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Der Freiherr war am dritten Tage des Morgens in der Frühe in dem Erbbegräbniß der Familie auf dem Kirchhofe von Tuchheim beigesetzt worden. Man hatte ihm die Liebe, die er sich durch seinen guten Willen und durch tausend und tausend thatsächliche Beweise einer bis zur Uebertreibung großherzigen Gesinnung im Laufe der früheren Jahre um seine Dörfler erworben und die man ihm im Leben so arg versagt hatte, mit in das Grab gegeben. Weit und breit aus der Runde waren sie zusammengeströmt: Männer und Weiber, Jünglinge und Mädchen, und die Schaaren der Fabrikarbeiter hatten es sich nicht nehmen lassen wollen, dem Manne, der für sie gefallen war, das letzte Geleit zu geben. Nur der kleinste Theil der Menge, die nach Tausenden zählte, hatte auf dem Kirchhofe Platz gefunden, und Mütter hatten ihre Kinder in die Höhe gehalten, damit sie sähen, wie ein guter Mensch der Erde übergeben werde. Dann war an das offene Grab ein junger Mann getreten, dessen sich gar Viele noch aus früheren Jahren als eines freundlichen blauäugigen Knaben erinnerten.
Und der junge Mann hatte seine Stimme erhoben, deren heller Klang selbst diejenigen, welche außerhalb der niedrigen Kirchhofsmauer im Kreise standen, erreichte, und hatte erzählt, warum er hier spreche an des Predigers Stelle, der sich geweigert, dem Todten die letzte Ehre zu erweisen, weil er – wie der fromme Herr sich ausgedrückt – freventlich sein Leben auf's Spiel gesetzt habe. Ich denke anders, hatte der junge Mann gerufen, und Ihr denkt anders, sonst wäret Ihr nicht hier, und weil wir denn nun versammelt sind im Namen des heiligen Geistes der Brüderlichkeit, die alle Menschen umfaßt, so laßt mich Euch sagen, wer dieser Todte war, wie er gelebt hat und warum er gestorben ist.
In lautloser Stille und regungslos hatte die Menge diesen Worten und der weiteren Rede Walter's gelauscht, nur daß dann und wann das Schluchzen eines Weibes ertönte und ein und der andere Mann sich abwendete, die Thränen mit den rauhen Händen von den Wangen zu wischen.
Und als er, seine eigene Rührung mächtig niederkämpfend, mit tönender Stimme schloß: So wollen wir denn dem Staube geben, was Staub ist; aber die Liebe, die in diesem Herzen lebte, das einst so heiß schlug und nun stillsteht für immer – sie wird nicht mit begraben, denn sie lebt in mir, in Euch, in Jedem, dessen Brust sich beklemmt fühlt beim Anblick der Noth und dessen Hand sich öffnet vor der Stimme der Armuth. Diese Liebe, wie sie der Menschheit bester Theil ist, so ist sie auch unsterblich wie die Menschheit! – als er so sprach und bei den letzten Worten die Arme ausbreitete, als wollte er die freudige Zuversicht, von der seine Seele erfüllt war, auf alle diese armen Menschen herabrufen – da waren wenige Augen thränenleer, kein Haupt bedeckt geblieben, und in feierlichem Schweigen hatte sich die Menge entfernt.
Der Tod des Freiherrn, dessen Veranlassung mit den näheren Umständen bald bekannt wurde, hatte in der ganzen Gegend eine ungeheure Aufregung hervorgerufen, die aber, Alles in Allem, nur wohlthätige Folgen gehabt hatte. Es war, als ob die Menschen an diesem tragischen Ereigniß sich auf sich selbst besonnen hätten, als ob sie in diesem einzelnen Fall ein drohendes Beispiel gesehen hätten, wohin die hartnäckige, eigensinnige Verfolgung ihrer Ziele führen könne, ja führen müsse. Das Erste war natürlich gewesen, daß der Oberstlieutenant von Hey sogleich nach dem unglücklichen Ausgang des Duells in seine Garnison abgereist war und sich dem Commandanten gemeldet hatte. Damit war schon viel gewonnen, denn gerade die Gegenwart dieses brutalen Officiers war in den Arbeiterkreisen sehr übel vermerkt worden. Daß jetzt seines Bleibens in Tuchheim nicht mehr sein konnte, nahm man freilich als selbstverständlich an; aber daß schon am zweiten Tage eine telegraphische Ordre aus der Residenz eintraf, auch die zwei Bataillone, die rings um Tuchheim und die übrigen Fabrikstätten in den Dörfern lagen, nach der Garnisonstadt zurückzuziehen, wurde als eine ungewöhnliche und unverhoffte humane Regung der Regierung empfunden und gepriesen. Dazu kam, daß die Fabrikherren, eingeschüchtert durch die abermaligen Zusammenrottungen der Arbeiter, als der Tod des Freiherrn und zugleich die Resultatlosigkeit der Bemühungen der Deputation und die Verhaftung Leo's bekannt wurden, sich nun zu den so lange beanstandeten geringfügigen Concessionen bereit erklärten. Zwar war diese Nachgiebigkeit in der letzten Stunde von einem Theil der noch feiernden Arbeiter als gänzlich unzureichend und als ein Flicken auf ein altes Kleid, der bald genug wieder reißen werde, bezeichnet worden, aber die Mehrzahl war froh gewesen, den verderblichen Streit auf irgend eine ihnen nicht ganz schimpfliche Weise zum Austrage gebracht zu sehen, und diejenigen, welche bereits vorher zurückgekehrt waren, hatten jene Concessionen nun gar als ein unerwartetes Geschenk begrüßt. Zuletzt hätte die Weigerung des zelotischen Nachfolgers des gleißnerischen Doctor Urban, den Mann zur Gruft zu begleiten, in welchem die Arbeiter einen Märtyrer ihrer Sache sahen, die Aufregung beinahe von Neuem entfacht; aber auch diese Gefahr war durch Walter's Rede beseitigt worden. Man hatte seine Mahnung, daß ein Jeder ruhig an sein Tagewerk gehen und in treuer Pflichterfüllung sich der besseren Zukunft würdig machen solle, beherzigt. Noch an demselben Morgen hatten sich die Letzten zur Wiederaufnahme der Arbeit gemeldet; der unselige Streit, der nun schon wochenlang Verwirrung, Angst und Noth über die ganze Gegend ausgestreut hatte, schien, für eine Zeit wenigstens, beseitigt.
Am Abend des Tages gingen im Schatten der Bäume am Rande der Wiese, dem Försterhause gegenüber, Fräulein Charlotte und der Förster. Die Sonne stand schon tief, daß nur noch das Dach und der Giebel des Hauses von ihrem milden Scheine getroffen wurden. Die Schwalben, die seit einigen Wochen zu ihren alten Nestern unter dem weit vorspringenden Dache zurückgekehrt waren, schossen lustig über die Wiese, auf der ein paar junge Hunde Haschens spielten, während der alte Ponto, den Kopf zwischen den Vordertatzen, etwas seitab lag und von Zeit zu Zeit nach dem Herrn hinüberblinzelte.
In des Försters braune Wangen hatten die letzten Jahre einige tiefere Furchen gezogen, und sein schlichtes Haar war hie und da leicht mit Grau gemischt; auch lagen der Ernst und die Trübsal dieser letzten Tage in schweren Falten um den festgeschlossenen Mund, aber seine Haltung war noch so straff und sein Schritt so fest, wie vordem. Es war ein wundersamer Contrast zwischen dem wettergefesteten, kraftvollen Manne und der zarten, schlanken Frauengestalt mit dem edlen, blassen Gesicht an seiner Seite, und doch lag etwas Wahl- und Schicksalverwandtes in dem klaren, unschuldigen Blick ihrer Augen und selbst in dem herzlichen Klang ihrer Stimmen.
Es war das erstemal in diesen Tagen, daß die Beiden auf längere Zeit mit einander allein waren und Charlotte den innigen Wunsch, im Zusammenhange die letzten Schicksale ihres Bruders zu erfahren, gegen den Freund aussprechen konnte.
Wenn ich in diesem Leid einen Trost habe, sagte Charlotte, so ist es der, daß mein Bruder in Ihren Armen gestorben ist und daß ich aus Ihrem Munde hören darf, wie er gestorben ist, ja, ich möchte sagen, warum er gestorben ist. Ein Geschenk aus lieber Hand ist uns doppelt lieb, und der Wermuthsbecher, den uns der Freund reicht, reichen muß, hat schon seine schärfste Bitterkeit verloren. Sagen Sie mir Alles, lieber, liebster Freund; ich habe ein Recht, Alles zu wissen. Und fürchten Sie nicht, mich zu kränken, wenn Sie mir das Bild meines Bruders nicht ohne Flecken zeigen können. Ich weiß, wie schwach, wie sehr schwach und wankelmüthig er gewesen ist; aber unedel, nicht wahr, mein Freund, unedel war er nie, war er auch nicht in dieser Katastrophe!
Nein, erwiederte der Förster lebhaft, nein, unedel nicht, gewiß nicht. Wäre er weniger edel gewesen – er könnte noch heute unter uns leben. Denn wenn mir auch schon manchmal der Gedanke gekommen ist, daß es am Ende doch nur Verzweiflung war – aber, Sie haben Recht, Sie müssen Alles wissen, mir selbst ist es ein Trost, Ihnen Alles sagen zu dürfen.
Es war heute vor acht Tagen, um dieselbe Stunde, als der Gärtnerbursche Gustav mir einen offenen Zettel brachte, der weiter nichts als die Worte enthielt: Ich bin eben angekommen und sehr müde, möchte Dich aber noch sprechen. Meine Verwunderung war nicht gering, doch konnte mich, wie sehr ich mich auch deswegen schalt, die unerwartete Nachricht nicht freuen, und ich zerbrach mir, während ich zum Schlosse hinaufritt, den Kopf, was wohl die Veranlassung, die den Herrn hierhergetrieben habe, sein möchte – daß es nichts Gutes sei, darauf hätte ich schwören mögen.
Dennoch war unser Wiedersehen freudiger, als ich gehofft hatte. Der Herr schüttelte mir einmal über das andere die Hand und wiederholte öfters, wie er froh sei, das alte Haus endlich einmal wiederzusehen, und wie sehr er bedaure, es jemals verlassen zu haben. Aber ich bemerkte nur zu bald, daß ihm diese Worte nicht von Herzen kamen, und daß es mit dem Frohsinn auch nicht so rechte Art hatte.
Dazu bekümmerte mich sein Aussehen. Ich fand ihn sehr, sehr gealtert, wenn auch die lange Reise mit dazu beigetragen haben mochte, daß seine Augen so tief in die Höhlen gesunken waren und so viel tiefe Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel lagen. Er war sichtbar erschöpft und zu gleicher Zeit aufgeregt. Seine Bewegungen waren einmal matt und dann wieder heftig und hastig, und ebenso war seine Sprache. Er fing denn auch bald an, von den hiesigen Wirren zu sprechen, und klagte sich an, daß er selbst doch einen großen Theil der Schuld trage. Wäre ich hier gewesen, rief er, es wäre nie so weit gekommen!
Sie wissen, gnädiges Fräulein, wie es mit der größte Schmerz meines Lebens gewesen ist, daß der Herr jemals von hier fortgehen konnte; und so viel ist wohl gewiß, daß gar Vieles besser stände, wäre er niemals fortgegangen; aber daß sein Hiersein, nachdem einmal die Fabriken eingerichtet, den Uebelständen, über welche die Leute, und zum Theil mit Fug und Recht klagen, hätte abhelfen können, das ist nicht meine Ansicht. Denn sehen Sie, gnädiges Fräulein, so etwas hängt gar nicht von dem Willen des Einzelnen ab; er kann, wenn er ein guter Herr ist, vielfach für die Leute sorgen, das versteht sich, kann ihnen manche Erleichterung verschaffen, ihnen über manche einzelne Noth weghelfen, aber den Arbeitslohn – und das ist doch die Hauptsache – kann er auf die Dauer nicht erhöhen, wenn seine Concurrenten nicht wollen, und wenn die es auch wollen, so können sie es wieder nicht, wenn die so vertheuerte Waare auf dem Weltmarkt keinen Absatz findet. Das ist wie ihre großen Maschinen selber, wo ein Rad in das andere greift und man keine Schraube lockern kann, ohne das Ganze in Unordnung zu bringen. Ich hatte über das Alles, was ich täglich vor Augen sah, Manches selbst herausgefunden, mir Anderes mittheilen lassen und in den Büchern nachgelesen, und so sagte ich denn auch dem Herrn an jenem Abend, daß er nicht hätte helfen können und warum er nicht hätte helfen können.
Der Herr machte große Augen, als ich so meine Weisheit auskramte, lachte fast in der guten alten Weise und sagte: Ei, Fritz, Du bist ja ein Gelehrter geworden; das würde ja jetzt ein ordentliches Turnier zwischen Dir und dem Leo geben, der freilich aus einer anderen Tonart singt.
Das gab nun ein Hin- und Widerreden, denn ich hatte Leo's Bücher eifrig studirt, und wenn ich ihm auch vielfach zustimmen mußte, so war ich doch mit den Mitteln, die er vorschlägt, gar nicht einverstanden. Der Herr wurde, je länger wir sprachen, immer hitziger; Leo habe durchaus und in jedem Worte Recht; Leo sei der Verkünder einer neuen Weltordnung, in der die Allmacht des Capitals – wie genau ich mich seiner Worte erinnere – so sicher gebrochen sein würde, wie man heute nichts mehr von den Raubrittern des Mittelalters wisse. Nein, ich will nichts gegen den Leo hören, ich danke ihm viel; er hat mich mir selbst wiedergegeben, als er mich dazu drängte, diesen Mammonsknechten den Handschuh hinzuwerfen. Das hat mich vor mir selbst wieder ehrlich gemacht.
Ich schwieg, als ich ihn so leidenschaftlich erregt sah, und bat ihn, die Unterredung, die wir ja am nächsten Tage fortsetzen könnten, für diesmal abbrechen zu wollen.
Ich war schon einmal an der Thür, als er mich noch einmal zurückrief.
Er ging in alter Gewohnheit auf und ab, und ich sah wohl, daß es ihm sehr schwer wurde, mir das zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Endlich blieb er vor mir stehen und fragte hastig: Du bist mit Deinem Gelde zu Ende, Fritz?
Er hatte mich nicht angesehen, als er das sagte, und das war mir so schmerzlich, daß ich für den Moment das Antworten vergaß. Deine Kasse ist leer? fragte er noch einmal mit dumpfer Stimme, sag's nur gerade heraus!
Nein, antwortete ich; ich hatte wirklich in den letzten Tagen einige bedeutende Einnahmen gehabt.
Aber es ist keine Kleinigkeit, was ich brauche, und um es Dir mit Einem Worte zu sagen, die Bergwerksgeschichte hat mich um fünfzigtausend Thaler ärmer gemacht; ich brauche nicht gleich die ganze Summe, aber zehntausend Thaler wirst Du wohl in diesen Tagen schaffen müssen. Glaubst Du, daß es geht?
Jetzt sah er mich zum erstenmale an. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich über diesen neuen Verlust zu so vielen anderen sehr erschrocken war; aber ich wollte und durfte es ihn nicht merken lassen, und antwortete ruhig: Ich denke, gnädiger Herr, es wird sich machen lassen.
Etwas wie ein Lächeln flog – zum erstenmale an diesem Abend – über sein Gesicht. Er legte mir die Hände auf die Schultern und sagte: Ich mache Dir viel Mühe, armer Kerl: Du wirst nun wieder die ganze Nacht sitzen und rechnen. Nur Charlotten laß bei Deiner Rechnung aus dem Spiele, hörst Du? Sonst mache, was Du willst!
Ich weiß nicht, wie ich an diesem Abend nach Hause gekommen bin; mein alter Fuchs hat sich den Weg allein suchen müssen. Ich rechnete schon auf dem Pferde, und rechnete, wie der Herr gesagt, die ganze Nacht. Mit den Zehntausend war ich bald im Reinen. Der Herr hatte mir verboten, Ihr Geld anzugreifen, aber von mir hatte er nichts gesagt. Ich hatte in den letzten acht Jahren so gut wie keine Ausgaben gehabt, und diese Ersparnisse zusammen mit denen aus früheren Jahren, – das machte sogar noch etwas über zehntausend Thaler, die ich sicher angelegt hatte und jeden Tag haben konnte. Ich freute mich jetzt, daß ich der Versuchung, dies Geld anzugreifen, die in der letzten Zeit sehr oft an mich herangetreten war, immer widerstanden hatte. Es kann noch schlimmer kommen, hatte ich mir gesagt, nun war der Augenblick da.
Aber die anderen Vierzigtausend – das war nicht ganz so leicht. Feldheim konnte keine Hypotheken mehr tragen, aber auf Tuchheim war vielleicht noch eine von Zwanzigtausend anzubringen, und das Vorwerk, das uns freilich in den letzten Jahren sehr genützt hatte, mochte, wenn man es gut verkaufte, auch noch Zwanzigtausend abwerfen. Dann freilich war das einst so schöne Vermögen so gut wie verloren; aber in solchen Momenten hat man keine Zeit, über das Unwiederbringliche zu klagen; man ist froh, wenn man retten kann, was etwa noch zu retten ist. Und dann blieb ja immer der Antheil des Herrn an den Fabriken, denn daß der Streit zwischen den Herren durch einen gütlichen Vergleich zum Austrag gebracht werden könne, daran zweifelte ich nicht. Es kam nur darauf an, dem Herrn klar zu machen, daß in dieser Weise für die Arbeiter Partei zu nehmen ihm selbst schaden und den Arbeitern nicht nützen heiße.
Mit diesen Gedanken ritt ich den anderen Morgen auf's Schloß, recht zeitig, um mir Niemanden zuvorkommen zu lassen; ich war aber schon zu spät gekommen. Die feiernden Arbeiter waren, sobald sie erfahren hatten, daß der Herr da sei, noch an demselben Abend hinaufgezogen und hatten ihm ein Ständchen gebracht. Er hatte eine Anrede an sie gehalten und sie auf den anderen Morgen wiederbestellt. Als ich hinaufkam, traf ich ihn schon in voller Verhandlung mit den Leuten. Sie klagten ihm, wie denn die Leute zu klagen gewohnt sind, Gegründetes und Ungegründetes, Alles wirr durcheinander, und er gab ihnen in Allem Recht; ich versuchte hineinzureden, aber der Herr wurde unwillig, daß ich ihm widersprach; die Leute wollten meine Behauptung natürlich erst recht nicht gelten lassen; ich schwieg, um die Verwirrung nicht noch größer zu machen; es war eine peinliche Stunde für mich.
Als der Herr und ich allein waren, ließ er sich kaum Zeit, die Berechnungen, die ich aufgestellt hatte, zu prüfen. Seine Seele war ganz und gar erfüllt von der Arbeiterfrage, wie er's nannte. Was bedeutet das Schicksal des Einzelnen, rief er, hier, wo es sich um das von Tausenden und aber Tausenden handelt! Ich habe mich immerdar abgemüht, denen, die von mir abhingen, das schwere Leben leicht zu machen – es ist mir nicht gelungen. Es ist mir Alles mißlungen, was ich auch versucht habe, dem Elend abzuhelfen. Ich habe nur immer Haß statt Liebe geerntet. Sie haben mir damals das Haus über dem Kopfe anzustecken versucht; man hat mich als Beispiel eines schlechten, tyrannischen Herrn der ganzen Welt verdächtigt. Und nun, da ich um der Armen willen meinen Stolz bezwungen habe und unter die Industriellen gegangen bin, jetzt soll ich nur den Blutsaugern in die Hände gearbeitet und zu dem alten Fluch neuen Fluch mit Aufopferung meiner Ruhe, meines Vermögens, meines persönlichen Glückes geerntet haben! Nimmer und nimmermehr will ich das geduldig hinnehmen, mag daraus entstehen, was da will.
Dies und Anderes der Art sprach er an jenem Morgen zu mir in seiner hastigen Weise, und dabei blitzten seine Augen mit einem Feuer, das mich ängstigte, wenn ich dachte, daß er mit dieser Erregtheit den Commissären entgegentreten würde. Es war nämlich für die Mittagsstunde eine Zusammenkunft zwischen den Herren anberaumt, an der auch der Baron von Hasseburg und Andere aus der Nachbarschaft theilnehmen sollten. Ich suchte indessen den Herrn auf andere Gedanken zu bringen, indem ich ihn an seine Lieblingsplätze im Park führte und ihm zeigte, was unterdessen etwa Neues eingerichtet und wie ich das Alte im Stande gehalten hatte. Aber er hatte heute für das Alles kaum einen Blick. Die Conferenz und was er den Herren sagen wollte – das ging ihm immerfort im Kopfe herum.
Was in der Conferenz geschehen und gesprochen worden ist, weiß ich nicht. Ich mußte in die Stadt, die Geschäfte zu ordnen. Das hielt mich lange auf; ich kam erst, als die Nacht schon hereingebrochen war, zurück, und als ich doch noch auf dem Schlosse nach dem Herrn fragte, hieß es, er sei schon zu Bette gegangen. Ich war dessen froh; Ruhe und Schlaf – das that ihm vor allen Dingen noth.
Auch fand ich ihn am nächsten Tage um etwas ruhiger als am vergangenen. Er hätte sich den Herren gegenüber ausgesprochen, und das hätte ihm das Herz leichter gemacht, sagte er. Nun, leicht war sein Herz wohl nicht; im Gegentheil, er war so schwermüthig, wie ich ihn nie gesehen, und mehr als einmal, als wir wieder durch den Park gingen und von den guten alten Zeiten sprachen, kamen ihm die Thränen in die Augen. Heute war es, als ob die Gegenwart kein Interesse für ihn habe und er sich der Erinnerung nicht ersättigen könnte. Hundert kleine Züge aus unserem gemeinschaftlichen Leben, die ich selbst zum Theil vergessen, hatte sein Gedächtniß bewahrt. Er lachte ein paarmal ganz herzlich, aber das war nur wie ein flüchtiger Sonnenblick.
Als ich am Abend wiederkam, waren seine Abspannung und seine Schwermuth noch größer geworden. Er saß in dem großen Zimmer vor dem Kamin, in welchem ein helles Feuer brannte; es fröstelte ihn, meinte er, obgleich alle Welt sage, es sei ein warmer Tag. Er fange an, alt zu werden. Und nun begann er wieder zu klagen, wie schlecht sein Spruch: »Leben und leben lassen«, sich doch bewährt habe. Nicht Einen Menschen habe er glücklich, im Gegentheil, er habe Alle unglücklich und gerade, die er am liebsten gehabt, am unglücklichsten gemacht. Ich wollte das natürlich nicht gelten lassen; aber was ich auch sagen mochte, er schüttelte nur den Kopf. Und als ich von meinen Kindern zu sprechen begann, die er doch wie seine eigenen Kinder erzogen und gehalten, sprang er in schmerzlicher Erregung auf und sagte, ich solle den Tag nicht vor dem Abend loben; wir wollten über unsere Kinder sprechen, wenn er sich kräftiger und ruhiger fühle; jetzt könne er es nicht. Ich wußte an jenem Abend nicht, was das zu bedeuten hatte; ich sollte es nicht mehr aus seinem Munde erfahren.
Für den nächsten Tag war wieder so eine unglückselige Conferenz angesetzt; diesmal sollten auch Leute, die mit den hiesigen Verhältnissen vertraut sind, zugezogen werden. Unter Anderen war auch ich aufgefordert worden. Ich konnte nicht von Anfang an dabei sein, weil ich nochmals in die Stadt mußte; als ich endlich gegen Mittag kam, hatten die Herren schon ein paar Stunden beisammengesessen. Sehr friedlich konnte es nicht hergegangen sein, denn sie sahen Alle aufgeregt und unruhig aus, besonders der Herr selbst, der mir sogleich entgegenrief: Nun, kommst Du endlich! und dann zu den Anderen gewendet: Sie kennen Herrn Gutmann. Seine Aussagen werden umsomehr in's Gewicht fallen, weil Keiner unter uns auch nur annähernd in den hiesigen Verhältnissen so viel Erfahrung hat, wie er.
Der Präsident legte mir nun eine Menge Fragen vor, über die ich Auskunft gab. Es handelte sich darum, festzustellen, ob die Arbeiter mit ihrem Lohn auskommen könnten, oder nicht. Der Herr hatte diese Frage von vornherein entschieden verneint, im Gegensatz zu den übrigen Fabrikanten, und daraus war ja der ganze Streit entstanden. Ich suchte zu beweisen, daß die Wahrheit in der Mitte liege, daß ein fleißiger Arbeiter unter gewöhnlichen Verhältnissen wohl mit seiner Familie zu leben habe, daß aber für unvorhergesehene Fälle und außerordentliche Bedürfnisse damit noch nicht gesorgt sei, und daß der Vorwurf, der die Herren treffe, eben darin bestehe, durch Wittwen-, Kranken- und andere Kassen und Einrichtungen nicht ausreichend für diese Bedürfnisse gesorgt zu haben.
Nun ging ich ja in meinen Forderungen lange nicht so weit, als der Herr; aber den Anderen war ich doch schon zu weit gegangen, das zeigte sich deutlich genug in ihren Mienen. Die Meisten begnügten sich freilich damit, Gleichgiltigkeit gegen meine Aussagen zu heucheln oder den Kopf zu schütteln oder dem Nachbar ein paar Worte in's Ohr zu raunen und dabei zu lächeln; nur an dem einen Ende des Tisches, wo der Oberstlieutenant saß, ging es etwas lauter zu. Ich mochte wohl ganz unwillkürlich ein paarmal nach der Stelle hingeblickt und der Herr das wohl bemerkt haben: er stand mit Einemmale auf und bat den Präsidenten, die Herren dort – und dabei machte er eine Bewegung nach dem Oberstlieutenant hin – zu ersuchen, den Gang der Verhandlungen nicht unnöthig aufhalten zu wollen.
Der Oberstlieutenant warf einen bösen Blick nach dem Herrn und sagte: er sei mit den Verhältnissen hier ebenso vertraut wie ich, und glaube meine Belehrungen füglich entbehren zu können. Auch wolle er nicht leugnen, daß er auf die Aussage eines Mannes in meiner abhängigen Stellung eben kein großes Gewicht lege.
Der Herr richtete sich hoch auf, als er das hörte, und sagte: Herr Gutmann ist mein Freund, der beste Freund, den ich habe. Einen Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit würde ich als eine persönliche Beleidigung empfinden und ahnden. Im Uebrigen, Herr Oberstlieutenant, ist seine Unabhängigkeit mindestens ebenso groß wie die Ihre, und möglicherweise noch etwas größer.
Der Oberstlieutenant fuhr von seinem Sitze auf und wollte etwas erwiedern, aber der Präsident fiel ihm in die Rede. Er bitte die Herren, bei einer so wichtigen öffentlichen Angelegenheit von allem Persönlichen absehen zu wollen; überdies habe die Verhandlung heute Morgen lange genug gewährt; und so hob er die Sitzung auf, indem er noch ganz besonders freundlich zu mir war.
Nun weiß ich nicht, wie es geschehen ist, aber der Herr und der Herr Oberstlieutenant haben sich nachher vor dem Gemeindehause, wo die Sitzung stattfand, noch einmal getroffen und sich in Gegenwart von ein paar anderen Herren harte Dinge gesagt. Darauf hat noch in derselben Stunde der Herr durch den jungen Baron Hasseburg den Oberstlieutenant fordern lassen, und sie haben in aller Stille und Heimlichkeit Alles auf den kommenden Morgen vorbereitet.
Als ich gegen Abend auf das Schloß kam, sagte man mir, daß der Herr seit einigen Stunden ausgeritten sei, daß er aber hinterlassen habe, er werde mit Einbruch der Nacht zurück sein, und ich möge doch ja bis dahin warten.
Er ist in dieser Zeit in Feldheim und Tuchheim die Kreuz und die Quer geritten und hat von allen Orten und von allen Menschen, die ihm von früherher lieb waren, Abschied genommen. Hier ist er noch zu allerletzt gewesen und hat mit Malchen eine halbe Stunde dort auf der Bank gesessen und sich von ihr erzählen lassen, wie ich lebe und ob ich immer gesund sei, und dabei hat er immer nach den Baumwipfeln und nach dem Himmel geschaut und sich gar nicht trennen können, bis er dann, nachdem er Malchen nochmals die Hand gedrückt, wieder aufgestiegen und gesenkten Hauptes davongeritten ist.
Ich war schon ganz ängstlich geworden über sein langes Ausbleiben; da kam er endlich – sehr angegriffen und hinfällig, wie mir schien, obgleich er es nicht Wort haben wollte. Er fing sogleich von seinen Angelegenheiten zu sprechen an und gab mir zum erstenmale einen vollständigen Ueberblick, so weit er selbst es vermochte. Ich ließ mir mein Entsetzen nicht merken, als es sich immer klarer herausstellte, daß er so gut wie ruinirt und die einzige Hoffnung und Rettung ein gütlicher Vergleich mit Herrn von Sonnenstein war. Aber auch jetzt wies er jeden Versuch, den ich machte, ihn zu einem versöhnlichen Schritt zu bewegen, sanft, aber entschieden zurück. Ich kann nicht, sagte er immer wieder, ich kann nicht von der Gnade dieses Menschen leben. Ich schwieg, um ihn nicht wieder zu reizen, und dachte dabei immer an Sie, daß Sie kommen müßten, daß von Ihnen allein Hilfe möglich sei.
Dann kam er auf seine Behauptung von gestern zurück, daß er noch Alle, die von ihm ihr Glück erwarteten, unglücklich gemacht habe. Die gnädige Frau selig habe er in jüngeren Jahren durch seine Tollkühnheit halb zu Tode geängstigt; welche Sorge und welche Noth hätte er Ihnen das Leben hindurch verursacht! Mit allen Verwandten sei er zerfallen; sein Sohn stehe ihm in offener Feindschaft gegenüber.
Immer tiefer versenkte er sich in diese traurigen Gedanken; nur wunderte es mich, daß er viel mehr von meiner Silvia, als von dem gnädigen Fräulein, und gar nicht von Walter sprach. Ich hatte seine Aeußerung, daß er über unsere Kinder sprechen wolle, wenn er sich kräftiger fühle, nur auf sein Verhältniß zu Henri bezogen; jetzt aber kam mir zum erstenmale in meinem Leben der Gedanke, daß die Zeit eine andere geworden ist und unsere Kinder mit frischerem Muth und einem freieren Sinn in's Leben schauen, als wir es thaten!
Fritz Gutmann hatte bis dahin in seiner schlichten, lebhaften Weise gesprochen, ohne sich zu unterbrechen, obgleich die Rührung manchmal seine breite Brust mächtig hob und seine blauen Augen feuchtete. Bei den letzten Worten zitterte seine Stimme hörbar, und wie sehr er sich auch bemühte, seiner Bewegung Herr zu werden, es gelang ihm nicht sogleich. Er blieb stehen und blickte eifrig nach den spielenden Hunden hinüber, als ob daran etwas Besonderes zu sehen sei.
Charlotte's Augen weilten auf dem gebräunten Antlitz des Mannes an ihrer Seite. Sie mochte ihn wohl leidenschaftlicher geliebt haben in der holden Maienzeit der ersten Jugend, aber gewiß nicht tiefer als jetzt, wo der Schnee des Alters ihnen schon die ersten Flocken in das Haar gestreut hatte. Sie legte ihre Hand auf den Arm des Sinnenden: Sie wollten sagen, daß unsere Kinder mit klarerem Blick und freierem Herzen in das Leben schauen, als wir es thaten?
Fritz Gutmann nickte mit dem Kopfe. Ja, ja, sagte er, und dabei athmete er tief auf, das wollte ich sagen; ich habe mich jetzt, da ich die Beiden so zusammen gesehen, nun schon mit dem Gedanken vertrauter gemacht; aber an jenem Abend war es mir, wie neulich, als wir den Buchenschlag am Finkenberge abgeholzt hatten, und ich nun von einer Seite, von der ich es nie gekonnt, frei in's Thal schauen durfte. Der Herr setzte mehrmals an, über etwas, was ihm, wie ich nun wohl weiß, so schwer auf dem Herzen lag, sich ganz rein auszusprechen, aber es war ihm nicht möglich, selbst in diesem Augenblicke, wo er so gern seine Rechnung mit uns Allen abgeschlossen hätte. Er wiederholte nur zuletzt, als ich gehen wollte, mehrmals ganz außer dem Zusammenhange: Ich habe den Walter sehr lieb. Dann, als ich schon an der Thür war, kam er mir nach, legte mir stumm beide Hände auf die Schulter und blickte mich an. Ich sah, daß ihm die Thränen in den Augen standen, und auch meine Wimpern wurden feucht, daß ich ihn nicht mehr deutlich erkennen konnte. Durch diesen Schleier habe ich ihn zum letztenmale athmend und lebend gesehen, denn als sie mich am nächsten Tage auf's Schloß holten, war er schon besinnungslos und ist auch nicht wieder zum Bewußtsein erwacht.
Sie waren, am Rande der Wiese hinschreitend, bis an eine Stelle gekommen, von wo aus man einen Blick in den Garten hinter dem Hause und auf eine Laube hatte, auf die jetzt durch eine Vista im Walde der rothe Schein der untergehenden Sonne fiel. In der Laube saß Amélie, abgewendet, so daß man nur etwas von der leichten Gestalt und die Umrisse des schönen Hauptes sehen konnte, dessen dunkles Haar im Abendsonnenschein erglänzte. Neben ihr, in dem Eingang der Laube, stand Walter. Seine Augen ruhten auf der geliebten Gestalt, er sprach zu ihr, aber so leise, daß nicht einmal der Ton seiner Stimme, trotz der geringen Entfernung, zu den Beiden drang.
Die lieben Kinder, sagte Charlotte.
Der Förster sagte nichts; er dachte daran, daß sein geliebter Herr nicht Ja und Amen dazu hatte sagen mögen, und er konnte des Anblicks nicht mit ganzer Seele froh werden.
In dem Hintergrund des Gartens zwischen den Gemüsebeeten bewegte sich eine kleine weibliche, in tiefes Schwarz gehüllte Gestalt, die sich häufig nach den Beeten bückte, auf die sie etwas zu säen schien, und kaum minder häufig ein weißes Taschentuch gegen die rothgeweinten Augen führte. Es war Tante Malchen.
Der Förster und Fräulein Charlotte gingen wieder nach dem Platze vor dem Hause.
Sie empfindet es unendlich schmerzlich, die gute Seele, sagte Charlotte; es wird schwer halten, sie nur einigermaßen zu trösten.
Sehr schwer, sagte der Förster; wir würden eine recht traurige Gesellschaft für Silvia abgeben, und deshalb bin ich der Ansicht, daß Sie sie nur gleich wieder mit zurücknehmen.
Sie erwarten sie heute noch?
Mit Bestimmtheit, sagte der Förster; ich weiß nicht, was sie abgehalten haben kann, schon gestern zu kommen; aber krank kann sie nicht sein, sonst hätte sie oder Miß Jones telegraphiren lassen, und da sie nun auch nicht geschrieben hat, kann sie gar nicht anders, als selber kommen. Ich hoffe, sie wird uns etwas Sonnenschein mitbringen.
Zum erstenmale in dieser Unterredung flog es über des Försters Gesicht wie ein Lächeln; seine Blicke hingen an der Stelle, wo der Weg aus dem Walde nach der Lichtung mündete, als müßte im nächsten Augenblicke sein Lieblingskind da herauskommen.
Charlotte betrachtete nicht ohne Sorge den Freund. Hoffen Sie nicht mit solcher Bestimmtheit darauf, sagte sie; Sie werden Silvia sehr verändert finden.
Sie muß nur einmal wieder Waldluft athmen, sagte der Förster zuversichtlich.
Wie gern wollte ich, daß Sie Recht hätten, sagte Charlotte; aber ich darf keine Hoffnung in Ihnen aufkommen lassen, die sich nur zu bald als trügerisch erweisen würde. Was Silvia's Leid auch sein mag, es liegt tiefer, als daß es durch Waldluft geheilt werden könnte. Sie will und muß in die große Welt, und nicht in die Einsamkeit; was wir ihr bisher bieten konnten, genügte ihr schon nicht; ich denke mit Kummer daran, wie es jetzt werden soll, wenn sich uns die große Welt verschließt. Ich kann mir nichts Anderes vorstellen, als daß sie dann, wenn sie nicht in der Sehnsucht nach dem, was sie erfüllt, vergehen soll, ihren eigenen Weg wird gehen müssen.
Fritz Gutmann nahm die Mütze ab und strich sich das schlichte Haar aus der Stirn. Hm! sagte er, die Silvia ist eigentlich von jeher ihren eigenen Weg gegangen, aber ein so eigenes Kind, wie sie manchmal war, und wie manchesmal ich nicht verstanden habe, was ihr im Sinne lag und wo sie eigentlich hinaus wollte – ihr Herz war immer das gute, treue Herz; in ihrem Herzen habe ich sie immer wiedergefunden, werde sie auch diesmal wiederfinden. Da kommt der Wagen!
Eine dunkle Röthe schoß ihm in die braunen Wangen, als er jetzt, ein wenig vornüber gebeugt, in den Wald hinein horchte. Charlotte sagte, sie höre nichts, aber den Förster hatte sein leises Gehör nicht getäuscht. Bald hörte auch Charlotte das Geräusch der Räder und dann das Knallen der Peitsche. Auch die im Garten hatten es vernommen und kamen eilig aus der Pforte.
Er fährt sehr langsam, sagte Walter.
Es sind ein paar schlechte Stellen im Wege, sagte der Förster, als wollte er seine eigene Ungeduld beschwichtigen.
Da tauchten Pferde und Wagen aus dem Walde hervor; aber neben dem Kutscher auf der ersten Bank saß der Postbote, die zweite Bank war leer. Das Fräulein war nicht im Zuge gewesen, da hatte denn Johann den Postboten mitgenommen; der Postbote hatte Briefe für das gnädige Fräulein und für den Herrn Förster.
Charlotte war mit ihrem Briefe bald zu Ende. Die wenigen Zeilen lauteten: »Verehrte Tante Charlotte! Es thut mir herzlich leid, durch mein Unwohlsein nun auch verhindert zu sein, an dem Begräbnisse des Vaters teilzunehmen. Doch glaube ich um so mehr berechtigt zu sein, mich zu schonen, als die Familie durch Dich und Amélie auf das Würdigste repräsentirt ist, und die Ordnung der, wie sich leider immer mehr herausstellt, gänzlich zerrütteten Verhältnisse, in welchen der Vater gestorben ist, für die nächste Zukunft meine Kräfte vollauf in Anspruch nehmen wird. Onkel Sonnenstein, der Dir übrigens, wie er mir mittheilt, schon selbst sein Beileid brieflich ausgedrückt hat, trägt mir noch ganz besonders auf, Dich und die Schwester seiner herzlichen Freundschaft zu versichern; dasselbe thut Emma. Das arme Kind kann sich gar nicht darüber beruhigen, daß unsere Verlobung, die wir am Tage, als die Nachricht von dem Tode des Vaters hier einlief, im engsten Kreise der Sonnenstein'schen Familie gefeiert hatten, in eine solche Zeit der Trübsal fallen muß –«
Charlotten's Mund war fest geschlossen, und ihre Hände zitterten, als sie den Brief zusammenlegte. Sie wußte, als ob es deutlich zwischen den Zeilen gestanden hätte, daß Henri gelogen und daß die Verlobung nicht an dem Tage, als die Nachricht kam, sondern später stattgefunden, und sie wußte jetzt auch, was die schamlose Eile zu bedeuten hatte. Ihre reine Seele schauderte vor der Berührung mit einer solchen Niedrigkeit, die sie nie für möglich gehalten. Sie wendete sich ab, ihre Bewegung vor den Uebrigen zu verbergen.
Aber die Aufmerksamkeit derselben war auf den Förster gerichtet gewesen. Tante Malchen, Walter, Amélie hatten wissen wollen, weshalb Silvia nicht gekommen sei. Fritz Gutmann hatte den Brief hastig erbrochen und hatte erstaunt und fast bestürzt ausgesehen, als er fand, daß der Brief, in welchem er nur eine kurze Nachricht zu finden erwartet hatte, mehrere Seiten lang war. Dann hatte er zu lesen begonnen, aber je weiter er las, desto seltsamer war der Ausdruck seiner Züge geworden.
Was ist's, Vater? fragte Walter, herantretend. Was schreibt Silvia?
Der Förster antwortete nicht; er strich sich mit der Hand über die Augen und starrte wieder in den Brief.
Walter wiederholte seine Fragen; Tante Malchen und Amélie riefen wie aus einem Munde: Ist Silvia krank?
O, nein, nein, murmelte der Förster. Sein Gesicht war blaß und wie verzerrt. Er wendete sich ab, als ob er in das Haus gehen wollte, und that ein paar Schritte. Plötzlich strauchelte er; Walter, der ihm besorgt gefolgt war, umfing ihn mit den Armen; aber er richtete sich alsbald wieder auf, drängte Walter von sich und ging tiefgesenkten Hauptes in das Haus.