie gewaltsam zurückdrängt, gewaltsam ihr Recht werden geltend machen? Vielleicht weiß sie auch nicht, daß Walter monatelang eingekerkert wird und ihr Vater mehr als je allein ist. Das wird mit wunderbarer Beredtsamkeit zu ihrem Herzen sprechen; aber sie muß es doch erst hören, und deswegen, däucht mir, dürfen wir nicht länger schweigen. Meinen Sie nicht auch?
Doctor Paulus zuckte die Achseln. Ich kann, sagte er, bevor ich nicht ein ganz sicheres Symptom ihres jetzigen Seelenzustandes habe, zu keinem directen Schritte rathen. Wir dürfen nie vergessen, daß Silvia ebenso stolz ist wie großmüthig und aufopferungsfähig. Sie wird lange Zeit brauchen, bevor sie sich selber eingesteht, daß sie geirrt hat; und ich weiß nicht wie lange, bevor sie es Anderen gegenüber eingestehen würde. Bis zum letzten Augenblick wird sich der Stolz hinter die Großmuth stecken und der Großmuth zuflüstern: ein halbes Opfer ist kein Opfer. Es ist in Silvias Natur bei aller Großartigkeit der Anlage etwas Gebundenes, Unfreies, Unlösbares, wie in allen Menschen, die sich nicht Knall und Fall entschließen können, nur der Wahrheit die Ehre zu geben und von ihrem Ich – ich meine von dem, wie sich ihr Ich dabei ausnimmt – gänzlich zu abstrahiren.
Ich weiß nicht, ob Sie damit den rechten Punkt treffen, erwiederte Charlotte; Sie finden dieselbe Unfreiheit auch bei Silvia's Vater, der sich nicht überwinden kann, seinen Einfluß bei Silvia geltend zu machen, der seinen tiefen Schmerz mit einer fast krankhaften Scheu vor der Welt verbirgt, am liebsten vor sich selbst verbergen möchte und das Alles wahrlich nicht aus Stolz thut, sondern in tiefster Demuth, ohne gewiß nur jemals daran zu denken, wie er sich dabei ausnimmt.
Bescheidenheit und Stolz sehen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich, sagte der Doctor; überdies, um uns selbst los zu werden, müssen wir in einem großen Kreise mit unseres Gleichen verkehren; der Einsame hört in der Stille um sich her immer eine Stimme, die: Wo bist du? ruft, und er sagt zu jedem Bach, der ihm sein Bild zurückwirft: Hier bin ich. Wie kann er sich da jemals selbst vergessen? jemals zu dem rechten Maßstab seiner selbst kommen? Ich meine, die beredte Klage verräth oft sehr viel mehr Bescheidenheit, als das Verschweigen des Schmerzes; ich lobe es an Walter, daß er gelernt hat – denn früher konnte er es auch nicht – zu sprechen, wenn ihm das Herz voll ist.
Walter's Lob in Ihrem Munde, lieber Freund, hat schon seit langer Zeit nichts Befremdendes mehr, sagte Charlotte mit einem feinen Lächeln.
Ich weiß es, entgegnete Doctor Paulus lebhaft, aber soll ich ihn nicht loben, wenn ich – selbstverständlich nicht bei Ihnen, aber bei so vielen Andern – alle Tage sehen muß, wie sehr man ihn unterschätzt? – weil er nicht nach seinen Idealen springt, sondern sich Schritt für Schritt hinaufarbeitet; weil er keine pathetischen Reden hält, wie Leo, sondern seine Pflicht thut sans phrase; weil er eine einmal von ihm ausgestellte Meinung, wenn er sich von der Unhaltbarkeit derselben überzeugt hat, nicht bis zum Unsinn hartnäckig verficht, sondern ganz einfach erklärt: ich habe mich geirrt – kommen sie und zucken die Achsel über ihn und sagen: Ein ganz guter Junge, aber doch herzlich unbedeutend, und Leute sagen das, die Gott auf den Knieen danken könnten, wenn sie nur halb seine Kraft und seine Consequenz, ja, und auch nur halb soviel Phantasie und Geist wie er hätten, von seinem Herzen ganz zu schweigen.
Der Doctor stand auf, um Amélie entgegen zu gehen, die eben in das Zimmer trat, aber ohne sich aufzuhalten, ja ohne nur die in demselben Befindlichen anzusehen, durch die zweite Thür, welche auf den Flur führte, hinauseilte. Sie hatte die Thür offen gelassen. Charlotte und Doctor Paulus sahen sich lächelnd an und sagten wie aus Einem Munde: Walter! Im nächsten Augenblick schon kamen Walter und Amélie herein, Walter frisch und braun von dem längeren Aufenthalte in den Bergen und Wäldern seiner Heimath, Amélie mit gerötheten Wangen und glückselig strahlenden Augen. Walter schüttelte Doctor Paulus, dessen ernstes Gesicht beim Anblick seines Lieblings sich aufhellte, die Hand und eilte dann zu Charlotte, die, als er sich auf ihre Hand herabbeugte, ihn in ihre Arme schloß; aber bevor er wieder zu Amélie gelangen konnte, welche, vor Freude bebend und jede seiner Bewegungen verfolgend, dastand, öffnete sich abermals die Thür, und Miß Jones stürmte herein mit weit ausgebreiteten Armen, rufend: Auch an mein Herz, junger Mann!
Wie haben Sie den Vater gefunden? fragte Charlotte, Walter, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, an ihre Seite winkend.
Ueber Walter's Gesicht lagerte sich ein tiefer Schatten. Ich fand ihn körperlich sehr gealtert, erwiederte er. Es erschreckte mich, zu sehen, daß sein Haar in der kurzen Zeit ganz grau geworden ist, und so bemerkte ich auch durchweg, daß ihn die alte elastische Kraft verlassen hat. Sein Gang, seine Bewegungen sind nicht mehr so rasch als sonst, und was mir besonders aufgefallen ist, er sieht nicht mehr so scharf; einmal sagte er selbst: Mir ist, als ob ein Nebel auf die ganze Welt gefallen wäre. Dabei ist er aber merkwürdigerweise geistig frischer, zum wenigsten regsamer, als wir ihn zum letztenmale sahen. Er liest, was er sonst nicht that, die Zeitungen mit großer Aufmerksamkeit – besonders natürlich unsere Zeitung – wir haben lange politische Gespräche gehabt. Um die Tuchheimer Angelegenheit bekümmert er sich mehr als je. Sie haben ihn in diesen Tagen in den Gemeindevorstand gewählt, und er hat die Wahl angenommen. Ich freue mich sehr darüber, um seinethalben und der Tuchheimer wegen.
Wie steht es mit der Fabrik? fragte Doctor Paulus, der die letzten Worte gehört hatte.
Schlecht, sagte Walter; der Vater erzählte mir die seltsamsten Dinge über das Treiben der Leute; ich selbst habe Viele gesprochen und die Aussagen des Vaters durchweg bestätigen hören. Der alte Krafft, den sie zum Werkmeister gemacht haben, ist zwar ein tüchtiger Arbeiter, aber er hat keine Autorität, und am Ende nicht einmal durch seine Schuld. Man will überhaupt nicht gehorchen. Dann haben sie einen Buchhalter in der Person eines Kaufmanns aus der Kreisstadt engagirt, der sich bisher mehr durch seine Sucht zu extravaganten Speculationen, als durch Erfolge ausgezeichnet hat. Der Mann mag ehrlich sein, obgleich seine Physiognomie mir wenig Vertrauen eingeflößt hat; aber, da kein Einziger unter ihnen von kaufmännischen Manipulationen auch nur das Mindeste versteht, trauen sie ihm nicht, überwachen ängstlich jeden seiner Schritte und werden dabei schließlich, wenn er sie betrügen will, es dennoch nicht hindern können. So geht das fort. Der alte Krafft hat mir seufzend gestanden, daß, wenn nicht bald eine Besserung eintrete, das Ende nicht abzusehen sei, was wohl so viel heißen wird, daß es nur zu bald abzusehen ist. Da hat nun der Vater gar viel zu rathen, zum Guten zu reden, zu schlichten. Die Leute kommen zu ihm, weil sie von früher her Vertrauen zu ihm haben, und er läßt sich das Alles angelegen sein, als ob es sein eigenstes Werk wäre.
Wie spricht er von Silvia? fragte Charlotte.
Wie von einer weit Entfernten, die eine beschwerliche Reise zu machen hat, bevor sie wieder bei uns ist, von der wir aber mit Sicherheit erwarten, daß sie zurückkehren wird. Sie, die Sie den Vater so genau kennen, werden mich nicht mißverstehen, wenn ich hinzufüge, daß er in Beziehung auf Silvia – wie wohl in allen Dingen, die sein Herz sehr tief berühren – nicht ganz aufrichtig ist, weder gegen uns Andere noch gegen sich selbst, und daß es daher schwer, ja unmöglich ist, über seinen Seelenzustand etwas Bestimmtes auszusagen. Seine ergrauten Haare zeugen gegen die Ruhe, die er zur Schau trägt.
Und Tante Malchen?
Die gute Tante! sagte Walter mit trübem Lächeln; es giebt nichts Rührenderes als die Sorgfalt, mit welcher sie den Vater pflegt, der ihr für alle Mühe so wenig Dank weiß. Sie ist ganz die Alte, nur noch demüthiger und liebevoller als sonst. Und dann ist eine merkwürdige Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie legt keine Karten mehr. Es fiel mir auf; ich fragte sie danach, und sie antwortete: Ich habe keine Zeit mehr dazu. Als ich sie darauf nicht ohne einige Befremdung ansah – denn Zeit hat sie wahrlich genug – fuhr sie zaghaft fort: Und dann – das Leben ist so sehr ernst, man soll nicht mit ihm spielen. Die arme Tante! das Bischen unbewußter Humor, mit dem sie früher die Welt auf ihrem Kartentische in Ordnung brachte, ist ihr nun auch ausgegangen. – Ach, wie gütig Sie sind! rief Walter, Charlotte lebhaft die Hand küssend, als jetzt sein College in der Redaction der Zeitung, Doctor Hauk, und der Anwalt in das Zimmer traten; wie hätte ich das erwarten können! Das wird ja ein wahrer Festabend!
Charlotte lächelte; Walter eilte, die Freunde zu begrüßen. Der gewandte junge Anwalt gesellte sich alsbald zu den Damen, während Doctor Hauk, ein großer gravitätischer Mann mit einem ernsten, beinahe finstern Gesicht, durch das nur je zuweilen ein sarkastisches Lächeln wie Wetterleuchten zuckte, mit den Männern sogleich in ein politisches Gespräch gerieth.
Der Prophet weiß nichts von seinem Vaterlande, sagte er zu Walter; da kommen Sie von Tuchheim, und ich muß Ihnen das Neueste von Tuchheim erzählen. Der Bruder Ihrer Braut ist Landrath des dortigen Kreises geworden.
Doctor Paulus und Walter sahen sich verwundert an. Es steht schon in der Abendnummer der ... Zeitung, fuhr Doctor Hauk fort; ich weiß aber noch außerdem aus bester Quelle, wie die Sache sich gemacht hat. Der König, der, wie Sie wissen, morgen abreist, hat um zwei Uhr Nachmittags noch eine Zusammenkunft mit dem Prinzen gehabt, in der von beiden Seiten die königlichsten Worte gefallen sind. Hernach ist die Königin dazu gekommen; schließlich hat der König natürlich geweint und den Prinzen umarmt, worauf sie sich gegenseitig ihre Bedingungen gemacht haben. Dem dringendsten Verlangen des Prinzen, daß er Ihren Vetter fallen lassen solle, hat der König nicht nachgegeben, trotzdem auch die Königin vor ihm auf den Knieen gelegen haben soll. Dafür hat er aber dem Prinzen verschiedene Concessionen machen müssen, unter Anderem die sofortige Ernennung Herrn von Tuchheim's zum Landrath.
Das ist eine Mine gegen Ihre Candidatur in unserem Kreise, sagte Walter zu Paulus.
Es hat noch einen andern Zweck, fürchte ich, entgegnete dieser: vom Assessor zum Minister ist der Schritt selbst dem antibureaukratischen Prinzen zu groß; vom Landrath geht es schon eher. Uebrigens ist die Sache wirklich von großer Wichtigkeit, Ihr Herren. Sie beweist auf das Schlagendste, daß man in den Kreisen des Prinzen jetzt mit Sicherheit auf einen sehr bald erfolgenden Umschwung der Dinge rechnet. Ich bin überzeugt, daß Weber dem Prinzen über den Zustand des Königs sehr – befriedigende Mittheilungen gemacht hat. Man hofft entschieden auf seine Abdankung zum Herbst, und daß diese Reise die letzte vor der großen Reise ist.
Apropos, Reise, sagte Doctor Hauk. Wissen Sie, College, daß die Polizei durch Ihre Reise in eine herzerquickende Aufregung versetzt ist? Man glaubt Sie über alle Berge. Vor einer Stunde erkundigte man sich, zum viertenmale, wenn ich nicht irre, in der Redaction nach Ihrem Befinden; ich meine nach dem Wo? nicht nach dem Wie? Ich erklärte, von dem Letzteren nicht unterrichtet zu sein, das Erstere aber für Redactionsgeheimniß, worauf der Diener der heiligen Hermandad nicht übel Lust zu verspüren schien, mich anstatt Ihrer in sichern Gewahrsam zu bringen. Ich bin überzeugt, wenn man wüßte, daß Sie hier sind, Sie schliefen schon diese Nacht hinter Schloß und Riegel.
St! sagte Walter, mit einem Blick nach dem Sopha; ich bin deshalb dem Wunsche der Damen nachgekommen, und von dem Bahnhof direct hierher gefahren, obgleich ich meinem guten Rehbein gern guten Abend gesagt hätte. Wie steht es mit der Association?
Gut, erwiederte Paulus; obgleich sie uns nach Kräften chicaniren; aber Rehbein ist zäh, oder läßt sich, wie er es ausdrückt, nicht am Zeuge flicken.
Ich hätte ihn gern gesprochen, sagte Walter.
Wen hättest Du gern gesprochen? fragte Amélie, die sich der Gruppe genähert hatte.
Walter nahm ihren Arm.
Einen meiner allerbesten Freunde, erwiederte er, dem ich sehr, sehr viel verdanke und den ich heute Abend schmerzlich vermisse: meinen braven Rehbein. Ich bin fest überzeugt, die treue Seele legt sich heute nicht schlafen, bis ich nach Hause komme. Warum muß er fehlen, wenn meine anderen Freunde hier versammelt sind?
Aber Walter, Dein guter Rehbein ist doch nicht salonfähig! sagte Amélie, die bei dem Versuch, ihren Verlobten zu mystificiren, erröthete.
Ist das Dein Ernst, Mädchen? fragte Walter stehenbleibend.
Mein vollkommener Ernst, entgegnete Amélie, welche die Leichtigkeit, mit welcher Walter sich täuschen ließ, ermuthigte, in dem Scherze fortzufahren, denn, wenn wir wirklich Herrn Rehbein hätten einladen wollen, so hätten wir auch Frau Rehbein nicht zu Hause lassen können, und Du wirst mir zugeben, lieber Walter, das wäre denn doch nicht gegangen.
Und weshalb nicht? erwiederte Walter; ich gebe zu und weiß so gut wie irgend wer, daß Frau Rehbein kein Umgang für Tante Charlotte, oder Miß Jones, oder Dich ist. Aber davon ist ja hier gar nicht die Rede. Die gute, bescheidene Frau würde den Abstand, der sie von Euch trennt, niemals vergessen, würde eine einmalige Einladung bei einer besonderen Gelegenheit einfach für das nehmen, was sie ist, eine Freundlichkeit, aus der für sie keine Rechte und für Euch keine Pflichten erwachsen. Und dann, beschränkt und ungebildet wie sie ist, ist sie, das Bischen Tournure und angelernte Phrasen abgerechnet, nicht ungebildeter und beschränkter als hundert Andere, die Ihr hundertmal in der Gesellschaft bei Euch empfangen habt. Ist es nicht betrübend, daß, wie es scheint, in alle Ewigkeit Kleider Leute machen sollen! Selbst in den Augen so guter, so feinfühlender, so aufgeklärter Menschen, wie Ihr? Soll Einem da nicht um den Fortschritt, von dem wir so viel reden und für den wir Alle arbeiten, bange werden?
Walter hatte das lebhaft und nicht ohne Bitterkeit gesagt; Amélie hatte es schon längst bereut, den Scherz so weit getrieben zu haben, und stand jetzt mit der Röthe der Verlegenheit auf den Wangen und mit ängstlich gesenkten Wimpern vor ihm. Sie wollte reden, aber ehe sie noch so weit kam, öffnete sich die Thür, und hinter der corpulenten Gestalt der würdigen Schneidersfrau erschien, mit dem kahlen Köpfchen ihr nur noch eben über die Schulter blickend, Herr Jeremias Rehbein.
Amélie erröthete bei diesem Anblick nur noch viel mehr und sagte schnell und leise: Es ist das Werk der Tante!
Charlotte hatte sich bei dem Eintreten der längst Erwarteten erhoben; Frau Rehbein, die ein schwarzseidenes Kleid und eine stattliche Haube trug, war verwirrt an der Thür stehen geblieben und hätte dadurch beinahe ihren Gatten, der auf ihr stetiges Vorwärtsschreiten gerechnet hatte, zu Fall gebracht. Aber Herr Rehbein verlor seine Geistesgegenwart keineswegs; er ergriff die Hand seiner Frau, führte sie mit zierlichem Anstande durch die ganze Breite des Zimmers zu Charlotten und sagte, sich mit etwas altmodischer Würde verbeugend: Ich habe die Ehre, Madame, Ihnen meine Frau vorzustellen; liebes Lieschen, diese Dame ist das Fräulein von Tuchheim, von dem ich Dir schon so viel erzählt habe.
Herr Rehbein berührte die Fingerspitzen von Charlotten's ihm dargereichter Hand mit seinen Fingerspitzen, verbeugte sich abermals und trat zurück; Charlotte stellte Frau Rehbein Miß Jones vor und Amélie. Miß Jones streckte Frau Rehbein einen Finger entgegen, mit dem Frau Rehbein nichts anzufangen wußte, und Amélie drückte ihr die beiden fetten Hände und sagte ihr, wie sie sich freue, ihres Walter's gute Freundin zu sehen, und daß sie ihr für all das Liebe, das sie an ihrem Walter so viele Jahre hindurch gethan, von Herzen danke.
Die grenzenlose Verwirrung, die auf dem gutmüthigen, breiten Gesichte der braven Schneidersfrau gelegen hatte, verschwand vor Amélie's freundlichen Worten und Amélie's sanften Augen. Sie konnte endlich ihre Zunge, die ihr bis dahin am Gaumen geklebt hatte wieder gebrauchen und versicherte, daß sie sich Amélie nicht halb so hübsch und Fräulein Charlotte viel älter aussehend vorgestellt habe; was aber das Gute betreffe, das sie an Walter gethan, so sei das nur ihre Schuldigkeit als Wirthin gewesen.
Und dann sehen Sie, fuhr sie in geheimnißvollem Flüsterton fort, ich kann mich gar nicht darüber beruhigen, daß ich zu dem abscheulichen Buch – Gott verzeihe mir die Sünde! – dessentwegen er jetzt in den Kerker geworfen werden soll, doch am Ende sehr viel beigetragen habe. Ich habe ihm des Abends Thee gekocht, wenn er in der Nacht noch arbeiten wollte; ich habe dafür gesorgt, daß er Oel auf der Lampe hatte; ich habe auf die Blätter, die er am Abend vollgeschrieben, des Morgens, wenn das Mädchen rein machte, immer schwere Gegenstände gelegt, eine Schere, oder ein Messer, oder eine Stange Siegellack, oder ein Buch, oder dergleichen, damit sie nicht zum Fenster hinausgeweht würden. Ich denke immer, wenn ich in meiner Dummheit nicht so viel mitgeholfen, oder ihm ein paarmal ordentlich in's Gewissen geredet hätte, er hätte es doch am Ende sein lassen.
Charlotte und Amélie konnten sich des Lachens nicht enthalten, während Miß Jones ein paar englische Worte murmelte, die, nach ihrem Aussehen zu schließen, kein Compliment für Frau Rehbein enthielten.
Ach, lachen Sie nicht, meine lieben Damen, sagte Frau Rehbein, Sie wissen nicht, welche Angst ich seit der Zeit, daß Walter sich auf diese Geschichten eingelassen hat, ausgestanden habe. Es vergeht fast keine Woche, ohne daß nicht so ein Polizist, der nach Walter fragt, mich auf den Tod erschreckt. Daß sie nach meinem Manne fragen, daran habe ich mich leider Gottes in diesen letzten gesegneten fünfundzwanzig Jahren schon ganz gut gewöhnt; aber der arme Walter!
Frau Rehbein schüttelte wehmüthig den Kopf und fuhr in noch leiserem Tone fort: Denken Sie, heute Abend, ehe Rehbein nach Hause kam, war wieder so ein Mensch da – sie kommen immer, wenn es schummrig ist, damit sie Einen desto mehr erschrecken – und sagte, er müsse wissen, wann Walter wieder nach Hause komme! Du lieber Himmel, es war ein alter Mann, der ganz außer Athem war, und da dachte ich denn, ich könnte –
Charlotte und Amélie erfuhren nicht, was Frau Rehbein zu können gedacht hatte, denn die Herren, von Miß Jones aufgefordert, traten heran, die Damen zu Tisch zu führen. Doctor Paulus bot Charlotten den Arm, Walter führte Amélie, Doctor Hauk, der sich auf sein Englischsprechen viel zu gute that, Miß Jones; der junge Anwalt sah bestürzt drein, als für ihn nur noch Frau Rehbein übrig blieb, und Herr Rehbein schloß den Zug, indem er sich, da Niemand seines Armes bedurfte, um doch auch etwas zu thun, die schmalen kleinen Hände eifrig rieb und dazu vergnügt mit dem kahlen Köpfchen nickte.
Man hatte bereits ein paar Stunden in dem schönen hellerleuchteten Speisezimmer zugebracht; die Uhr ging auf Zwölf, und Miß Jones, die Doctor Paulus zur Linken saß, erinnerte zum andernmale daran, daß es Zeit für den Doctor sei, eine kleine Rede zu halten. Charlotte winkte dem Doctor zu, Paulus erhob sich, klingelte an das Glas, die sehr lebhafte Unterhaltung, die überall um den Tisch her gepflogen wurde, schwieg, und der Doctor sprach:
Werthe Damen und gute Freunde! Unser Liebesmahl ist beendet, die Abschiedsstunde ist da, und so mag es mir denn vergönnt sein, in wenigen schlichten Worten einem Gedanken Ausdruck zu geben, in welchem wir, glaube ich, uns Alle in diesem Augenblick begegnen. Unser Freund und Mitstreiter, unser lieber Walter, steht im Begriff, dafür, daß er ohne Menschenfurcht seine Meinung frei geäußert hat, auf Monate seiner Freiheit beraubt zu werden.
Bei diesen Worten fing Frau Rehbein leise an zu schluchzen, während Miß Jones ein energisches Hear! hear! ertönen ließ. Paulus fuhr fort:
Nun wird es Niemandem unter uns einfallen, ihn deswegen zu beklagen in jenem kläglichen Sinne, der nicht anerkennt, daß für gerechte Dinge zu leiden, dem Guten eine Pflicht und eine Ehre ist. Wir sind im Gegentheil überzeugt, daß den pflichtgetreuen Mann das Leiden, das ihm aus seiner Pflichterfüllung erwächst, im Grunde gar nichts angeht, sondern nur die, welche es ihm in ihres Geistes Thorheit und ihres Herzens Schlechtigkeit bereiteten. Ein Volk, das, wie das unsere, eben anfängt, sich aus mittelalterlich veralteten Zuständen zur Freiheit und zum Licht heraufzuarbeiten, ist einer ungeheuren marschirenden Colonne zu vergleichen, in welcher die einzelnen Glieder die Distancen immer mehr verlieren, und die Letzten bald nicht mehr wissen, wo die Ersten sind und was die Ersten treiben. Wir nun, die wir uns schmeicheln, in der ersten Glieder einem zu marschiren, wir müssen, um die Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, sehr viele – unverhältnißmäßig viele Mühen und Gefahren erdulden. Das liegt nun einmal in der Natur der menschlichen Entwicklung und ist nicht zu ändern. Das Blut also und der Schweiß, den wir bei dieser unserer Pionier-Arbeit vergießen, soll uns nicht dauern, selbst wenn wir vergeblich uns gemüht haben sollten. Aber es wird nicht vergeblich sein. Die hinter uns Kommenden werden auf dem glatteren und breiteren Wege, den wir ihnen bereiteten, kaum noch eine Ahnung haben von der Härte unseres Lebens, und sie sollen es auch nicht, wozu hätten wir sonst gelebt! Es wird auch für unser Volk der Morgen der Freiheit tagen. Daß dieser Tag bald komme, und daß es unserem Freunde, so viel an ihm ist, vergönnt sein möge, den Kampf, den er begonnen, mit schicklichem Muthe und ausdauernder Kraft fortzuführen bis an sein, dann wahrlich selig zu preisendes Ende – darauf, meine werthen Damen und lieben Freunde, lassen Sie uns nach guter deutscher Sitte mit den Gläsern anklingen!
Die Gläser klangen aneinander. Frau Rehbein schluchzte laut. Miß Jones wendete sich zu ihrem Nachbar und sagte: Diese Frau mit ihrem ewigen Weinen wird mich noch ganz nervös machen. Walter war, während die Andern sich wieder setzten, stehen geblieben.
Ich danke meinem verehrten Freunde, sagte er, Paulus freundlich zunickend, daß er unsere Blicke über das Individuelle hinweg sogleich auf das Allgemeine gewendet hat, auf den großen Gedanken unserer culturhistorischen Mission, der, wie eine Sonne, unser Leben durchleuchtet, also, daß nichts Dunkles, nichts Unklares in uns bleibt, kein Rest von Selbstsucht, der nicht aufgehen will in dem großen heiligen Zweck. Ich weiß es wohl, daß sie uns ob dieses Strebens verhöhnen, daß sie uns Ideologen schelten, unpraktische Träumer, die von ihrem Wolkenkukuksheim niemals den Weg finden werden auf diese reale Erde. Laßt sie! Wir sind so unpraktisch nicht, wie sie uns wähnen. Wir wissen recht gut, wie eine Rose duftet, und wie süß die Nachtigall singt, ja, wir wissen es besser, als es irgend einer wissen kann; wir und nur wir von all den Gästen, die aus der Festhalle treten, breiten die Arme aus und sagen: O sel'ge, sel'ge Nacht!
Aber es ist nicht blos, daß wir in uns selbst ein edleres und reicheres Leben führen, weil der humane Gedanke, der in seinem höchsten Ausdrucke die Liebe ist, unser Herz und unsere Sinne erschlossen hat. Dieses reichere und höhere Leben ist nur eine Zugabe, die uns wird, weil wir nach dem Reiche Gottes trachten und nach seiner Gerechtigkeit, und dieses Beides ist so fein verknüpft, daß Eines ohne das Andere weder sein noch gedacht werden kann. Das Trachten nach der Gerechtigkeit macht uns zu den glücklichsten, in erster Linie aber zu den wichtigsten Menschen. Wir, die Ideologen, die Träumer, die Wolkenkukuksheimer dürfen es ohne Selbstüberhebung aussprechen, daß wir das Salz der Erde sind. Ohne uns würde in dem trockenen Sande der öden Selbstsucht nicht blos alle Schönheit, sondern das Leben selbst erstarren; die Erde würde bald genug ein Aufenthalt für wilde Thiere in menschenähnlicher Gestalt sein. Zu uns, den Phantasten, kommen sie, die klugen Selbstlinge, wie mürrische Bettler, und empfangen aus unseren Händen das Brod des Lebens; ja, so groß ist unsere Macht, daß die Sclaven des Egoismus, so tief sie uns verachten, unsere Livrée tragen, sich mit unseren Farben schmücken, daß sie, um ihr Räuberwesen einigermaßen ungestraft treiben zu können, erst einmal der öffentlichen Moral ihren Tribut zahlen müssen. Und dieser Tribut ist mit jedem Jahre größer geworden, und wird mit jedem Jahre größer, wird schließlich so groß werden, daß die klugen Rechner zuletzt nicht mehr auf ihre Kosten kommen, daß endlich das Plus auf unserer Seite ist! Ja, meine Freunde, uns gehört die Erde, uns gehört das Leben, denn wir allein leben es ohne Furcht; wir allein können uns an dem Duft jeder guten Handlung wahrhaft erlaben; in unser Ohr allein klingt melodisch das Lied der Freiheit, das sie lauter und leiser an allen Orten singen, und zu jedem Tage, der da wird und uns voll des alten guten Glaubens an den Sieg der Wahrheit und der Freiheit findet, dürfen wir sagen: O sel'ger, sel'ger Tag!
Amélie hatte sich schon lange, ehe Walter zu Ende gesprochen, erhoben, mit gefalteten Händen, die Augen, die immer größer und glänzender wurden, auf ihren Verlobten gerichtet, die Lippen leise bewegend, als spräche sie jedes seiner Worte nach, wie ein priesterliches Gebet. Jetzt, als er bei den letzten Worten sich zu ihr wendete, warf sie sich an seine Brust. Aller Augen waren mit inniger Theilnahme auf dies junge schöne Paar gerichtet, mit Ausnahme der Frau Rehbein, die hinter ihrem Taschentuche schluchzte, und Miß Jones, die wiederum Frau Rehbein anblickte und zu ihrem Nachbar äußerte: Sie macht mich ungeduldig, diese gute Frau. Well! Nun fängt dieser kleine Mann auch noch an zu sprechen!
In der That hatte sich Herr Jeremias Rehbein erhoben und mit einer nervösen Bewegung an das Glas geschlagen.
Meine Damen und meine Herren!
Hear, hear! rief Miß Jones, die sich auf ein humoristisches Nachspiel gefaßt machte.
Doctor Hauk lächelte sarkastisch; er wußte, daß Herrn Rehbein die fünfundzwanzigjährige Uebung zu einem ausgezeichneten Redner gemacht hatte.
Jeremias Rehbein fuhr fort:
Es sind goldene Worte, die wir soeben von unseren beiden Freunden gehört haben, männliche Worte für das Ohr eines Mannes berechnet. Aber meine so hochgeschätzten Freunde werden es mir nicht übel deuten, wenn ich sie darauf aufmerksam mache, daß sie doch in erster Linie an sich selbst, ich meine an die Männerwelt gedacht haben, und weniger an die, auf deren Antheil von jeher die größere Last des Menschendaseins gefallen ist, und noch fällt. Ja, meine Freunde, wir haben uns das bessere Theil erwählt. Es ist ein Ding, im berstenden Schiffe mit den Wogen kämpfen, und ein anderes, am Strande stehen und hilflos die Hände ringen; es ist ein Ding, sich, und wäre es bei geschlossenen Thüren, gegen eine perfide Anklage mit Scharfsinn und Beredtsamkeit vertheidigen, und ein anderes, draußen auf der Straße irren und den Spruch des Gerichtes abwarten, der den Vater, den Gatten, den Geliebten auf wer weiß wie lange Zeit dem Kerker überantworten wird. Wir Männer drängen uns überall in den Kugelregen der Gefahr, wo unser fieberhaft erregter Puls den Tact schlägt zu der Sturmtrommel; der Frauen Puls ist nicht weniger erregt, aber von dem Fieber der Ungewißheit, der Sorge, der Angst. Wie kann dies Mißverhältniß ausgeglichen werden? Ich habe mich das oft gefragt, ja, ich frage es mich täglich; denn was ist eine Freiheit, was gilt mir eine Freiheit, die mir die Fesseln von den Händen nimmt und sie an den Händen des Wesens läßt, das mir das Liebste ist auf Erden? Und die Antwort auf diese Frage? Sie ist verworren und dunkel. Sie stößt hier an ein sociales Gesetz, das grausam ist, und dort an ein Naturgesetz, das unerbittlich scheint. So viel ist klar, daß in dem Maße das Loos der Frauen weniger beklagenswerth wird, als wir sie in den Stand setzen, für uns und mit uns zu handeln. Wie dem auch sei, wir sind ihnen immerdar zu innigstem Dank verpflichtet, zum Dank für das, was sie für uns thun, und zum Dank für das, was sie für uns leiden. Meine Herren! ein volles Glas den Frauen!
Die Männer hatten sich erhoben, auch Miß Jones. Mit großen Schritten ging sie um den Tisch herum zu Herrn Rehbein, faßte und drückte und schüttelte die zarte Hand des Mannes, daß er beinahe vor Schmerz aufgeschrieen hätte, und rief: Ich bitte um Ihre Freundschaft, Sir; ich werde stolz auf Ihre Freundschaft sein, Sir!
In diesem Augenblicke wurde die Thür, die nach dem Flur führte, mit Geräusch geöffnet; das rothbackige Dienstmädchen stürzte herein und hatte eben nur noch Zeit zu rufen: Die Polizei, o Gott, die Polizei! als schon in der Thür auf der Schwelle die lange hagere Gestalt eines Polizeisergeanten erschien. Hinter dem Sergeanten wurden ein paar dunkle Gestalten sichtbar. Der Sergeant, ein alter Mann mit einem langen weißen Schnurrbart, schloß die Thür und sagte, indem er vor der Gesellschaft, die sich von ihren Sitzen erhoben hatte, in der Entfernung einiger Schritte stehen blieb: Befindet sich unter Ihnen ein Herr Walter Gutmann?
Ich bin es, sagte Walter, mit Amélie, die ihn fest an den Händen hielt, vortretend.
Der Sergeant warf einen mitleidigen Blick auf das schöne blasse Gesicht des jungen Mädchens und sagte, indem er ein Papier, das er schon in der Hand gehalten hatte, präsentirte: Ich habe einen Verhaftsbefehl gegen Sie, Herr Gutmann, und bitte Sie, mir zu folgen.
Ich bin bereit, sagte Walter.
Ich habe außerdem den Befehl, fuhr der Sergeant, sich zur Gesellschaft wendend, fort, die Namen aller hier Anwesenden zu notiren.
Fassen Sie sich, liebe Freundin! sagte Doctor Paulus zu Miß Jones, die vor Zorn bebend dastand, bei uns zu Lande ist unser Haus nicht unsere Festung, und jener arme Mann sieht gar nicht aus, als ob er es verdiente, daß wir ihm sein leidiges Handwerk noch mehr verleideten.
Er trat auch auf den Sergeanten zu und fragte: Auf welchen Grund hin?
Der Sergeant, der Doctor Paulus kannte, zuckte die Achseln und sagte: Ich habe die Instruction. Dann setzte er leiser hinzu: Es ist von wegen der freien Gemeinde, Herr Doctor. Sie wollen ja wohl eine Versammlung constatiren, weil die verboten sind; hoffentlich ist außer Herrn Rehbein kein Freigemeindler unter Ihnen.
Aber um Himmels willen, alter Freund! sagte Herr Rehbein, der nun auch herangetreten war; wie wißt Ihr denn überhaupt, daß ich hier bin, daß Herr Gutmann hier ist?
Der alte Sergeant zuckte abermals die Achseln. Frau Rehbein, die, unfähig sich zu bewegen, auf ihrem Stuhle sitzen geblieben war und den Sergeanten fortwährend mit schreckensstarren Augen angeblickt hatte, fing hier gar erbärmlich zu weinen an.
Während Walter von Fräulein Charlotte, Miß Jones und den Anderen mit herzlichen Händedrücken Abschied nahm, trat Amélie mit einem Glas Cardinal auf den Sergeanten zu. Sie sah sehr blaß aus, und das Glas klirrte etwas auf dem Teller, aber sie versuchte recht freundlich zu lächeln, als sie es ihm bot.
Dem alten Manne traten die Thränen in die Augen. Er nahm das Glas und sagte: Das trinke ich auf Ihr Wohl, liebes Fräulein! und denken Sie nicht uneben von mir, liebes Fräulein; ich habe acht Kinder und eine kranke Frau, da muß man Manches thun, was man gar viel lieber nicht thäte.
Haben Sie etwas dagegen, wenn ich meinem Freunde bis zum Gefängnisse das Geleit gebe? fragte Doctor Paulus.
O nein, Herr Doctor! Aber nicht mehr, wenn ich bitten darf.
Nun denn, so wollen wir uns bei den Damen verabschieden. Sind Sie bereit, Walter? Ganz bereit.