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Ich wünsche, wenn es möglich ist, dies Zimmer zu behalten«, sagte ich, als Louis mir am nächsten Morgen den Kaffee brachte.
»Yes, Sir!« sagte Louis und verschwand; er hatte heute Morgen mehr zu thun, als sich mit mir in eine Unterhaltung einzulassen. Anstatt seiner erschien später eine Aufwärterin, dieselbe gute alte Person, die ich vor einigen Tagen dem Doctor ihre Noth klagen hörte, als die Amerikaner wieder einmal den Schlüssel zu ihrem Zimmer mitgenommen hatten. Ich merkte jetzt auch, weshalb der Doctor bei der Gelegenheit so schreien mußte; die gute Alte war beinahe taub. Als ich sie gebeten hatte, mir warmes Wasser zu besorgen, brachte sie mir nach einiger Zeit einen Stiefelknecht, und als ich ihr pantomimisch begreiflich zu machen suchte, daß ich mich zu rasiren wünschte, lächelte sie freundlich und sagte, wenn ich erst so alt wäre, wie sie, würde ich auch wohl Runzeln im Gesicht haben.
Meine discrete Absicht, sobald ich die alte Frau erblickte, war gewesen, sie über die Amerikaner, deren Zimmer sie in Ordnung zu halten hatte, auszuholen; daran war nun freilich unter so erschwerenden Umständen nicht zu denken. Ueberdies mußte ich mich mit meiner Toilette beeilen, wenn ich die auf neun Uhr festgesetzte Abfahrt Sr. Durchlaucht nicht versäumen wollte.
Dennoch kam ich schon zu spät; die Wagen fuhren eben ab, als ich aus dem Hause trat. Ich sah den hohen Herrn nur noch gnädig nach rechts und links winken, hier nach Dr. Kühleborn und der beinahe vollzählig versammelten Badegesellschaft, dort nach den Dorfbewohnern, die Hurrah schrieen, – und die Wagen bogen um die Ecke.
Man ging in den Kurgarten, sich gegenseitig über die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden auszusprechen. Es gab viel zu erzählen; jeder hatte seine besonderen Beobachtungen gemacht. Das Hauptthema war natürlich die Ehre, welche den Amerikanern und dem Grafen von dem hohen Herrn widerfahren war. Gestern Abend hatte er Miß Ellen nicht mehr von seinem Arm gelassen; heute Morgen bei Mr. Cunnigsby sich nach ihr und den beiden anderen Damen angelegentlichst erkundigt, schließlich ihn und seine Familie, und natürlich auch den Grafen, zu einem längeren Besuche auf seinem Lust- und Jagdschloß Malepartus Der Begriff bezeichnet in der Tierfabel die Wohnung des Fuchses. eingeladen. Man fand es im Allgemeinen selbstverständlich, daß der hohe Herr sich nur um die eigentliche Aristokratie der Badegesellschaft, das heißt um die Amerikaner und den Grafen, gekümmert habe, denn daß Frau v. Pusterhausen und Frau v. Dinde trotz ihrer lächerlichen Prätensionen nicht vollschlechtig, höchstens halbschlechtig seien, daran könne doch jetzt wohl kein Verständiger mehr zweifeln. In dem Kreise des englischen Kränzchens wurde die Frage, ob ein Engländer oder ein Amerikaner von Geburt hoffähig, einstimmig bejaht; die Sache sei seit gestern entschieden. Die kleine Frau Herkules schwelgte förmlich in der »Poesie« des gestrigen Tages. Die »ritterliche« Gestalt des hohen Herrn, sein »chevalereskes« Benehmen gegen die Damen, selbst sein »souveränes« Uebersehen der »gewöhnlichen Menschheit« – Alles wurde dithyrambisch gefeiert, wie mir schien, nicht ohne Nebenabsicht. Ich weiß nicht, mit welchem ihrer fünf Augenaufschläge die kleine Frau die Scene von Käthchen v. Pusterhausen's Ohnmacht und Lindau's Hilfsleistung beobachtet hatte – aber sie hatte sie beobachtet, und es war offenbar, daß mit der »übersehenen gewöhnlichen Menschheit« niemand Anders als das unglückliche Käthchen gemeint sei. Auch Lindau mußte es so verstanden haben, denn er fing in seiner still-satyrischen Weise an, das Wort »gewöhnlich« in Schutz zu nehmen, da es mit »Wohnen« zusammenhänge Die Vorlage hat hier »zusammenhange«; in SW8, aaO., S. 109, dagegen mit Umlaut., wovon wieder »Wohnung« und »wohnlich« abgeleitet seien, so daß er fast behaupten möchte, eine »gewöhnliche« Frau sei eine, mit der es sich gut »wohnen« ließe, weil sie einem die »Wohnung« »wohnlich« machen würde; wobei man dann ganz von selbst als Gegensatz an das Dichterwort über die Menschen erinnert werde, bei denen, trotz mancher sonstigen Begabung, jene wohnlich-friedlichen Grazien leider ausgeblieben seien, und an deren Busen es sich daher nie ruhen lasse. Hier bemerkte ein anwesendes älteres Fräulein – nicht Fräulein Kernbeißer; sie war über dergleichen Pruderieen hinaus – daß das Gespräch eine Wendung nehme, in welcher es kaum noch für die Ohren junger Mädchen geeignet erscheine, worauf sich Herr Lindau erhob und etwas von keuschen Ohren und keuschen Herzen murmelte. Niemand, der, wie ich, Herrn Lindau seit acht Tagen beobachtet hatte, konnte zweifeln, daß der »schönen Mutter schön're Tochter«, und nicht weniger »der schön'ren Tochter schöne Mutter« sammt Mond und Sonne dem Dichter untergegangen waren und ihm jetzt andere Sterne leuchteten.
Ich ging, Egbert aufzusuchen, fand ihn aber nicht, so schritt ich weiter das Dorf hinauf dem Walde zu. Ein Pfad zweigte sich rechts ab. Derselbe lief etwas höher an dem Rande des Waldes, aber noch zwischen den Tannen hin; man hatte die letzten Häuser des Dorfes und den Weg, der von dort weiter in den Wald führte, gerade unter sich. Als ich langsam, die Hände auf dem Rücken, in tiefer Nachdenklichkeit über die Liebe im Allgemeinen und Egbert's Liebe zu der schönen Ellen im Besonderen jenen oberen Pfad dahin schritt, sah ich plötzlich, bei einer scharfen Wendung um einen moosbewachsenen Fels, den Freund. Er stand an eine Tanne sich stützend, etwas vornübergeneigt, augenscheinlich etwas, das unter ihm auf der Dorfstraße vorging, mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtend, denn er hörte mich nicht, bis ich dicht bei ihm stand.
»Nun, Egbert!« sagte ich.
Er zuckte zusammen, griff nach meiner Hand und deutete mit der anderen hinab. Da sah ich denn freilich ein Schauspiel, das auch wohl für weniger empfängliche Augen und Herzen hinreichend anziehend wäre.
Wir blickten ungefähr zwanzig Fuß hoch auf einen kleinen Platz hinab vor einer der letzten, ich glaube der letzten Hütte des Dorfes. Der tiefer liegende Weg in den Wald führte unmittelbar an diesem Hause und Platze vorüber, und so mochte es denn gekommen sein, daß eine alte kranke Frau, die ich schon mehrmals in sich zusammengesunken in einem Rollstuhl auf diesem selben Platze bemerkt hatte, die Aufmerksamkeit einer jungen Dame, die des Weges gekommen war, erregte. Ein paar halbwüchsige Kinder, die der Alten zu warten hatten, mochten es vergnüglicher gefunden haben, in den Wald zu klettern und Heidelbeeren zu suchen, als den Stuhl mit der Kranken so zu rücken, daß ihr die höher steigende Sonne nicht direct in die armen hilflosen Augen fiel. Und da war denn eine junge Dame des Weges gekommen, hatte gesehen, wie die alte Frau vergeblich die paralytische Hand über den Augen zu halten suchte, hatte für's erste einmal den Stuhl weiter gerollt, daß der Schatten von dem Verdeck über die Kranke fiel, und war jetzt beschäftigt, dem armen Geschöpf, das sich in seiner Noth hin und her gewandt haben mochte, die Kissen wieder zurecht zu rücken und sonst eine bequeme Lage zu geben.
Es war ein reizendes Bild: die schlanke, anmuthige, junge Samariterin, wie sie sich über den Wagen beugte, und, mit beiden Armen die Alte umschlingend, sie in die Höhe richtete; wie die Alte die weißen Hände der jungen Dame an die zitternden Lippen drückte, wie diese solches Uebermaß des Dankes freundlich abwehrte, und dann, sich scheu umblickend, ob sie auch wohl Niemand bei ihrem barmherzigen Werk gesehen habe, der Alten noch einmal mit holdem Lächeln zunickend, auf dem Wege nach dem Dorfe zu davon eilte.
Egbert richtete sich auf und wandte sich ab, die Thränen, die ihm in den Augen standen, zu verbergen. Auch mir waren die Wimpern feucht geworden. Wir schritten eine Zeit lang ohne zu sprechen nebeneinander den Waldpfad dahin, auf den die Sonne durch die Zweige der halbwüchsigen Tannen mit Schatten spielende Lichter streute.
»Du weißt jetzt auch, weshalb ich in den letzten Tagen immer erst eine Stunde später zu der englischen Stunde gekommen bin«, sagte Egbert.
Ich sah ihn fragend an.
»Ich habe nämlich herausgebracht«, fuhr er mit einem Erröthen, um das ich ihn beneidete, fort, »daß die Alte und die Andere um diese Stunde im Bade sind, während die Herren Billard spielen, und daß sie diese Zeit regelmäßig zu einem Spaziergang benutzt, immer hier hinaus, und –«
»Und da stehst Du denn hier, bis die Liebliche sich zeigte, bis das theure Bild – Bravo, Egbert, so gefällst Du mir! Und hast Du nicht versucht, ihr zu begegnen –«
»Das wohl –«
»Und sie anzureden –«
Egbert lächelte trübselig. »Ich würde auch viel herausgebracht haben. I love you tenderly – das ist ja Alles, was ich sagen kann.«
»Und wäre für Deine Zwecke auch vollkommen genügend. Fasse Dir das Herz, Egbert, an dem es Dir doch wahrhaftig sonst nicht fehlt. Tritt ihr morgen um eine Waldecke herum mit höflichem Anstande entgegen, zieh' Deinen Hut, lege die andere Hand auf's Herz und sage: I love you tenderly. Und setze den Hut wieder auf, ergreife ihre Hand oder ihre Hände und sage noch einmal: I love you tenderly! Und wenn sie nun, was sie jedenfalls thun wird, mit holderröthendem Gesicht, zitternd vor Dir steht, laß ihre Hände los, fasse sie in Deine Arme und sage zum dritten Male – nein! dann mußt Du nichts mehr sagen, sondern stumm –«
»Halt ein, Unglücklicher«, rief Egbert, »Du machst mich rasend.«
»Das ist auch eine Lection im Englischen, und die beste, die ich Dir geben kann«, erwiderte ich. »Im Ernst, Egbert, wir müssen endlich von Worten zu Thaten kommen. Die Zeit verrinnt. Hast Du gehört, daß sie Alle in wenigen Tagen Tannenburg verlassen und nach dem Jagdschloß des Großfürsten reisen werden, wohin Du, so viel ich weiß, nicht eingeladen bist?«
Egbert sah mich erschrocken an. »Das hat auch noch gerade gefehlt«, murmelte er.
»Allerdings hat das oder etwas der Art gefehlt«, erwiderte ich; »um Dich aus Deiner Thatlosigkeit aufzuspornen. Wie sollen wir weiter kommen, wenn Du auch nicht einmal einen Versuch machst, durch die Dornenhecke zu dringen, hinter der Dein Röschen schläft. Und ich glaube gar nicht, daß sie schläft; ich bin vielmehr überzeugt, daß sie die schönen Augen weit offen hat, daß sie sehnsüchtig nach dem kühnen Ritter, der sie erlösen soll, ausschaut.«
Ich theilte Egbert meine Beobachtungen von gestern Abend mit, und versetzte ihn dadurch in die größte Aufregung.
»Es ist nicht anders«, rief er; »sie soll dieses Scheusal von Ungarn heirathen. Es war mein erster Gedanke, als wir dem Kerl im Walde begegneten, und Alles, was ich seitdem gesehen habe, hat meinen Verdacht nur bestätigt.«
»Ich schließe mich durchaus der Meinung des geehrten Vorredners an«, sagte ich; »aber ich ziehe daraus nur den Schluß, daß Du endlich etwas thun mußt, den Gegner aus dem Sattel zu heben. Der Tausend, Egbert! ein solcher Preis ist doch wenigstens eines Versuches werth.«
»Mein Gott«, rief Egbert heftig; »wenn Du so weise bist, so sage mir doch, was in aller Welt ich thun soll. Zeig' mir einen Weg, den man menschenmöglicherweise gehen kann, und nenne mich einen erbärmlichen Schuft, wenn ich auch nur einen Augenblick schwanke.«
Ich hatte nie lebhafter gefühlt, als in diesem Augenblicke, wie hoffnungslos eigentlich der Fall sei, aber ich hütete mich wohl, das auszusprechen. Die Sache war nun einmal auch meine Sache geworden, und seit gestern Abend und heute Morgen mehr als je.
Wir waren, fortschreitend, auf den unteren Weg gerathen, und hatten, diesen verfolgend, das Häuschen erreicht, vor dessen Thür der Rollstuhl mit der Kranken noch immer stand, nur daß ihre Wärter, ein halbwüchsiger zerlumpter Bube und ein eben solches Mädchen, unterdessen mit blauen Mäulern aus dem Walde zurück waren und, in der Sonne sitzend, den Rest ihrer Beute aus des Jungen Mütze vollends verzehrten.
Es verstand sich von selbst, daß wir an die Kranke, die uns plötzlich so interessant geworden war, herantraten. Sie war bei näherer Betrachtung nicht so alt, und erwies sich trotz ihres elenden Zustandes als eine freundliche, ja gesprächige Person. Sie heiße Minna König, erzählte sie, und sei schon als junges Mädchen contract gewesen. Vor zehn Jahren habe man sie aus ihrem Heimathsorte hierher geschafft, seitdem sei sie hier geblieben, in Kost und Pflege bei dem guten Doctor, der nie einen Groschen von ihr genommen, und sie, wie es den Anschein habe, nun auch wohl zu Tode füttern werde. Was sie auch wohl in ihrer Heimath solle, wo sie allen Menschen zur Last sein würde, um so mehr, als es ihrem Bruder, der Waffenschmied sei, eben nicht schlecht, aber auch wohl nicht gut gehe. Denn sie habe ihn schon so oft bitten lassen, daß er vor ihrem Tode noch einmal herüberkommen möchte, aber, obgleich die Entfernung nicht volle vier Meilen betrage, scheue er doch die Reise und den Zeitverlust, denn er sei ein gar emsiger und genauer Mann, und müsse es auch leider sein, da er nicht weniger als vierzehn lebende Kinder habe. Lieber Gott, sie wäre ja schon mit einem zufrieden gewesen, nicht mit einem, wie die da – sie nickte nach den blaumäuligen Cannibalen – obgleich sie auch nicht schlecht, nur ein bischen leichtsinnig seien und eine alte kranke Person manchmal in der Sonne oder im Regen stehen ließen – sondern so ein schmuckes Mädchen, wie die gute junge Dame, die manchmal des Morgens hier vorübergehe und auch heute wieder vorübergegangen sei. Solch' ein Kind hätte sie haben mögen, und gerade so eins würde sie auch gehabt haben. Ja, ja, gerade so eines mit solchen schönen, sanften, blauen Augen.
Und dabei hob die Kranke, um uns mit beiden Augen anblicken zu können, mit der zitternden Hand das Lid von dem einen, wie es schien, für gewöhnlich geschlossenen Auge, und sonderbar – so tief diese Augen auch in die großen Höhlen zurückgesunken waren, sie waren sanft und blau und gewissermaßen schön.
Wir nahmen von der Alten Abschied, nachdem wir den Kannibalen eingeschärft hatten, ja recht Obacht zu geben, und gingen nach dem Kurhaus, wo wir uns, da Egbert an seinen Verwalter zu schreiben hatte, trennten.
Auf meinem Dachstübchen angekommen, fand ich die taube Alte, die eben mit dem Reinmachen fertig geworden war. Da Zimmerstaub eines von den vielen Dingen ist, die ich nicht vertragen kann, trat ich an das offene Fenster und sah, nach unten blickend, Mr. Cunnigsby und den Grafen, welche, von einem Jungen begleitet, der Angelruthen und einen Korb trug, die Dorfstraße hinabgingen; in demselben Augenblicke erschienen hinten auf einem sonnigen Gange des Kurgartens zwei Damen, in denen ich Mrs. Cunnigsby und Miß Virginia zu erkennen glaubte und mit Hilfe meines Opernglases auch wirklich erkannte. Miß Ellen befand sich, wenn sie, wie wahrscheinlich, von ihrem Spaziergange zurückgekehrt war, allein.
Bei diesem Gedanken durchzuckte mich ein Schrecken, der nicht freudiger hätte sein können, wenn ich selbst der Don Quixote, und nicht blos der Sancho Pansa gewesen wäre. Hier war die Dulcinea, nur durch eine ziemlich dünne Zimmerdecke von mir getrennt; ich hatte den Freund noch vor einer halben Stunde zum Handeln gedrängt; wie würde ein feuriger Liebhaber in diesem Falle handeln?
Und ich stimmte, mich an das Fenster lehnend, mit lauter Stimme das bekannte Amerikanische Volkslied an, dessen Refrain lautet: Long, long ago, long ago.
Ich hielt nach der ersten Strophe inne und lauschte. Das Fenster unter mir wurde vorsichtig geöffnet, ich sah das liebe Mädchen »in meines Geistes Aug'«, wie Hamlet sagt, mit erröthender Wange sich hinter der Gardine verbergen; ich konnte jetzt leiser singen.
Aber mit dem Amerikanischen Volksliede, so weit ich es kannte, war ich zu Ende. Wieder von vorn anfangen, ging schon nicht, um so weniger, als der Inhalt des Liedes auf die Situation doch eigentlich gar nicht paßte. Ich sang also, auf englisch natürlich, recitativisch weiter, mit freier Variation des Themas von long ago:
»Weshalb sahst du mich, liebliche Maid, gestern Abend so kummervoll an? Schautest du aus nach dem Freund, den ich hab' – ach, schon so lang, so lang! Ach, dieser Freund, er liebt dich so treu, seit er dich sah, von dem ersten Tag an, ja, just so lang, so lang!
Brav ist mein Freund, und reich ist er auch! ach, schon so lang, so lang! starben ihm Vater und Mütterlein, steht jetzt allein in der Welt. Willst du ihn haben, so sag' es nur gleich, sonst währt die Sach' bis zum jüngsten Gericht; ja, just so lang, so lang!
Denn ach! er kennt nur drei englische Wort': ich lieb dich treu, lieb dich treu! er kann nicht sprechen, wie gern er auch möcht'; wenn man kein Kind ist, so lernt sich das schlecht; wenigstens dauert es lang.
Doch ich sprech' englisch und schreibe es auch, wundervoll schön, wundervoll schön. Darf er dir schreiben, so sage es mir; ich übersetz' es und schicke es dir. Willst du, so dauert's nicht lang.«
Ich hatte, während ich sang, immerfort scharf nach den beiden im Kurgarten lustwandelnden Damen ausgeschaut; mein schönes Auditorium unter mir mußte dasselbe gethan haben, denn als Jene eine entschiedene Wendung machten, den Garten zu verlassen und auf das Kurhaus zugingen, wurde das Fenster leise geschlossen. Auch ich hatte mich wohl gehütet, mich erblicken zu lassen.
»Da wäre ich nun eben so klug wie zuvor«, sprach ich bei mir selbst; »aber eines ist doch erreicht: sie ist klüger als vorher; sie weiß jetzt, was sie vorläufig zu wissen braucht: daß Egbert sie liebt und daß ich bereit bin, ihr zu dienen; das ist genug: daraus läßt sich schon etwas machen, wenn man will. Aber wird sie wollen? wird sie das Ganze nicht für einen schlechten Scherz halten? Nun, nun, ich werde ja sehen; ich will an ihren Mienen, an ihren Blicken hangen, will sie bis in's Leben prüfen; stutzt sie – wahrhaftig! der reine Hamlet!«
Ich rieb mir vergnügt die Hände und setzte mich hin, meiner Frau, die ich bis dahin von Allem unterrichtet hatte, das Neueste zu schreiben. Ich erflehte schließlich ihren hausmütterlichen Segen für das Werk der Freundschaft und Liebe, dem sich ihr Gatte geweiht hatte, und bereitete sie darauf vor, daß ich selbigem Werke wohl noch einige Tage meiner kostbaren Zeit würde widmen müssen.
Als ich von der Post zurückkam, ertönte die Mittagsglocke.
»Ich habe mein Couvert von dem zweiten Tisch hinüberlegen lassen zu Ihnen; es ist Ihnen doch recht?« sagte Lindau, als ich in den Speisesaal trat.
»Mehr als das, Verehrtester!«
»Freilich werden Sie dadurch von Käthchen von Pusterhausen getrennt, die bisher neben Ihnen saß«, fuhr Lindau, mit einem Blick auf seine Fingernägel, fort.
»Fräulein von Pusterhausen wird sich zu trösten wissen«, erwiderte ich.
Der Dichter lächelte unter seinem blonden Schnurrbart.
»Denn, wissen Sie«, sagte er, »man muß jetzt etwas für die armen Mädchen thun. Sie wollten nach dem Affront von gestern eigentlich heute schon abreisen; ich habe sie überzeugt, daß es keine schlechtere Politik gebe, als nach einer Niederlage, wenn sie auch noch so unverdient ist, das Feld zu räumen; habe ich nicht recht gehabt?«
»Zweifellos.«
»Und was ich Ihnen noch sagen wollte, der Graf soll sich heute Morgen im Billardzimmer über Sie und Ihren Freund Egbert in ziemlich unfreundlicher Weise geäußert haben. Hat es etwas zwischen Ihnen gegeben?«
»Nichts das ich wüßte.«
»Also Instinct?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Ah! die Damen kommen.«
Lindau begrüßte die eintretenden Damen von Pusterhausen; die Mädchen trugen heute keine Blumen im Haar und sahen ein wenig blaß und eingeschüchtert aus, doch lächelte Fräulein Käthchen dem galanten Dichter hold entgegen, während Frau Herkules und Fräulein Kernbeißer, nach denen ich mich zufällig umsah, ebenfalls lächelten, wenn auch nicht hold.
Egbert war gekommen und hatte an meiner anderen Seite Platz genommen. Ich hielt es (von dem Satze ausgehend, daß, wenn man Jemand schwimmen lehren wolle, man ihn vor Allem in's Wasser bringen müsse) für das Beste, ihm mitzutheilen, was ich gethan. Er gerieth, wie ich vorausgesehen hatte, in die größte Aufregung, behauptete, während er seine Suppe mit unverständiger Hast hinunterschlang, daß ich toll, wahnsinnig sei, und daß ich ihn noch unglücklich machen würde.
An dergleichen Vorwürfe von Seiten unserer so ausnehmend verständigen, umsichtigen Herren Ritter sind wir ehrliche Stallmeister so gewöhnt, daß wir nicht mehr Wesens daraus machen, als etwa ein Droschkenpferd aus einem kleinen Sprühregen. So ließ ich denn Egbert ausschelten, ohne ein Wort zu erwidern, und gab ihm nur, als seine Schöne mit ihrer Gesellschaft, von dem Eifrigen unbemerkt, eintrat, einen kleinen Stoß an die Stelle, die Dr. Kühleborn mit dem Stockknopfe zu berühren pflegte. Er warf einen scheuen Blick nach der Thür, und heftete dann die starren Augen auf den Rand seines Tellers.
Ich meinerseits konnte kein Moment darüber zweifelhaft bleiben, daß Miß Ellen mein Recitativ gehört und verstanden habe, und sie erröthete heftig, als sie sich uns, ohne die Augen aufzuschlagen, schräg gegenüber setzte, und gab andere Zeichen von Verlegenheit, die ich alle sehr günstig auslegte. Wenigstens schien es mir kein schlimmes Symptom, daß der Graf sich vergebens bemühte, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, und, als wäre ich an seinem Unglück schuld, mir von Zeit zu Zeit aus seinen kleinen schwarzen Augen wüthende Blicke zuwarf. »Ich hoffe, Ihren erlauchten Unwillen in noch höherem Maße zu verdienen«, sagte ich leise durch die Zähne, indem ich den Erzürnten überaus freundlich anlächelte. »Wollen Sie tanzen, Herr Graf Almaviva Der Typus des aristokratischen Wüstlings in der Komödie La folle journée ou Le mariage de Figaro (Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit) von Beaumarchais, die auch als Vorlage zur Oper Le nozze di Figaro von Mozart (Libretto: Lorenzo Da Ponte) diente., so spiel' ich Ihnen Cither dazu.« Er schien mich vollständig zu verstehen, denn er lächelte verächtlich und zwiebelte an den nadelspitzen Enden seines ungeheuren Schnurrbartes, wandte sich dann zu dem neben ihm sitzenden Mr. Cunnigsby, und flüsterte ihm etwas in's Ohr, worauf der Jaguar ebenfalls an seinem Cotelette-Bart zu drehen und mich anzustieren begann. Ein paar Käfige mit Gittern davor, dachte ich, ihr zähnefletschenden, schielenden Thiere, und die Menagerie ist fertig. »Und diesem Pavian wolltest Du ohne Kampf das holdeste Geschöpf ausliefern!« murmelte ich, zu Egbert gewandt.
»Eher würde ich ihn mit diesen meinen Händen erwürgen«, erwiderte Egbert mit großer Ruhe.
»Meine Damen und Herren«, sagte Doctor Kühleborn, der mit nervöser Heftigkeit an sein Glas geschlagen und sich darauf erhoben hatte; »meine Damen und Herren! Große Ereignisse werfen ihren Schatten vorauf, und hinter glücklichen Ereignissen zieht ein Lichtschimmer her, wie hinter einem Kometen. Ein solches glückliches, und wenn ich so sagen darf, kometenartiges Ereigniß war der leider nur zu kurze Aufenthalt, mit welchem der durchlauchtige Fürst dieses Landes uns beglückt hat. Wenn ich ›uns‹ sage, meine Damen und Herren, so denke ich dabei allerdings zunächst an die Dorfbewohner, die jetzt – wenigstens offiziell – zum ersten Male den Landesvater erschaut haben; ferner an mich, der ich – und es gereicht mir zu inniger Genugthuung, selbst der Herold der Güte und Gnade meines Souveräns zu sein – der ich, so zu sagen, als einfacher Doctor medicinae gestern Abend eingeschlafen und heute Morgen als Großfürstlicher Sanitätsrath aufgewacht bin.
(Allgemeine Sensation in der Gesellschaft; lebhafte Rufe: Hört, hört!)
»Aber, meine Herrschaften, ich hoffe, Sie werden mir nicht widersprechen, wenn ich Sie zu ›uns‹ zähle. Zwar, ob Sie Sr. Durchlaucht für die Concession der Zweigbahn, die jetzt bis hierher in das Herz unserer Berge erbaut werden soll und in zwei bis drei Jahren fertig sein wird – ich sage, ob Sie Sr. Durchlaucht dafür zu Dank verpflichtet sind, weiß ich nicht, denn ich weiß nicht, ob Sie die Reize von Tannenburg groß genug und meine Bemühungen um ihr Wohl verdienstlich genug gefunden haben, um in zwei oder drei Jahren wieder zu kommen, oder Ihre Verwandten und Bekannten hierher zu schicken« –
(Große Aufregung – Viele Stimmen: Ja, Ja! – eine Stimme, im erb- und eigenthümlichen Besitze des Herrn Lindau: Nein!)
Ich danke Ihnen, meine Herrschaften; dies ist der schönste Lohn für das Wenige, das meine schwache Kunst vielleicht für Einen oder den Anderen von Ihnen hat thun können. Und wenn ich ein vereinzeltes Nein vernommen habe, das mich geschmerzt hat –
(Unruhe; lebhafte Rufe: Niemand hat nein gesagt!)
Ich wiederhole: das mich geschmerzt hat, – darf ich nicht annehmen, daß dieser von der alleinigen Harmonie abirrende Ton stamme aus dem Busen Eines, dem gestern die Sonne der Majestät weniger warm geschienen hat? Aber kann sie gleichmäßig scheinen? Ist es nicht ein Naturgesetz, daß ihr Strahl die höchsten Berge zuerst trifft, zuletzt von ihnen Abschied nimmt? Können oder wollen wir den Lauf der Natur verändern? die ehrwürdigen Institutionen, welche die Gesellschaft gemacht hat, ja welche die Gesellschaft erst zur Gesellschaft machen, aufheben und zerstören? Gewiß nicht, meine Herrschaften: Ehrt den König seine Würde; ehret uns der Hände Fleiß! Aus »Das Lied von der Glocke« von Friedrich Schiller. singt der Dichter, der Dichter des Ideals und der Freiheit, meine Herrschaften!
(Bravo! bravo! sehr gut! von allen Seiten).
Aber, meine Herrschaften, es geziemt dem sinnigen Menschen, den Ereignissen, die epochemachend in sein Leben einschneiden, auch äußerlich ein Merkmal zu errichten, bei dem nachwachsende Enkelgeschlechter verweilen und sagen können: Hier war es! Meine Herrschaften: es giebt bei uns Fanny-, Elisen-, Margarethen-, Amalien-, Friederiken-, Augusten-Quellen; wir haben Karl-, Ludwig-, August-, Alexander-Höhen und Felsen – aber, meine Herrschaften, wir haben noch keinen Großfürstenstein …
(Schallender Beifall.)
Was soll ich weiter sagen, wo die Gesellschaft schon geurtheilt hat! Soll ich sagen, daß über dem verlassenen Porphyrschacht an der Landgrafenschlucht ein Stein überragt, der noch keinen Namen hat? soll ich sagen, daß eine kleine würdige Feier herzurichten, der ebenso talentvollen wie umsichtigen Vergnügungs-Commission ein Leichtes ist, besonders, wenn sie sich mit dem »Comité zur Anordnung der Feierlichkeiten während des Aufenthalts Sr. Durchlaucht, des Großfürsten«, das sich, soviel ich weiß, noch nicht wieder aufgelöst hat, vereinigt? Soll ich Ihnen sagen, meine Herrschaften, daß ich immer der Meinung war, man müsse das, was man thun wolle, bald thun, und daß das Barometer uns für morgen das heiterste Wetter verkündet« –
Hier erhob sich ein solcher Sturm des Beifalls, daß der beredte Doctor die Unmöglichkeit weiter zu sprechen lächelnd erkannte und sich in Folge dessen lächelnd niedersetzte.
Die Tafel wurde unter großem Geräusche aufgehoben; der projectirte Ausflug nach dem Porphyrfelsen zur Einweihung des, »Großfürstensteines« wurde lebhaft besprochen; die geschickte Rede des Doctors allgemein bewundert. Ich fragte Lindau, weßhalb er dem guten Manne die Freude eines einstimmigen Triumphes mißgönnt habe.
»Lieber Freund«, erwiderte der Dichter, »meinetwegen hätte der alte Humbug noch viel pfauenmäßiger sich aufblasen und Rad schlagen können, aber ich liebe in der Liebe das abgekürzte Verfahren und mein Nein war Balsam in das verwundete Gemüth der Damen von Pusterhausen, für das mir sofort in Form eines unbeschreiblich gütigen Blickes der süßeste Lohn ward.«
»Ich hoffe, Sie werden diesmal Ernst machen, Sie leichtbeschwingter Schmetterling.«
»Was wollen Sie«, erwiderte der Dichter mit seinem tragischen Lächeln, »können Sie sich einen ernsten Schmetterling vorstellen? und ist es die Schuld des Schmetterlings, wenn er flatterhaft ist, oder die Schuld des Gartens, in dem so sehr viele Blumen blühen?«
Der Platz unter dem heiligen Baum war wie gewöhnlich besetzt. Ich richtete meine Blicke unwillkürlich mehr als einmal auf die Gruppe, als ob ich dadurch meinem Scharfsinn zu Hülfe kommen könnte, der sich abmühte, die Taktik des Feindes zu ergründen. So viel schien klar: man wollte Miß Ellen an den Grafen verheirathen, und das schöne Mädchen wollte nichts von dem widerlichen Menschen wissen. Deßhalb gestern Abend ihre Thränen, deßhalb später die Zankscene, in welcher irgend ein Wort gefallen, ein Verdacht laut geworden sein mußte, der auf Egbert, in zweiter Linie auf mich, als den Freund des verdächtigen Menschen führte. In Folge dessen wiederum die Aeußerungen des Grafen heute Morgen im Billardzimmer gegen uns, und weiter die zornigen Blicke, mit denen man mich und Egbert (der sie freilich nicht bemerkt hatte) über Tisch beehrte.
Das Alles war nicht ohne eine gewisse Genugthuung für mein Stallmeisterherz, aber ich mußte mir doch auch sagen, daß mein Ritter noch sehr weit vom Ziel war, und nun mußte zum Ueberfluß ein schadenfroher Asmodeus Dämon der Wollust, des Zornes, Raserei und Begierde; einer der sieben Höllenfürsten. in der gastfreundlichen Gestalt des Großfürsten uns die Schöne entführen, auf wer weiß wie lange, vielleicht für immer, denn möglicher-, ja wahrscheinlicherweise kamen sie gar nicht nach Tannenburg zurück, wenn meine Combinationen richtig, und sie wirklich gegen Egbert Verdacht geschöpft hatten.
»Haben Sie nicht gehört, Louis, wann die Amerikaner und der Graf nach Malepartus eingeladen sind?«
»Meinetwegen«, erwiderte Louis, der uns eben eine Karaffe mit Wasser auf den Tisch setzte. Louis sah sehr zerstreut aus, er hatte offenbar von den Anstrengungen des gestrigen Tages noch nicht ordentlich ausgeschlafen. Ich wiederholte meine Frage. Er antwortete nicht, sondern blickte starr nach der Gruppe unter dem heiligen Baume, schüttelte mit dem Kopfe, raffte sich dann aus seiner Zerstreuung auf, als an dem Tische der Frau Herkules heftig mit einem Löffel auf eine Untertasse gepocht wurde und enteilte: gleich! gleich! rufend, in seinem gewöhnlichen kurzen Gartentrabe.
»Ich glaube, Louis ist toll geworden«, sagte ich.
»Oder hat sich in Miß Ellen verliebt;« bemerkte Käthchen von Pusterhausen schnippisch; »sie soll ja für die Herren unwiderstehlich sein.«
»Man pflegt für gewöhnlich die Kellner nicht zu den Herren zu rechnen;« brummte Egbert, dem diese Zusammenstellung seines Engels mit Louis denn doch über das Erlaubte zu gehen schien.
»Aber ein Kellner ist, so zu sagen, auch ein Mensch«, bemerkte Lindau, der doch unmöglich Käthchen, sein Käthchen! im Stich lassen konnte.
»O gewiß!« sagte Frau von Pusterhausen, die seit gestern entschieden demokratische Anflüge hatte.
»Denn das ist ja eben das Herrliche der Liebe,« fuhr Lindau fort, indem er seinen Fingernägeln einen schwärmerischen Blick weihte, »daß sie keinen Unterschied kennt zwischen Arm und Reich, Hoch und Niedrig, Adlig und Bürgerlich« – hier hob der Sänger die müden Wimpern zu Fräulein Käthchen, die erröthend die ihren senkte. »Ja«, fuhr er in sanfter Begeisterung fort; »wenn der Egoismus die Centrifugalkraft ist, die Alles in Atome aufzulösen droht, so ist die Liebe die Centripetalkraft, die das Ganze, wie der Dichter sagt, froh und leicht und freudig bindet.«
»Ich wollte mich den verehrten Herrschaften bestens empfohlen halten«; sagte eine Stimme hinter uns.
Es war Herr Bergfeld in Reisekostüm von großcarrirtem Wollenzeug. Ein großcarrirtes Plaid ruhte malerisch auf seinen Schultern; eine schirmlose mit einer Adlerfeder geschmückte Kappe aus demselben großcarrirtem Stoff hielt er in diesem Augenblicke in der Hand. Seine Beinchen waren in lederne Gamaschen geknöpft, die in ein paar dicksohlige, nägelbeschlagene Bergschuhe endeten. Eine Tasche hing über seiner rechten Schulter; ein langer Stock mit langer eiserner Spitze vervollständigte das großcarrirte Costüm.
»Sie wollen fort, Herr Bergfeld«, riefen Alle wie aus einem Munde.
»Ich muß fort«, erwiderte der junge Mann mit einem Blicke nach dem Platze unter dem heiligen Baum – ein Blick, der ebenfalls von Allen verstanden wurde.
»Und Sie werden Ihren Wanderstab in ferne Länder tragen«, wagte ich nach einer verlegenen Pause mit unsicherer Stimme zu fragen.
»Ich werde nach Fichtenau übersiedeln«, erwiderte Herr Bergfeld.
Fichtenau, das Concurrenzbad von Tannenburg, war von diesem eine Stunde entfernt, und wenn man bedachte, daß die beiden Orte durch eine in einem Thalgrunde sich hinschlängelnde Chaussee verbunden sind, so mußte auch wohl dem weniger Scharfsichtigen die tiefe Bedeutung von dem ernsten Bergkostüm des interessanten Reisenden einleuchten.
»Leben Sie wohl!« sagte Herr Bergfeld; »leben Sie Alle Wohl!«
Thränen der Rührung erstickten seine Stimme; er nahm von Frau v. Pusterhausen, mit der er noch keine drei Worte gesprochen haben konnte, wie von einer geliebten Mutter Abschied, schien sich von Emma und Käthchen, die er nur immer als ein paar hohlköpfige Pfauen geschildert hatte, nur schwer trennen zu können, schüttelte Lindau und Egbert krampfhaft die Hände und flüsterte mir zu: »ich möchte Sie gern noch sprechen.«
Ich folgte ihm. Er warf, während wir den Garten verließen, keinen Blick nach dem heiligen Baum, während man sich dort offenbar Mühe, oder doch die Miene gab, Bergfelds Abschied, der den ganzen übrigen Garten in Aufregung gebracht hatte, nicht zu bemerken.
Der junge Mann und ich standen auf der Chaussee; er hatte seine Sachen vorausgeschickt, um sich ganz der melancholischen Illusion hingeben zu können, als ein Ausgestoßener in die weite, weite Welt zu wandern. Als wir an eine Stelle des Weges gelangten, wo ein Felsen auf der einen und ein Tannengehölz auf der andern uns den Blicken der alten Botenfrau, die eben an uns vorbeigekommen war und des taubstummen Hirten, der nebenan auf der Wiese die Tannenburger Kühe weidete, entzogen, warf er sich an meine Brust und schluchzte:
»Sie haben es immer gut mit mir gemeint; nehmen Sie sich auch ferner meiner an.«
»Herzlich gern, Verehrtester«, sagte ich, mich sanft aus den Armen des Aufgeregten windend; »aber wie werde ich beim besten Willen dazu im Stande sein?«
»Das weiß ich selbst nicht«, erwiderte der Wanderer, indem er ein (ebenfalls großcarrirtes) seidenes Taschentuch hervorzog und sich die Augen wischte; »aber Sie sind so klug; Sie werden schon sehen, was sich etwa thun läßt. Freilich, seit gestern habe ich keine Hoffnung mehr, und darum gehe ich, allerdings vorläufig erst nach Fichtenau, von wo ich doch noch einmal herüberkommen, wäre es auch nur in der Nacht und zu ihren Fenstern hinaufblicken kann. Was ist auch in den Augen von Leuten, die hunderte von Sclaven besitzen und mit Fürsten wie mit ihres Gleichen verkehren, ein armer Kaufmann, der, wenn er auch selbstständig ist und über ein kleines Capital frei disponirt, doch an der Börse über die Achsel angesehen wird und –«
»Sagen Sie, Herr Bergfeld«, unterbrach ich den Mittheilsamen; »Haben Sie Mr. Cunnigsby ebenfalls von dem Stand Ihrer Angelegenheiten unterrichtet?«
»Wie sollte ich nicht«, erwiderte der Wanderer; »meine Absichten waren die ernsthaftesten von der Welt; ich weiß, daß ich ein Dandy bin – wenigstens nennen mich meine Collegen so – aber ich bin ein ehrlicher Kerl –«
»Das soll Gott wissen!« sagte ich mit Ueberzeugung. »Also Sie sind von Anfang an ganz offen gegen den Amerikaner gewesen –«
Bergfeld erröthete: »Ich will nicht behaupten, von Anfang an«, erwiderte er; »man fällt ja doch nicht gleich mit der Thür in's Haus; aber –«
»Wann machten Sie ihm diese Mittheilungen?«
»An dem Abend auf dem Eiskopfe –«
»Nachdem er die hundert Thaler von Ihnen geliehen?«
»Ja, auf dem Rückwege –«
»Und – verzeihen Sie meine Indiskretion! – hat er Ihnen das Geld zurückgegeben?«
»Nein.«
»Haben Sie ihn daran gemahnt?«
»Heute Morgen.«
»Und –«
»Er sagte, daß ihm die Rückzahlung für den Augenblick nicht convenire, da eine Geldsendung, die er täglich erwarte, noch immer ausbliebe. Er hat mir eine Anweisung auf seinen Banquier in Berlin gegeben, zahlbar in acht Tagen.«
»Hm!« sagte ich, und das genügt Ihnen?«
»Ich bitte Sie!« rief Bergfeld; »T. Grauröder! das ist so sicher wie Geld.«
»Grauröder, ja; aber der Amerikaner! Sie sehen mich verwundert an, Herr Bergfeld; als Kaufmann müssen Sie freilich dergleichen besser beurtheilen können, als ich; indessen schaden kann es, däucht mir, nicht, wenn Sie einmal in Berlin anfragen.«
»Aber ich bitte, bitte Sie!« rief Bergfeld abermals.
»Wie Sie wollen; ich würde es thun. Und nun leben Sie wohl! Ich muß zurück!«
»Leben Sie wohl«; rief der Wanderer, indem er mich wieder an seine großcarrirte Weste zog; »vergessen Sie einen Unglücklichen nicht!«
»Da geht Nummer Zwei hin«, murmelte ich, mich noch einmal nach dem Wanderer umwendend: »jetzt steht er wieder still und winkt mit dem Taschentuche! Ade! ade! Gott sei Deinem armen Spatzenkopfe gnädig! Und der sclavenreiche Mr. Cunnigsby leiht sich hundert Thaler von einem armen Jungen, um eine Gasthofszeche zu bezahlen, und giebt dem armen Jungen, anstatt ihm die Auslage zurückzuerstatten, eine Anweisung auf Grauröder nebst obligatem Fußtritt! Das gefällt mir gar nicht, Mr. Cunnigsby! Aber ähnlich sieht es Ihnen, verzweifelt ähnlich!«
Als ich wieder in den Kurgarten zurückkam, fand ich die Amerikaner nicht mehr, dafür aber meine Gesellschaft in großer Aufregung. Ich konnte erst nach manchen Fragen erfahren, um was es sich handelte.
Gleich nachdem ich den Garten verlassen, hatte sich auf der Straße vor der großen Eingangspforte eine Gruppe gezeigt, wie man sie, jetzt kurz nach Beendigung des großen Krieges, nur zu oft in diesen Bergen sah: ein noch junges Weib, um das sich vier zerlumpte, halb verhungerte Kinder drängten, während sie in einem kleinen Wagen noch zwei wenige Wochen alte Zwillinge hinter sich herzog. Es war die Frau eines Soldaten, der hinten »bei Böhmen«, wie sie sagte, geblieben war. Der jammervolle Anblick hatte das Mitleid der Kurgäste in ungewöhnlich hohem Grade erregt; Egbert war sofort aufgesprungen und hatte gerufen, hier müsse geholfen werden, ob man nicht eine Collecte machen wolle? er sei bereit, mit einem Teller herumzugehen, Herr Lindau möge, damit man schneller zum Ziele komme, einen zweiten Teller nehmen und den andern Theil des Gartens – die Kegelbahn, die Holzlaube mit den Sechs- und Sechszig-Spielern u. s. w. absuchen.
So sprechend hatte er, um einen Anfang zu machen, ein paar Thaler auf einen Teller gelegt, und war fortgestürzt, begleitet von den besten Segenswünschen Frau von Pusterhausens, die es sehr schön fand, daß ein so vortreffliches Werk gerade von ihrem Tisch (und nicht von dem des englischen Kränzchens, oder dem der Frau Herkules) ausgehen sollte.
»Ich hatte in der Eile nicht bedacht«, sagte Egbert, der mir hernach, als wir allein waren, die Geschichte noch einmal ausführlicher erzählen mußte; »ich hatte in der Eile nicht bedacht, daß ich auch an Mr. Cunnigsby's Tisch würde herantreten müssen, da sie den ganzen Handel mit angesehen hatten und auch ihrerseits von der ganzen Gesellschaft gesehen werden konnten, so daß es höchlichst aufgefallen und mir der Himmel weiß wie ausgelegt sein würde, hätte ich sie und sie allein übergehen wollen. Und dann meinte ich auch, ich dürfe, um des guten Zweckes willen, nicht an mich selbst denken, und ein paar Goldstücke würden sich unter den Thalern und Fünfsilbergroschenstücken sehr gut ausnehmen. Dennoch schlug mir das Herz, als ich den kleinen Hügel hinaufschritt, aber ich schämte mich meiner Schwäche, trat, den Hut ziehend, resolut auf sie zu und hielt den schon ziemlich gefüllten Teller hin mit einer Geberde nach der armen Familie, die man von dem Platze aus sehr gut sehen konnte.«
Egbert athmete tief auf und knirschte ein weniges mit den Zähnen.
»Weiter, lieber Egbert«, sagte ich, »das Alles wußte ich schon, jetzt kommt die Hauptsache, ob Du wirklich Ursache hast, so beleidigt zu sein, wie Du es bist.«
»Ja, mein Gott«, rief Egbert; »so etwas läßt sich nicht haarklein auseinandersetzen. Ich kann Dir den unverschämten Blick nicht schildern, mit dem er erst mich und dann den Grafen anstarrte, als wenn er sagen wollte: was zum Teufel will der Kerl! und dann das Achselzucken des Grafen, der wieder den Alten anstarrte, was wahrscheinlich heißen sollte: mag der Teufel wissen, was er will. Nun, bei Gott, da hatte ich genug. Ich setzte den Teller auf den Tisch, nahm mein Portemonnaie, schüttelte Alles, was darin war – ich glaube, es waren noch so zwanzig Thaler – zu dem Uebrigen, drehte mich auf dem Absatz herum, und ging fort.«
»Bravo, Egbert! und dann lachten sie hinter Dir her?«
»Ich glaube es, aber beschwören kann ich es nicht. Es sauste mir in den Ohren, so wüthend war ich. Ich wundere mich nur, daß ich nicht auf der Stelle umgekehrt bin und ihnen gesagt habe: ihr seid elende Schufte, alle Beide!«
»Ohne Zweifel«, sagte ich; »aber, Alles in Allem, Egbert, ist es gut, daß Du es nicht gethan hast. Denn schließlich hatten sie doch das Recht, zu geben oder nicht zu geben, um so mehr, da sie sich dahinter verstecken können, sie hätten nicht gewußt, um was es sich handelte. Und da Du das Lachen nicht beschwören kannst, überdies der Begriff des Komischen so schwer definirbar ist –«
»Du meinst, ich hätte ihnen Grund zum Lachen gegeben«, rief Egbert, »sage es nur gerade heraus!«
»Sage es nur gerade heraus, daß Du Dich jetzt faute de mieux mit mir schlagen willst. Im Ernst, Egbert, ich glaube, Du läßt die Sache, wie sie ist – aus tausend Gründen, von denen ich Dir nur einen nennen will: was soll aus euch, ich meine aus Dir und ihr werden, wenn Du es bis zum Aeußersten treibst!«
»Was auch ohne das werden wird: Nichts!« murmelte Egbert.
»Und Du hast noch immer kein Wort von ihr gesagt! wie benahm sie sich bei der Scene?«
»Ich weiß es nicht,« sagte Egbert ärgerlich, fuhr aber, nachdem er eine Zeitlang geschwiegen, wie mit sich selbst redend, fort: »das arme Kind! sie war über und über roth geworden, als ich herantrat; und als ich das Geld auf den Teller geschüttet hatte, und sie noch einmal ansah, war sie ganz bleich und die Thränen standen ihr in den großen, weitgeöffneten Augen.«
Egbert fuhr sich selbst mit der Hand über die Augen, und eilte aus meinem Zimmer, wo diese Unterredung stattgefunden hatte.
Ich selbst verließ diesen Abend mein Zimmer nur noch einmal, um einen Brief nach Berlin auf die Post zu bringen, in welchem ich einen Freund bat, seine ausgebreiteten Verbindungen zu benutzen, um mir gewisse Fragen über den ihm bereits geschilderten Jaguar, der sich in Berlin aufgehalten haben und bei T. Grauröder accreditirt sein wollte, wo möglich, zu beantworten. Dann eilte ich zurück, um den Augenblick nicht zu verpassen, wann die Amerikaner, die nach der Scene mit Egbert zu einer Spazierfahrt aufgebrochen waren, zurückkommen würden.
Ich hatte kein Licht angezündet, um mein Incognito so gut als möglich zu bewahren, und ging mit leisen Schritten auf und ab, von Zeit zu Zeit an das offene Fenster tretend, zu hören, ob nicht ein Wagen die Dorfstraße heraufkomme.
Es war heute Abend ungewöhnlich laut auf der Straße. Die große ländliche Feier der Kirmeß nahte heran, und die Burschen und Mädchen des Dorfes schwärmten schon singend, jodelnd, kreischend umher. Aus der etwas weiter die Straße hinab gelegenen Schenke erschallte mißtönende Musik. Es wurde spät, der Lärm unter meinem Fenster ließ nach und hörte endlich auf; auch die Musik in der Schenke verstummte. Ich hörte jetzt deutlich das Rauschen des Windes in den Pappeln und das Plätschern des Springbrunnens in dem Kurgarten. Meine Ungeduld und meine Unruhe wuchsen mit jeder Minute.
Ich wälzte die sonderbaren Einzelnheiten der sonderbaren Affaire, in die ich so sonderbar verwickelt war, in meiner Seele hin und her, und verwünschte zwischendurch den Eifer, mit dem ich mich zu dem unbequemen Amte des Helfershelfers gedrängt hatte, einem Amte, das mir eine undankbare Rolle nach der andern aufnöthigte, und jetzt sogar die zweideutige eines Lauschers an der Wand. Ich hatte nie in meinem Leben gelauscht, weder an Wänden noch an Thüren, und was ich für mich selbst stets verschmäht hatte, mußte ich hier um eines Andern willen thun. Aber freilich, darin lag auch wenigstens etwas von einer Entschuldigung. Und dann: das schöne Mädchen hatte es mir nun einmal angethan; seitdem ich sie heute Morgen so in aller Heimlichkeit Barmherzigkeit übend gesehen, war sie mir in einem neuen liebenswürdigen Lichte erschienen, von dem sich die Gestalten ihrer Verwandten dunkel und häßlich abhoben. Wie hatte sie so gar keine Aehnlichkeit mit ihrer Schwester, die mit dem Bergfeld so frei coquettirt und den armen Menschen dann Hals über Kopf weggeschickt hatte, man wußte nicht warum? vielleicht nur, weil dem Herrn Grafen der Verkehr mit einem Kaufmann nicht behagte. Und dann die Mutter mit ihren ewigen grauen Locken, dem ewigen schwarzen Seidenkleide, der ewigen pompösen Goldkette und dem ewigen nichtssagenden Lächeln auf dem fetten indolenten Gesicht! Und nun gar der Vater, der Jaguar, der sich hunderte von Thalern aus den Taschen guter Bekannten lieh und keinen Groschen für das hungernde Elend hatte! Nein, dies schöne, gute Kind gehörte, wenigstens nicht im Geist und Herzen, zu diesen falschen, stolzen und hartherzigen Menschen! Die Reine aus der unreinen Umgebung zu befreien, in der sie, falls sie darin verblieb, über kurz oder lang an Leib und Seele untergehen würde – war einfach Menschenpflicht, die man erfüllen mußte, wenn auch ein bischen Horchen an der Wand mitunterlief.
Ich war wieder an das Fenster getreten; der abnehmende Mond war über den Bergen heraufgestiegen, aber nicht in blendender Klarheit wie an den vorhergegangenen Tagen, sondern trübselig scheinend, durch einen Wolkenschleier, der sich nach und nach zu einem braungelblichen Hof um ihn zusammenzog. Kurgäste, die im Dorfe wohnten, gingen vorüber; ich erkannte Käthchen von Pusterhausen an dem hellen Kleide und der hellen Stimme; die dunkele Gestalt neben ihr war ohne Zweifel der treue Sänger. Dann war Alles wieder still; ich hörte die Dorfglocke elf schlagen. Mir wurde ganz unheimlich bei dem melancholischen Wächteramt in einem dunklen Zimmerchen – ich bildete mir ein, es müsse ein Unglück geschehen sein, und ich athmete hoch auf, als endlich ein Wagen langsam die steile Dorfstraße heraufkam und vor dem Hause still hielt.
Ich konnte die Aussteigenden nicht sehen, da ein Holzdach über dem Perron hing, aber sie mußten es sein, denn es kam die Treppen herauf und jetzt fiel auch der Lichtschein aus den Fenstern unter mir in die Pappeln. Ich hörte Stimmen, undeutlicher als gestern, man hatte die Fenster gleich beim Eintreten geschlossen. Aber die Stimmen wurden lauter, und war es die geringe Dichtigkeit der Wände und der Zimmerdecke, war es die durch die Aufregung noch gesteigerte Schärfe meines Gehörs: ich konnte deutlich zwei Männerstimmen unterscheiden. Der Graf war also mit eingetreten – um eilf Uhr in der Nacht! – man konnte die Freundschaft nicht weiter treiben. Aber die Unterhaltung schien gar nicht freundschaftlich, die eine Stimme – es war die des Jaguars – wurde lauter und lauter – und das waren doch entschieden deutsche Worte, die ich da hörte: »Sie wird wollen, Herr Graf, wenn ich will.« Und jetzt mischten sich Weiberstimmen hinein – alle schienen auf einmal zu sprechen – ich konnte nichts Einzelnes mehr verstehen, und auf einmal ein lautes Weinen und dann ein geller Schrei … im Nu war ich aus meinem Zimmer, die Hühnerstiege hinab – ich weiß noch heute nicht, wie ich es bei der Dunkelheit fertig gebracht habe, ohne den Hals zu brechen – und da stürzte mir auch schon der Graf entgegen, der an mir vorüber den Corridor entlang eilte und die Treppe hinunterpolterte, während in dem Zimmer, dessen Thür halb offen stand, wüthend an der Glocke gezogen wurde.
Ich trat schnell entschlossen ein. Mit einem Blick übersah ich die Situation. Auf dem runden Tisch in der Mitte des großen Zimmers brannten zwei Lichter; von den Fauteuils, die um den Tisch standen, war einer umgeworfen, auf einer Causeuse – ebenfalls in der Nähe des Tisches – lag Ellen bleich und ohne Bewegung, während ihr die Schwester aus einem Glase Wasser in's Gesicht spritzte, Mrs. Cunnigsby im Zimmer umherlief, wahrscheinlich nach Eau de Cologne oder etwas der Art suchend, und der Jaguar noch immer an der Glocke Sturm läutete.
Er war es auch, der mein Eintreten zuerst bemerkte und, wie ein wirklicher Jaguar, auf mich zustürzend und mir den Weg vertretend, mich auf englisch anschrie, was zum Teufel ich in seinem Zimmer zu suchen habe.
»Verzeihen Sie«, sagte ich ebenfalls auf englisch, »ich hörte aus diesem Zimmer einen Frauenschrei, der wie ein Hülferuf klang, und hielt es für meine Pflicht zu fragen, ob ich irgendwo von Nutzen sein könne.«
Ich blickte dem Jaguar fest in die Augen; ich sah, wie er sich vergeblich bemühte, den Blick zu erwidern.
»Aber!«, fuhr ich fort, »da ich sehe, daß der jungen Dame der Unfall im Schooße der Familie selbst zugestoßen ist, und sie überdies bereits wieder zu sich zu kommen scheint, habe ich nur noch wegen meines Eindringens um Entschuldigung zu bitten.«
Ich machte dem Jaguar, der mich noch immer mit wüthend-scheuen Blicken anstierte – einem Raubthier gleich, das gern zupacken möchte und es nicht wagt – meine stattlichste Verbeugung und schritt zum Zimmer hinaus. Auf dem Flur begegnete ich Dr. Kühleborn, der sich eben durch die Hausleute, die das Sturmleuten herbeigezogen hatte, durchdrängte.
»Ich ging g'rade vorüber«, sagte er athemlos, indem er mich auf die Seite zog. »Sie kommen aus ihrem Zimmer. Was hat es denn gegeben?«
»Ich fürchte, Ihr Amerikaner ist ein Hallunke«, sagte ich.
»Um Gotteswillen«, flüsterte der Doctor; »wenn er Sie hörte!«
»Ich werde es ihm in's Gesicht sagen.«
»Ich bitte Sie um Alles in der Welt, machen Sie keine Scene! vor den Leuten! was ist es denn?«
»Ueberzeugen Sie sich selbst!« sagte ich, indem ich den Doctor stehen ließ, und Louis, der sich mittlerweile auch eingefunden hatte, und mich mit demselben dummverstörten Gesicht von heute Nachmittag anstierte, ein Licht aus der Hand nahm, um mich wieder auf mein Zimmer zu begeben.
Unter mir war Alles still geworden; auch im Hause wurde es wieder ruhig; aber es dauerte in dieser Nacht sehr lange, bis ich selbst ruhig genug wurde, um einschlafen zu können.