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Neunzehntes Capitel.

Die auf dem Rasenplatz waren mit bestürzten Mienen zurückgeblieben; Walter wendete sich zu Fräulein Charlotte und fing, etwas abseits mit ihr gehend, ein leises Gespräch an; Amélie blickte den Beiden nach, Tante Malchen, die der Schrecken aller Kraft beraubt hatte, mußte sich auf die Bank vor der Thür setzen. Was war dies für ein neues Unheil? Sie wußte aus ihren Karten, daß auch dem Försterhause ein Unglück bevorstand; sie hatte die böse Karte auf den Tod des Freiherrn gedeutet, der ja auch ihnen gestorben war; jetzt war es offenbar, daß sie, wie immer, eine viel zu günstige Deutung angenommen, und die gute Seele faltete die Hände und betete, daß ihr Hochmuth nur an ihr allein gestraft werden möge.

Da trat Fritz Gutmann wieder aus dem Hause. Er hatte Flinte und Jagdtasche umgehängt. Ponto, der seinen Herrn gerüstet sah, kam schnell herbeigetrabt und drückte schweifwedelnd seine Bereitwilligkeit aus, den Gang mitzumachen. Die jungen Hunde bellten und sprangen wie toll umher. Fritz Gutmann legte dem weinenden Malchen die braune Hand auf die Schulter und sagte: Ei, Malchen, wer wird sich so geberden! Die Silvia ist gesund! sie kommt nur nicht, das thut mir leid; ich hatte mich so darauf gefreut.

Der Förster sagte das sehr ruhig, aber es zuckte dabei seltsam um seinen Mund; dann wendete er sich zu den Anderen und sagte auch ihnen, daß Silvia nun doch nicht komme, und daß Fräulein Charlotte entschuldigen möge, wenn er jetzt nach Feldheim gehe, wo er noch Einiges für eine Holzauction, die morgen stattfinden solle, zu thun habe. Von der Auction werde er auf's Schloß kommen, und hoffe, dem gnädigen Fräulein dann aufwarten zu dürfen.

Fräulein Charlotte reichte dem alten Freunde schweigend die Hand, sie wagte nicht, ihn anzusehen, viel weniger noch, Fragen an ihn zu richten. Sie wußte, daß er kommen werde, wenn er könne, und daß er jetzt allein sein wolle – allein mit dem Briefe, den ihm Silvia geschrieben.

Der Förster schritt hinter dem Garten weg in den Wald auf dem Fußpfade, der zu dem Stege über den Bach leitete. Bis in diesen Theil des Waldes hatten sich die Umwälzungen, welche die Anlage der Fabriken in der Tuchheimer Gegend, selbst in der Physiognomie der Landschaft zuwege gebracht, nicht erstreckt. Hier war noch Alles, wie vor zehn oder zwölf Jahren, nur daß die Tannen noch stattlicher geworden waren und so um diese Stunde die Abendschatten noch dunkler auf den rauschenden, schäumenden Bach fielen. Selbst der Steg über den Bach bestand noch immer aus ein paar Balken und einem schwachen Geländer an der einen Seite, und die Felsblöcke zur Seite des kleinen Bassins unterhalb der Fälle hielt das Moos noch immer mit dichter grüner Decke übersponnen.

Die Stelle lag etwas abseits von dem Pfade; der Förster hatte nicht eigentlich hierher gewollt. Es hatte ihn eben hingezogen. Er nahm das Gewehr von der Schulter und setzte sich auf einen der Blöcke. In den Wipfeln über ihm rauschte der Abendwind, zu seinen Füßen plätscherte das Wasser zwischen den Steinen, von den Fällen her schallte das dumpfe Brausen. Fritz Gutmann lauschte der lieben Musik seines Waldes: sie hatte schon oft sein bewegtes Herz in Ruhe gewiegt, aber heute wollte der Text nicht passen zu der Melodie. Verloren, verloren! rauschte der Abendwind; dahin, dahin! plätscherte es zwischen den Steinen; armer Vater, armer, armer Vater! schallte es dumpf aus dem Brausen des Wasserfalles.

Der unglückliche Mann seufzte tief; immer deutlicher vernahm er das: Armer, armer Vater! Immer heißer quoll es in seiner Brust, bis er vor Wehmuth und Schmerz es schier nicht mehr ertragen konnte und die Hände vor das Gesicht preßte, um laut zu weinen.

War es denn möglich? Sein Kind, sein Leben, der Abgott seiner Seele, seine Silvia hatte ihn verlassen? Sie wußte nichts mehr von ihrem alten Vater? nichts mehr von dem grünen Wald, wo das Haus stand, in welchem sie geboren war? Das schlanke, geschmeidige Kind mit den glänzenden, blauen Augen, das in dem Schatten dieser Bäume gespielt, dessen flatternde Locken der Sonnenschein, der durch diese Wipfel fiel, so oft vergoldet hatte – es war nur ein Traum gewesen! Der eitle Traum eines thörichten Mannes, der gehofft hatte, daß dieses holde Geschöpf zu seiner Lust und Wonne so hold sei und sich so immer weiter entfalten werde! War es möglich? Sie hatte so seine Liebe und Treue vergessen können? Hatte thun können, wovon sie wußte, daß es ihrem alten Vater bitterer sein würde, als irgend Etwas, das ihm geschehen konnte? bitterer als der Tod? Und hatte es jetzt thun können, wo sie wußte, wie tief er ohnehin schon gebeugt war? In dieser Stunde thun können, wo er, wenn je, sich nach der Liebe seiner Lieben sehnen mußte bei all' dem Weh und Herzeleid? Nein, es war nicht möglich! Das konnte ja gar nicht in dem Briefe stehen; es war wohl nur eine böse Versuchung gewesen, die sie dem Vater gebeichtet hatte, gebeichtet hatte mit dem Zusatze, daß sie die Versuchung überwunden habe, daß sie in seine Arme zurückkehren werde – er hatte nur den Zusatz übersehen!

Mit zitternden Händen knöpfte Fritz Gutmann den alten Uniformrock auf und nahm den Brief Silvia's aus der Seitentasche. Er wollte den Brief noch einmal lesen. Aber war es das trübe Zwielicht des Abends an dieser ringsum eingeschlossenen Stelle – war es, daß die Thränen seine sonst so hellen Augen verdunkelt hatten – er konnte nicht damit zu Stande kommen; die Buchstaben, die Worte verschwammen ihm ineinander. Wie durch einen Nebel hindurch sah er nur einzelne Stellen: »Ich weiß es, daß es Dich kränken wird, aber ich kann nicht anders«; und wieder: »Ich weiß, daß Du mich verloren geben wirst, aber –«

Sie weiß das, weiß das Alles – und doch! Dann war sie nie wahrhaft mein Kind! Mein Kind hätte mich nicht so verlassen!

Und wieder kochte es in der Brust des Mannes auf; aber diesmal war es nicht die entnervende Wehmuth von vorhin, sondern etwas wie Zorn, der Zorn des Vaters über ein mißrathenes Kind. Er nahm den Brief und zerknitterte ihn in seinen Händen und riß ihn in Stücke und warf die Stücke in den Bach, der zu seinen Füßen vorübereilte.

Aber als er die weißen Blätter auf dem dunklen Wasser fortgetragen, und in den Wirbel auf- und niedertauchen, und nun zwischen den Felsen verschwinden sah – schrie er laut auf und fuhr in die Höhe. Es war ihm, als hätte er sein Kind in's Wasser geschleudert und sähe es jetzt vor seinen Augen ertrinken.

Mein Kind, mein Kind! rief er und streckte weit die Arme aus. Nein, nein! Thue was Du willst, ich fluche Dir nicht!

Er sank wie gebrochen auf den Felsblock zurück und drückte die Hände vor die Augen. War er nicht ein jähzorniger Thor! Hatte er sein Leben lang sich in Geduld geübt, und in stillem, mannhaftem Ertragen von Allem, was ihm das Schicksal beschieden, um jetzt auf seine alten Tage sich wie ein Unsinniger zu geberden? Wie ein Knabe, der, wenn ihm sein Herzenswunsch nicht erfüllt wird, glaubt, daß die Welt nun aus den Angeln gehen müsse?

Er hatte sie zu sehr geliebt – er war zu stolz auf sie gewesen. Ach! Er hatte es ja immer gewußt, wie seine Liebe und sein Stolz alles Maß überstieg, und hatte ja auch früh dagegen angekämpft: früh und doch nicht früh genug. Er hatte geglaubt, Wunder welche Entsagung zu üben, als er sie damals ganz auf dem Schlosse wohnen ließ. Das hatte nicht ausgereicht; im Gegentheil, es hatte seine Liebe nur gemehrt, wenn er sie jetzt, anstatt zu jeder Stunde, nur alle paar Tage einmal sah; es hatte seinen Stolz nur noch erhöht, als sie oben auf dem Schlosse von Allen verzogen und vergöttert wurde, wie sie unten im Försterhause der Liebling Aller gewesen war. Wie oft, wenn er Amélie und sie Arm in Arm hatte daherkommen sehen – sie so groß und schlank, und so kühn und frei aus den blauen Augen schauend, als sei das anmuthige Wesen an ihrer Seite ihr zum Schutz übergeben! – wie oft, wenn er die Blicke der Besucher des Hauses staunend an der jungen Försterstochter hangen und über deren Erscheinung das junge, gnädige Fräulein schier vergessen sah, hatte er in sich hineingelächelt und gedacht, so giebt es eben keine Zweite, und wenn sie ein Königskind wäre, könnte sie auch nicht anders sein.

Nein! das war noch zu nahe gewesen, und darum hatte er auch kein Wort dagegen gehabt und hatte sein Herz mit beiden Händen gehalten, als sie in dem großen Reisewagen saß, um mit der freiherrlichen Familie in die Stadt zu ziehen. Nun hatte er Ruhe gehabt vor ihr, nun hatte er sich doch nur nach ihr sehnen können, und sich freuen können, daß es ihr so gut ging – fern von ihm, fern von dem alten Vater, den sie doch noch immer liebte. Ihre Briefe, die er so oft las, bis er sie auswendig wußte, hatten es ihm ja bewiesen; die Freude, die aus ihren Augen leuchtete, so oft sie sich auf ihren kurzen Besuchen während dieser Jahre nach so langer Trennung wieder in seine Arme stürzte – hatte es ja gezeigt. Ja, er hatte sein größtes Gut, sein Kleinod nicht verschenkt, nur verliehen; er konnte es jeden Augenblick wieder haben, er brauchte nur zu sagen: Komm' wieder zurück zu Deinem alten Vater! und, wo immer sie war, sie würde freudig dem Rufe folgen.

Ach, der Ruf war an sie ergangen, sie war ihm nicht gefolgt! In dem Briefe, den die Wellen des Baches weggespült hatten, war es zu lesen gewesen, daß sein Kleinod, seine Perle ihm verloren, daß dem Vater die Tochter verloren war.

Was sollte er thun, sie wieder zu finden? Ihr befehlen zu kommen, wie er sie jetzt gebeten hatte? Aber läßt sich Liebe befehlen? Sie würde kommen, ja – und dann? Was dann? Dann sollte ihr stummer Blick ihm jede Stunde sagen: du hast mich meiner Freiheit beraubt; du hast mich in ein Leben gebannt, in das ich nicht gehöre. Dazu hast du kein Recht. Jedwedes Geschöpf hat das Recht, sich nach seiner Natur zu entwickeln. Du hast in früheren Jahren uns Kindern stets verboten, Waldvögel im Käfig zu halten: den jungen Falken hatten wir dir abgebettelt und als das arme Thier vor Gram gestorben war, warst du sehr zornig auf dich selbst und hast es lange nicht vergessen können. Nun willst du mich in den Käfig sperren?

Und dann siehe doch nur dies! Seit wann sorgen denn die alten Thiere für die jungen Thiere, wenn die jungen Thiere groß genug sind, für sich selbst zu sorgen? Ja, welches junge Thier, sobald es die rechte Kraft in sich fühlt, vergißt nicht Vater und Mutter und Geschwister und sucht sich einen eigenen Weg, wie er nun eben ist? Wir Menschen freilich dünken uns noch viel mehr; wir wollen nicht blos von Fleisch und Blut leben, sondern auch im Geiste, und das Einssein im Geiste ist nicht bedingt durch Raum und Zeit, und was sonst noch im Leben der Thiere allmächtig waltet. Aber freilich durch andere Bedingungen, die in ihrer Art auch allmächtig sind, durch die Eindrücke, die Erfahrungen, durch Alles, was wir hören, sehen, lernen – und weil nun eben Jeder doch nur mit seinen Ohren hören, mit seinen Augen sehen kann, kommt es, daß Keiner wie der Andere denkt, sich Jeder bei jeder Gelegenheit etwas Anderes denkt. Einssein im Geiste! Das ist wohl schön, aber hast du es je so recht erfahren, was das heißt? Bist du Eines gewesen mit dem Freunde deiner Jugend, den du so sehr geliebt hast? Bist du nicht alle Augenblicke mit Malchen, der treuen Seele, in Widerspruch? Bist du ganz sicher, daß du und Walter euch immer verstehen? Und selbst Fräulein Charlotte – ja, wären wir wahrhaft Eines gewesen im Geiste, wir wären trotz alledem ein Paar geworden. Nein, du hast es nie erfahren, nie gefunden, und verlangst es nun auf einmal von deinem Kinde? verlangst es deshalb so heftig, weil du nur an dich, nicht an sie denkst, nicht daran, wessen sie bedarf zu dem, worin sie das Glück, und wenn nicht das Glück, so doch den Zweck ihres Lebens sieht. Sagt doch Fräulein Charlotte selbst, daß das Mädchen in große Verhältnisse gehört, daß sie hier nicht leben konnte. Nun denn, so mag es sein! Mag sie sich ihren Lebensweg suchen. Die Erde ist weit. Durch Berg und Thal, durch Flur und Wald führen viele, viele Pfade, und der Himmel ist über allen.

So saß der Förster und sann und sann. Das Abenddunkel füllte bereits die ganze Schlucht; lauter rauschte es in den Bäumen, ungeduldiger plätscherte es zwischen den Steinen, kühler athmete es aus dem Walde heraus, den Bach hinab. Ponto, der bis dahin geduldig neben seinem Herrn gelegen hatte, richtete sich empor und legte ihm den Kopf auf die Kniee.

Ja, ja, wir wollen weitergehen, alter Freund, sagte der Förster, das treue, bewährte Thier zärtlich an sich drückend. Deine Jungen wollen auch nichts von dir wissen, und wenn du noch älter und stumpfer werden solltest, und – komm, Ponto! Wir müssen unsere Schuldigkeit thun, so lange es geht.

Der Förster erhob sich, hing die Flinte über die Schulter und schritt quer durch den Wald, bis er den Pfad nach Feldheim erreichte. Es dunkelte bereits stark im Walde, und Fritz Gutmann's Fuß stieß wiederholt an Baumwurzeln und Steine. Aber es war nicht die Dunkelheit, die seinen Schritt heute so wankend machte; er hatte sonst bei Tag und Nacht seinen Weg mit gleicher Sicherheit gefunden.


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