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Ferdinande war heute wie immer zur gewohnten Stunde in ihr Atelier gegangen; sie hatte sogar zu arbeiten versucht; aber mit welcher stählernen Energie und wie lange sie sich nun auch bereits geübt, ihr Talent unter ihren Willen zu zwingen, und wie weit sie es auch in dieser schmerzlichen Übung bereits gebracht – heute war der Kampf vergeblich gewesen, und sie hatte wieder einmal ihre Werkzeuge fortgelegt.
Zum letzten Male, sagte sie.
Sie hatte eigentlich gemeint: für heute, aber das Wort, das sie laut gesprochen, hatte in dem großen, hohen Raum so eigen geklungen, als ob gar nicht sie, sondern jemand anderes es gesagt – von weit her – eine geisterhafter prophetische Stimme, daß sie erschrocken lauschend stand, ob die Stimme noch mehr sagen würde.
Weshalb eine Prophetenstimme, um zu vernehmen, was das eigne gebrochene Herze längst gesagt?
Cilli hatte es besser!
Oh, der Glückseligen! So jung zu sterben, ohne daß je der leichteste Makel auch nur den leuchtenden Saum ihres Gewandes befleckt! Drüben, wenn es ein Drüben gab – und für sie gab es ja eines – den Himmel wiederzufinden, den sie sich schon auf Erden in ihrem keuschen, demutvollen Herzen geschaffen!
Und sie nun, die Unglückseligste! Sie, für die das Drüben ein schönes Märchen war, seitdem das rastlose Gehirn da hinter ihrer brennenden Stirn zu arbeiten begonnen; sie, deren wollendes Herz einst alle Wonnen des Erdenlebens in sich einschlürfen wollte wie das Meer die Ströme, die brausend, jauchzend ihm entgegenrollen, und das nun verschmachtete, wie die dürre Wüste unter dem ehernen Himmel! Sie, deren machtvolle Natur geschaffen schien, die grauenhafte Bürde des Lebens weiterschleppen zu müssen, die ungemessenen Jahre bis zu einem späten, öden Grabe, wie ein gefangener Held unter der schweren Last, die man den starken Schultern aufgeladen, nicht hoffen darf, zusammenzubrechen, zu verzucken unter den Peitschenhieben des Treibers; wie der schwächere Gefährte, er müßte denn, die Last abwerfend, sich seinen Peinigern entgegenstürzen: Ihr oder ich!
Nein, kein Oder!
Der Tod war ja gewiß für den, der ihn nicht fürchtet!
Fürchtete sie den Tod?
Sie!
Mit dem Steinbohrer da, mit dem ersten besten Werkzeug von ihrem Arbeitstisch wollte sie es vollbringen mit dieser ihrer Hand, wenn –
Wenn da drinnen in dem tiefsten Herzen, wo doch noch ein verschütteter Quell sickern mußte, eine Sirenenstimme nicht klagte und lockte: Stirb nicht, sonst tötest du auch mich, die letzte von den Schwestern allen, die mächtigste! Nur ein Augenblick ist mein – nur einer und vorher Nacht und hinterher Nacht; aber er überstrahlt die Herrlichkeiten aller Ewigkeiten, dieser einzige Augenblick! –
Nebenan hatten sie wieder den ganzen Morgen gepfiffen und gesungen und gelärmt, – und lauter noch als sonst, da der Meister heute nicht zugegen, und hatten sich stundenlang darüber unterhalten, und ob es wohl, wenn sie erst eine Frau Meisterin hätten, – ein Witzbold hatte das Wort aufgebracht – auch noch so lustig im Atelier zugehen werde.
Nun war es still geworden, nur der Sturm sauste und heulte um das stille Haus und rasselte und rüttelte an dem hohen Fenster.
*
Onkel Ernst, der, die Hände auf dem Rücken, in dem Zimmer auf- und nieder geschritten war, hatte, in dumpfes Grübeln versunken, die leise Tür nicht gehen hören. Jetzt, am andern Ende des Zimmers angekommen, wandte er sich und zuckte zusammen.
Cilli! sagte er mit tiefem Atemzuge.
Cilli, wiederholte er, indem er nun auf sie zuging, die ihn schweigend erwartete.
Er stand vor ihr. Die schweren finsteren Gedanken, in denen er eben noch gewühlt, und das engelhafter verklärte Antlitz, in das er blickte – es berührte ihn wundersam; und seine Hand, die jetzt die ihre erfaßte, zitterte, und seine Stimme bebte, als er, sie zu einem Sessel geleitend, sagte: Was führt dich zu mir, Kind? Ist dein Vater kränker geworden?
Ich glaube, nein, erwiderte Cilli, obgleich ich weiß, daß er es nicht lange überleben wird.
Das ist ja alles Unsinn und dummes Zeug, sagte Onkel Ernst – und die Milde in dem Ton seiner Stimme kontrastierte eigen mit den rauhen Worten.
Ich weiß, wie gütig Sie sind, erwiderte Cilli, und ich hatte mir heute morgen vorgenommen, Ihnen aus dem Grunde meiner Seele zu danken für alles, was Sie an uns getan haben und an meinem armen Vater tun werden, wenn ich nicht mehr bin.
Ich will davon nichts hören, sagte Onkel Ernst.
Ein geisterhaftes Lächeln spielte über Cillis bleiches Gesicht.
Der Tod hat eine beredte Stimme, sagte sie. Ich habe darauf vertraut, als ich mich eben zu Ihnen schleppte; und daß meine Stimme, die aus einem Herzen kommt, in dem der Tod wohnt, zu Ihrem Herzen dringen wird, das, wie rauh es auch oft scheint, doch so mild und gut gegen die Armen, die Verlassenen, die Hilflosen, die Unglücklichen ist.
Sie sprach so leise; Onkel Ernst hatte Mühe, sie zu verstehen. Was wollte das arme Kind?
Sprich es aus, Cilli, sagte er. Du weißt, dir könnte ich nichts abschlagen, auch wenn es mir schwer würde, es zu erfüllen.
Sie dürfen es mir auch nicht abschlagen, obgleich es Ihnen sehr schwer werden wird, denn Sie sind sehr stolz, und der Stolz brachte den herrlichsten der Engel zu Fall, und Ihr Stolz blutet schon heute aus einer tiefen Wunde – verzeihen Sie, daß ich daran rühre – es ist gewiß sehr schmerzlich – aber der Herr am Kreuz vergab seinen Beleidigern – allen, und, wer sündigt, und wäre er im Menschensinne noch so klug – er weiß nicht, was er tut. Wer aber im Menschensinne sündigt, weil er liebt, mit einer solchen armen liebenden Seele fühlt ja jeder gute Mensch göttliches Erbarmen. Wie sollte es der Vater nicht, der für seine Kinder auf Erden der Stellvertreter des Vaters im Himmel und vollkommen sein soll, wie der Vater im Himmel vollkommen ist. Seien Sie barmherzig gegen Ferdinande!
Nicht doch, mein Kind! Es ist ja alles – was du da sprichst – aber dir bin ich gut. Und das Papier da – das hat sie dir gegeben?
Sie schritt langsam nach der Tür; dort blieb sie stehen, wandte sich, erhob beide Hände in bittender Gebärde nach ihm, der ihr mit traurig-düstern Blicken nachschaute, und tastete nach dem Griff.
Sie sind alle gegen mich im Bunde, im Guten, wie im Bösen, murmelte Onkel Ernst.
Er starrte auf das Blatt: »Ich sage Dir Lebewohl – für immer! Du brauchst meine Liebe nicht, – und Deine Liebe! Ich habe sie erfahren! Zertreten hast du mein Herz, zerbrochen hast Du meine Seele, – mein Herz, meine Seele, meine Liebe Deinem Stolz geopfert, hingeschlachtet – mitleidslos, wie ein fanatischer Priester. So hüllt Euch denn in Eure Pharisäertugend, labt Euch an Eurem hochmütigen Stolz! – Für uns: Willkommen die Schande! Willkommen das Elend! Willkommen der Tod!«
Er preßte die Hände gegen die hämmernden Schläfen, es flirrte ihm vor den Augen, er taumelte nach dem offenen Fenster, die glühende Stirn, die Brust, von der er die Kleider gerissen, dem Sturm bietend, der ihm entgegenbrauste.
Stützen Sie sich nur fest auf meinen Arm, Fräulein, hatte Grollmann gesagt, als er Cilli in der Tür in Empfang genommen.
Er hätte für sein Leben gern gewußt, was sie drinnen so lange mit dem Herrn verhandelt, aber sie war so entsetzlich bleich, und ihr Atem ging so schnell und stockte dann wieder – er hatte nicht das Herz, sie zu fragen, und wenn sie die Antwort auch nur ein Wort gekostet hätte. Und dann, als sie auf dem ersten Absatz angekommen waren und sie nun trotz alledem stillstehen mußte, hatte sie ihm kaum fühlbar – es war wohl alles, was sie konnte – seine Hand gedrückt und ihm zugelächelt. Das ist ja auch eine Antwort, dachte der Alte.
In der Nähe des einen der beiden hohen Fenster, da, wo Herr Anders selbst zu arbeiten pflegte, stand auf einem niedrigeren Postamente eine Büste aus weißem Marmor. Es war das Bild der Braut von Herrn Anders; Grollmann, der nun schon so viele Jahre dem Künstlertreiben zugesehen und ein halber Kenner war, hatte seine Freude an dem Bilde gehabt, wie es mit jedem Tage ähnlicher und immer ähnlicher wurde – ordentlich zum Greifen, hatte Grollmann gesagt.
Auf das Bild war sie zugegangen und war davor stehen geblieben, hatte die Hände erhoben und das Bild gestreichelt, gerade als ob sie mit dem Bilde spräche – und hatte es geküßt, als ob's ein lebendiger Mensch wäre – und hatte sich auf den Schemel gesetzt, der dabei stand und auf den Herr Anders sich zu stellen pflegte, wenn er nicht zu seinen Figuren hinaufreichen konnte, – und hatte den Kopf an das Postament gelehnt und sich nicht weiter geregt.
Das arme Kind! sagte Grollmann. Sie schläft wahrhaftig schon mit halbgeschlossenen Augen, und wie freundlich sie lächelt! Es ist ein Jammer, daß ich sie wecken soll; wenn ich ihr einen Mantel, oder – da liegt ja so was wie eine Decke.
Grollmann tat einen Schritt und stieß an ein Trittbrett – das klappte in die Höhe; es gab ein lautes Geräusch. Ärgerlich wandte sich der Alte; er hatte sie gewiß aufgeweckt! Aber die Augen waren noch immer halb geschlossen, und sie lächelte wie vorhin.
*
Es war wenige Minuten vor zwölf, als an dem Abfahrtperron des Berlin-Sundiner Bahnhofes eine Droschke vorfuhr, von deren Bock August schnell herabsprang, dem General herauszuhelfen. Der General stieg die Stufen hinauf, während August sich vergebens nach einem Gepäckträger umsah.
Ich sagte es Ihnen ja, rief der Droschkenkutscher, August den kleinen Koffer zulangend, unsereiner wird doch das wohl kennen.
Ein Gepäckträger, der vorüberging, bestätigte die Aussage des Droschkenkutschers. Der Mittagszug ging seit dem heutigen Ersten um elf; der nächste Schnellzug in der Nacht um zwölf Uhr, wie sonst. Ein höherer Beamter trat heran; er hatte in dem Regiment gedient, das der General, als Oberst, zuletzt kommandiert: Wenn es der Herr General, wie es scheine, so eilig habe – da sei vor wenigen Minuten ein Herr auch zu spät gekommen; der Herr habe einen Extrazug verlangt; es werde schwer halten, da alle Züge heute mit zwei Lokomotiven hätten abgelassen werden müssen, des Sturmes wegen, der ja oben, nach Sundin zu, furchtbar wüten solle. Auch müßten sie ein paar Lokomotiven in Reserve halten, falls ein Unglück passierte, um so mehr, als die Telegraphenleitung nach Sundin bereits zerstört sei und sie etwaige Nachrichten nur auf großen Umwegen erhalten würden. Indessen ließe es sich doch vielleicht noch machen. Der General sagte, daß er warten solle, er wisse noch nicht, was er tun werde. August ging tief bekümmert; es war das erste Mal, solange er bei dem Herrn General diente, daß der General nicht wußte, was er tun werde.
In der Tat war der unglückliche Mann in einem Seelenzustand, der an Wahnsinn grenzte. Nach der fürchterlichen Abrechnung mit seinem Sohne alles, was ihm noch von Kraft blieb, auf den einen Punkt konzentrierend: Rache, ungesäumte, unerbittliche Rache nehmen zu wollen an dem tückischen Buben, dem gleißnerischen Schurken, der ihm jetzt den Sohn geraubt, wie vormals die Schwester, und Schande über Schande auf den stolzen Namen der Werben gehäuft. Hatte er zuviel verlangt? War der Tod bittrer als die Seelenqual, die er erduldet in diesen fürchterlichen Stunden? – Ottomar mußte zu sterben wissen; er durfte nicht auf die Schande des Betruges die tausendmal größere Schande einer feigen Flucht wälzen! Und dazu – zu dieser feigen, schimpflichen Flucht – hatte Schönau Ja und Amen sagen können? Hatte er denn wirklich vorher seine und des Obersten Meinung so gänzlich mißdeutet? War er allein zurückgeblieben aus einer früheren besseren Zeit, unverstanden von dem jetzt lebenden Geschlecht, wie er es nicht mehr verstand? Wo blieb denn noch der Unterschied zwischen einem Edelmann und einem Komödianten, der von seinen Gläubigem davonläuft, einem Kommis, der mit der Kasse seines Prinzipals durchgeht – der Unterschied zwischen Ottomar von Werben und Herrn Philipp Schmidt? Es war keiner: Der bürgerliche Bankerotteur und der adlige Fälscher – sie standen auf einer Stufe.
Ich höre soeben, Herr General, daß auch Sie nach Sundin wollen. Ich muß annehmen, in der gleichen Angelegenheit, die mich dorthin führt. Man hat mir in einer halben Stunde einen Extrazug versprochen. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, sich derselben Gelegenheit zu bedienen?