Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Für Ferdinande hatte die Nacht keine Schrecken, der Morgen keine Dunkelheit gehabt. In ihrer Seele war es hellichter Tag, seit vielen Monaten zum ersten Male, ja, wie sie meinte, zum ersten Male, seitdem sie wußte, welch ein leidenschaftliches, stolzes, anspruchsvolles Herz in ihrem Busen schlug. Sie hatten es ihr ja so oft gesagt, in früheren Jahren die Mutter, später die Tante, die Freundinnen – alle: Es werde noch einmal ihr Unglück sein und daß Hochmut vor dem Falle komme. Und sie hatte stets trotzig geantwortet: So will ich unglücklich sein, so will ich fallen, wenn das Glück nur um den schnöden Preis der Demut zu haben ist, die sich immer vor dem Schicksal im Stande windet; ich bin keine Justus-, ich bin keine Cilli-Natur.

So hatte sie noch gestern empfunden – in dem Augenblick selbst, der dem seligen Augenblick folgte, als sie seinen ersten Kuß empfangen und erwidert! Und heute lächelte sie über ihren Kleinmut unter Tränen des Glückes, heute bat sie dem Geliebten unter tausend glühenden Küssen, die sie in Gedanken auf seine schöne Stirn, seine holden Augen, seinen lieben Mund drückte, alles ab, was sie je gegen ihn Herbes und Bittres gedacht, gesagt und niemals, niemals wieder denken, wieder sagen würde!

Sie setzte sich an der Stelle, wo er sie geküßt, in einen Sessel und träumte ihn weiter, den seligen Traum, während sie nebenan hämmerten und klopften und zwischendurch schwatzten und pfiffen und der Regen gegen das hohe Fenster klapperte; – träumte, daß ihr Traum die Macht hatte, ihn herbeizuzwingen, der jetzt die Tür langsam und leise öffnete und – es war ja nur ein Traum! – auf sie zukam mit dem holden Lächeln auf den lieben Lippen und dem köstlichen Leuchten seiner dunklen Augen, bis plötzlich das Lächeln auf seinen Lippen erstarb und nur die Augen noch leuchteten, aber nicht mehr in dem holden Feuer, sondern in der düstern, schwermutsvollen Tiefe von ihres Vaters Augen. Und jetzt waren es nicht nur ihres Vaters Augen; es wurde immer mehr er selbst – der Vater! Heiliger Gott!

Sie war aus ihrem Schlummer emporgefahren, ihre Glieder schlugen, sie sank wieder in den Sessel zurück und raffte sich alsbald wieder empor. Sie hatte an dem Blick seiner Augen, an dem Brief, den er da in der Hand trug, mit dem ersten halbwachen Blick gesehen, weshalb er gekommen war. Sie sagte es ihm in halbwachen, wirren, leidenschaftlichen Worten. Er hatte das Haupt gesenkt, aber widersprach ihr nicht; er erwiderte nichts als: Mein armes Kind!

Ich bin dein Kind nicht mehr, wenn du mir das antust!

Ich fürchte, du bist es in deinem Herzen nie gewesen.

Und wenn ich es nicht gewesen bin, wer ist daran schuld als du? Hast du mir je die Liebe gezeigt, die ein Kind von seinem Vater zu fordern berechtigt ist? Hast du je etwas getan, mir das Leben, das du mir gegeben, wert zu machen? Hat dir mein Fleiß je ein Wort des Lobes abgerungen, was ich leistete, je ein Wort der Anerkennung entlockt? Hast du nicht vielmehr alles getan, mich vor mir selbst zu demütigen, mich kleiner zu machen, als ich in Wirklichkeit war? Und jetzt, jetzt kommst du, mir meine Liebe zu entreißen, bloß, weil es dein Stolz so will, bloß, weil es dich beleidigt, daß ein so nutzlos niedriges Geschöpf auch einen Willen haben kann, etwas andres wollen kann als du? Aber du irrst dich, Vater! Ich bin trotz alledem deine Tochter. Du kannst mich verstoßen, du kannst mich ins Elend treiben, wie du mich mit dem Hammer da zerschmettern kannst, weil du der Stärkere bist; meine Liebe kannst du mir nicht entreißen!

Ich kann es, und ich werde es.

Versuche es!

Der Versuch und das Gelingen ist eines: Willst du die Maitresse des Herrn Leutnant von Werben werden?

Was hat die Frage mit meiner Liebe zu tun?

So will ich sie in eine andre Form bringen: Hast du die Stirn, den elenden, törichten Geschöpfen gleichen zu wollen, die sich einem Manne hingeben – außer der Ehe oder in der Ehe, denn die Ehe ändert daran nichts – für irgend einen andern Preis als den der Liebe, den sie für ihre Liebe eintauschen? Herr von Werben hat nichts in den Tausch zu geben; Herr von Werben liebt dich nicht.

Ferdinande lachte höhnisch auf. Und er ist gekommen, zu dir gekommen, von dem er wußte, daß du ihn und sein Geschlecht mit einem blinden Hasse verfolgst, um dir das zu sagen?

Er ist nicht gekommen; sein Vater mußte den schweren Gang für ihn tun, zu dem er selbst nicht den Mut hatte, zu dem sich der Vater die Ermächtigung des Sohnes erst erpressen mußte.

Das ist –

Keine Lüge! Bei meinem Eid! Noch mehr: Nicht einmal aus freien Stücken ist er zu seinem Vater gegangen; er würde es heute nicht, er würde es vielleicht nie getan haben, wenn ihn der Vater nicht hätte rufen lassen, um ihn zu fragen, ob es wahr sei, was sich die Spatzen auf dem Dache erzählten und freche Gauner den ahnungslosen Vätern in anonymen Briefen schrieben, daß der Herr Leutnant von Werben eine Liebste habe so über die Gartenwand herüber, oder – was weiß ich!

Zeig mir die Briefe!

Hier ist der eine, den andern wird dir der Herr General gewiß gern überlassen; ich bezweifle, daß sein Herr Sohn darauf Anspruch erhebt.

Ferdinande las den Brief

Sie hatte für sicher genommen, daß nur Antonio der Verräter gewesen sein könne; aber dieser Brief war nicht von Antonio, konnte nicht von Antonio sein. So hatten noch andere Augen als die liebeglühenden, eifersuchtsprühenden Feueraugen des Italieners in ihr Geheimnis gesehen! Ihre eben noch bleichen Wangen flammten auf in zorniger Scham. – Wer hat den Brief geschrieben?

Roller, in dem Briefe an den General hatte er nicht einmal seine Hand verstellt.

Sie gab den Brief hastig dem Vater zurück und strich sich über die Hände, als wollte sie die Spur der Berührung entfernen.

Der entlassene Inspektor war anfänglich in die Familie gezogen worden, bis Ferdinande sah, daß er die Augen zu ihr zu erheben wagte. Sie hatte den Vorwand eines Streites, den jener mit dem Vater gehabt, benutzt, die gesellschaftlichen Beziehungen erst zu lockern, dann fallenzulassen. Und die frechen, widerwärtigen Augen dieses Menschen –

Sie ging mit großen Schritten auf und nieder, eilte dann an den Schreibtisch, der in der Tiefe des weiten Raumes stand, schrieb mit fliegender Feder ein paar Zeilen und trat dann mit dem Blatte an den Vater heran, der regungslos auf derselben Stelle stehen geblieben war: Lies!

Und er las:

»Mein Vater will mir das Opfer seiner Überzeugungen bringen und willigt in meine Verbindung mit dem Herrn Leutnant von Werben. Ich aber, aus Gründen, die mein Stolz niederzuschreiben sich sträubt, weise diese Verbindung für jetzt und immer als eine moralische Unmöglichkeit zurück und spreche den Herrn Leutnant von Werben los und ledig von jeder Verpflichtung, die er etwa gegen mich zu haben glaubt und hat. Dieser Entschluß, den ich in voller Freiheit gefaßt, ist unwiderruflich. Jeden Versuch des Herrn Leutnant von Werben, ihn umzustoßen, würde ich als eine Beleidigung ansehen.

Ferdinande Schmidt.«

Ist es so richtig?

Er nickte: Dies soll ich ihm schicken?

In meinem Namen.

Sie hatte sich von ihm abgewandt und war, ein Modellierholz ergreifend, vor ihre Arbeit getreten. Der Vater faltete das Blatt zusammen und ging nach der Tür. Dort blieb er stehen. Sie blickte nicht auf, scheinbar ganz in ihre Arbeit vertieft. Seine Augen ruhten auf ihr mit einem tiefschmerzlichen Ausdruck. – Und dennoch! murmelte er, dennoch!

Er hatte die Tür hinter sich geschlossen und schritt langsam über den Hof, durch dessen weite, öde Räume der Regensturm heulte.

Wüst und leer! murmelte er, alles wüst und leer. – Das ist das Ende vom Liede für mich und sie.

Onkel!

Er schrak aus seinem dumpfen Brüten empor; Reinhold kam eilends vom Hause her auf ihn zu – barhaupt, aufgeregt.

Onkel, um Gottes willen! – Der General geht eben von mir; ich weiß alles – was habt ihr beschlossen?

Was wir mußten.

Es wird Ferdinandes Tod sein!

Besser den Tod als ein ehrloses Leben.

Er schritt an Reinhold vorüber in das Haus. Reinhold wagte nicht, ihm zu folgen. Er wußte, daß es vergeblich sein würde.


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