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Als ich am nächsten Morgen spät nach kurzem Schlummer erwachte, sah ich zu meiner nicht geringen Verwunderung Dr. Kühleborn vor meinem Bette sitzen. Er hielt den goldenen Knopf seines Stockes auf die dünnen Lippen gepreßt und betrachtete mich nachdenklich mit seinen verblaßten klugen Augen.
»Bleiben Sie liegen«, sagte er, indem er den goldenen Knopf eine beschwörende Bewegung nach mir zu machen ließ und dann wieder an die Lippen führte, »bleiben Sie liegen! Ich bin gekommen, um mit Ihnen von der fatal – ehem! – von dem kleinen Evenement gestern Abend zu sprechen, und da ist es mir lieb, daß ich Sie – freilich gegen alle Kurregeln – noch im Bette finde. Erlauben Sie zuvörderst, mich eines Auftrages von Seiten des Mr. Cunnigsby« – hier machte der goldene Knopf eine Bewegung nach dem Fußboden – »zu entledigen. Er bedauert höchlichst und, wie ich überzeugt bin, aufrichtig, Ihnen gestern Abend so unfreundlich begegnet zu sein. Er giebt zu, daß Sie, in Anbetracht der seltsamen Umstände, deren Zusammenhang und Bedeutung Sie weder kannten, noch kennen konnten, gewissermaßen in Ihrem Rechte waren, wenn Sie unaufgefordert seine Wohnung betraten; bittet Sie aber, auf der anderen Seite bedenken zu wollen, wie sehr das plötzliche Erscheinen eines Fremden in einem Augenblicke häuslicher Verwirrung ihn – ich meine Mr. Cunnigsby – in seiner doppelten Eigenschaft als Amerikaner und Familienvater irritiren, ja schmerzlich berühren mußte, und hofft, daß Sie in freundlicher Erwägung dieser Punkte sein rauhes Benehmen milde deuten und demgemäß entschuldigen werden.«
»Sehr schön gesagt, Doctor«, erwiderte ich, indem ich mich auf den Ellbogen stützte, »sehr schön! aber verzeihen Sie die Frage: wieviel von dieser schönen Rede kommt auf den Amerikaner, wieviel auf seinen beredten Interpreten?«
Der Doctor berührte mit dem Stockknopfe meine Bettdecke an einer Stelle, unter der sich vermuthlich in diesem Augenblicke meine sechste Rippe befand, und sagte: »Sie sind ein Skeptiker! was sollte aus meiner Anstalt werden, wenn ich es nur mit Leuten Ihrer Art zu thun hätte? Indessen, diesmal ist die Skepsis zu skeptisch. Sie wissen, daß Mr. Cunnigsby nur sehr gebrochen deutsch spricht und mein Englisch auch just nicht weit her ist; ich will deshalb nicht beschwören, daß dies seine Worte waren, – ipsissima verba – aber der Sinn, Werthgeschätzter, der Sinn war es zweifellos, zweifellos – und was ich noch sagen wollte, Werthgeschätzter, auch ich persönlich hätte Ihnen eine Bitte vorzutragen, deren ich mich eigentlich schäme, da sie scheinbar, aber auch nur scheinbar, Werthgeschätzter, einen Zweifel an Ihrer so bekannten Discretion in sich schließt. Nicht wahr, es beleidigt Sie nicht, wenn ich Sie noch ausdrücklich ersuche, die – Hm! – die Vorfälle von gestern Abend mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe freundlichst zuzudecken – freundlichst zuzudecken.«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Doctor«, sagte ich.
Der Doctor ließ vor Schreck fast die Priese, die er eben zur Nase führen wollte, fallen.
»Denn, um es ohne Umschweif zu sagen, Doctor«, fuhr ich fort und richtete mich noch mehr in die Höhe; »ich halte, wie ich schon gestern Abend die Ehre hatte, Ihnen mitzutheilen, Ihren Amerikaner für einen Hallunken, der seine transatlantische Sklavenzüchter-Brutalität, um nicht aus der Uebung zu kommen, hier an seiner unschuldigen Tochter exercirt, die er, wie es mir ganz zweifellos ist, an diesen ungarischen Pferdegrafen verkuppeln will. Und Sie, lieber Doctor, um auch das noch zu sagen, beurtheilen den Mann und seine Handlungsweise genau so wie ich, und verzeihen Sie mir die Bemerkung! – ich verstehe es nicht, wie Sie, in welcher Eigenschaft immer, die Partei dieses Menschen oder dieser Menschen nehmen können.«
»Aber Werthgeschätzter, Werthgeschätzter«, rief der Doctor; »wer wird nur gleich so das Kind mit dem Bade ausschütten! Die Partei dieser Menschen! – wer sagt denn das! aber Sie können mir doch nicht verdenken, wenn ich, als alter erfahrener Mann, mir selbst und Ihnen, und jedem Andern den Rath gebe: mischen wir uns nicht in Dinge, die uns nichts angehen! wenn ich außerdem als Director eines mächtig aufblühenden Badeortes wünsche, daß alle unangenehmen Auftritte so viel als möglich vermieden, alle Skandalgeschichten schon im Entstehen, so zu sagen, strangulirt werden. Und dann, Werthgeschätzter, sprechen wir als Männer von Welt: mir muß daran liegen, und Ihnen würde, wenn Sie an meiner Stelle wären, ebenfalls daran liegen, daß die Partie zu Stande komme. Bad Tannenburg, im Erndtemond: Heute wurde hier eine Verlobung gefeiert, die in den aristokratischen Kreisen viel von sich reden macht. Die schöne Miß Ellen Cunnigsby, zweite Tochter des sehr ehrenwerthen Mr. Augustus Lionel –«
»Hören Sie auf, um Himmelswillen! Sie machen mich krank, Doctor! Haben Sie denn ganz und gar vergessen, daß Sie dieselbe Geschichte schon einmal haben drucken lassen, blos daß in der ersten Auflage der Name des Helden anders lautete!«
»Das ist vorbei, Werthgeschätzter, total vorbei«, sagte der Doctor, »was hilft es, gegen den Stachel zu löcken! Und abgesehen davon, so können wir doch unmöglich – und auch Ihr Freund kann unmöglich, dem Glücke der jungen Leute hinderlich sein wollen, um so weniger, wenn er wirklich, wie es scheint, ein Faible für sie hat. Die Verbindung zwischen einem der größten Grundbesitzer Ungarns und der Tochter eines Plantagenbesitzers, dem halb Louisiana gehört –«
»Wenn Sie über diesen letzten Punkt ganz sicher sind, Doctor«, sagte ich, »so übernehmen Sie vielleicht –« und ich erzählte ihm die kleine Transaction zwischen Mr. Cunnigsby und Herrn Bergfeld auf dem Eiskopfe.
Zu meiner Verwunderung schien diese Geschichte keinen Eindruck auf den Doctor zu machen: »Was wollen Sie«, sagte er, »der Krieg hat die Verhältnisse des Mannes derangirt; man hat sogar einen Theil seiner Plantagen sequestrirt. Er hat es gar kein Hehl, daß das baare Geld in diesem Augenblicke etwas knapp bei ihm ist. Mein Gott, Werthgeschätzter, ich weiß das längst; und da Sie schon so viel wissen, kann ich Ihnen ja auch wohl noch dies sagen: ich habe mir eine Ehre daraus gemacht, einem Mann der Art während einer Periode vorübergehender Verlegenheit mein Haus, ich meine das Kurhaus, gastfrei zu öffnen; ja ich habe keinen Augenblick Anstand genommen, ihm auch meine Börse anzubieten, und ich schätze es mir zur besonderen Ehre, daß er vor wenigen Tagen von diesem Anerbieten Gebrauch gemacht hat.«
»Und der Graf? gehört der vielleicht auch zu Ihren Pensionären?«
Der Doctor schüttelte den grauen Kopf. »Die Parteilichkeit macht Sie blind, Werthgeschätzter«, sagte er; »glauben Sie einem alten Praktiker, der's nun schon so ein dreißig Jahre und drüber treibt, und dem während dieser Zeit Individuen aus allen Nationen und Ständen unter die Finger gekommen sind: Rasse, Werthgeschätzter, Rasse! das ist Alles; ist das Einzige, das sich nie verleugnet und auf das man sich unbedingt verlassen darf. Und dann, wenn Sie meinen alten Augen nicht trauen wollen, und etwa der Meinung sind, daß ich, als Plebejer gleichsam – obgleich ich aus einer uralten Nürnberger Patricierfamilie stamme, die sogar mit den Augsburger Fuggers verschwägert war – aber angenommen, daß ich, als Plebejer, mich auf dergleichen nicht verstände: eine Krähe kennt die andere, und wer nach Malepartus geladen ist, braucht seinen Adelsbrief just nicht an der Kappe zu tragen. Aber ich will Sie nicht länger vom Aufstehen abhalten, Werthgeschätzter; habe selbst noch eine Welt zu thun. Die Einweihung des Großfürstensteins heute Nachmittag – Sie werden doch von der Partie sein? – und notabene, was ich beinahe vergessen hätte: auch sie werden Theil nehmen – zum ersten Male – haben sich sonst immer streng aristokratisch ausgeschlossen – aber solche Leute haben Tact – die Gäste Sr. Durchlaucht können auf einem Feste, das Sr. Durchlaucht geweiht ist, nicht fehlen. Es ist noch eine Welt heute Morgen in Ordnung zu bringen, und dabei muß mir noch dieser Schlingel von Louis verrückt werden.« –
»Wie, Doctor!« rief ich, »der arme Mensch! er kam mir allerdings immer halb toll vor.« –
»Nicht wahr!« rief der Doctor, »ganz meine Prognose! ein Faselhans war er stets, aber seit gestern scheint er wirklich halb übergeschnappt. Alle Welt klagt über ihn, und wenn man ihn zur Rede stellt, führt er die kuriosesten Reden, meint: er sei auch ein Mensch, und was dergleichen Unverschämtheiten mehr sind. Ich habe ihm gestern Abend gekündigt, und heute in aller Frühe hat er sein Bündel schnüren müssen. Aber nun stehen Sie auf, Sie Langschläfer, es ist ein himmlischer Morgen, wir werden einen göttlichen Tag haben.«
Und der Doctor wehte mir einige Kußhände zu und hüpfte zur Thür hinaus.
»Ein liebenswürdiger alter Herr!« brummte ich, während ich mich ankleidete, »so ganz uneigennützig, so echt menschenfreundlich, so nur auf das Wohl seiner Nächsten bedacht! Den habe ich auch im ›Vergnügungscommissar‹ zu gut fortkommen lassen! Möchte sich seinen Kuppelpelz redlich verdienen! Aber warte, alter Knabe! ich werde Dir Dein sauberes Handwerk legen. Und der Minister des Innern, der englische Louis, hat sein schmutziges Tellertuch zurück geben müssen! sic transit gloria! nicht einmal die Zeit hat man ihm gegönnt, sein redlich verdientes Trinkgeld von mir einzufordern! werde wohl heute auf meinen Kaffe vergebens warten.«
Ich sah auf meine Uhr. Es war bereits Neun: die Stunde, in welcher Miß Ellen, während die beiden anderen Damen badeten, spazieren zu gehen pflegte. Ein Gedanke durchzuckte mich. Wie? wenn ich den Versuch machte, Ellen zu sprechen! ihr zu sagen – ja, mein Gott, was nur eigentlich? aber das würde sich finden …
Ich beeilte mich, fertig zu werden, als die alte Aufwärterin mit dem Kaffe kam. Das Fenster schließen, damit man mich draußen nicht hörte, die Alte beim Arm ergreifen und ihr in das Ohr schreien: wo ist die junge Dame unten – die mit den blauen Augen? – war das Werk eines Momentes.
Die Alte nickte mit dem Kopfe und sagte: »Ja, ja, die arme junge Dame!«
Ich wiederholte meine Frage laut genug, um ein Bild von Marmorstein hören zu machen.
»Ja, ja«, sagte die Alte; »Sie brauchen sich nicht so anzustrengen; ich höre heute ganz gut. Sie wollen wissen, wie es der armen jungen Dame geht? ja, ja! sitzt unten, das gute Kind und weint, daß es Einem das Herz brechen könnte. Ich habe ihr auch gesagt: Liebes Fräulein, habe ich gesagt, heirathen Sie ihn nicht, wenn Sie ihn nicht mögen. Ja, ja! und da ist sie mir um den Hals gefallen, das arme Ding, und hat so geweint und geschluchzt!«
Die Alte schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. Ich drängte sie auf einen Stuhl, lief an den Tisch und schrieb auf das erste Blatt, das mir unter die Hände kam, in englischer Sprache:
»Können und wollen Sie einem Manne, der verheirathet und Vater von vier Kindern ist, vertrauen, so gewähren Sie mir eine Unterredung von wenigen Minuten; ich habe Ihnen Dinge von höchster Wichtigkeit mitzutheilen.«
Es kostete mich weniger Mühe, als ich gefürchtet hatte, der Alten begreiflich zu machen, daß sie das Blatt Miß Ellen bringen und auf Antwort warten solle. Entweder hatte sie dergleichen Liebesdienste schon öfter geleistet, oder, was wahrscheinlicher ist: selbst alte taube Bauernfrauen bewahren sich für diese Dinge das angeborne Verständniß – genug! sie lächelte schlau, ließ den Thaler, den ich ihr in die Hand gedrückt, in die Tasche gleiten, verbarg das Blatt sorgfältig unter dem Wollentuche, das sie über der Brust trug, und entfernte sich mit einer Eilfertigkeit, die, in Anbetracht ihrer hohen Jahre, doppelt rühmlich war.
Ich blieb zurück in der größten Aufregung. Würde sie mir antworten? und was? – Die Minuten verrannen – ich eilte von der Thür nach dem Fenster, von dem Fenster nach der Thür, als ob der Boden unter meinen Füßen brennte … Da hörte ich die Alte die Hühnerstiege heraufkeuchen. Sie brachte Antwort!
»Ich vertraue Ihnen; aber ich kann Sie hier nicht sehen. Ich werde ausgehen – nach dem Rabenthal –«
Diese Handschrift des kleinen englischen Billets war sehr kritzlich und ich zählte in der Eile vier oder fünf orthographische Fehler, aber was hat die Liebe mit der Orthographie zu schaffen, noch dazu mit der Orthographie junger Damen aus den amerikanischen Südstaaten! Die Hauptsache war, daß sie ja gesagt und den Ort des Rendezvous so schicklich als möglich gewählt hatte.
Gleich hinter dem Kurhause führte ein schmaler Pfad am Fuß des Burgberges auf eines der Nebengäßchen des Dorfes, dessen alterthümliche Bauernhäuschen auf uralten kyklopischen Untermauern ruhen. Der Weg war schmal und steil, nicht überall ganz sauber und vielleicht deshalb wenig frequentirt, trotzdem er der kürzeste in das Rabenthal war, das man sonst nur auf einem langen Umwege erreichen konnte. Das Rabenthal hatte auch seine Schattenseiten, oder vielmehr es hatte eigentlich gar keine Lichtseite, denn es war sehr eng, zwischen hohe, steile Felswände eingeklemmt, und die Wassertropfen, die beständig von den Farrenkräutern und Moosen zwischen dem trotzigen Gestein herabsickerten, funkelten und blitzten nur, wenn die Sonne am höchsten stand. Das war nun freilich sehr schön und poetisch, aber auch an einzelnen Stellen sehr naß, und diese poetische Nässe trug ebenfalls dazu bei, das Rabenthal für prosaisch trockene Gemüther unzugänglich zu machen.
Ich hatte mich trotz meiner Ungeduld auf dem Wege durch das Dorf nicht sehr beeilt, um Miß Ellen einen Vorsprung zu lassen, sobald ich aber das letzte Haus – eine halbverfallene Gipsmühle mit erblindeten Scheiben – hinter mir hatte, beschleunigte ich meine Schritte und erblickte nach wenigen Minuten ein helles Kleid, das ich bald darauf – einigermaßen athemlos vor Eile und Aufregung – erreichte. Nicht zum mindesten vor Aufregung! Selbst für einen Gatten und Vater von vier Kindern verliert die Schönheit nichts von ihrem dämonischen Zauber, und wenn auch in diesem Falle die Reinheit meiner Theilnahme für das holde Geschöpf nicht durch den Schatten eines persönlichen Wunsches getrübt war, so war doch der Reiz des Abenteuerlichen, der bis jetzt über diesem ganzen seltsamen Handel lag, so groß, und das Gefühl der Verantwortlichkeit, die ich freiwillig übernommen, so drückend, daß, als sie mir die Hand entgegenstreckte und ich zum ersten Mal die schlanken Finger in den meinen fühlte, mein Herz wild schlug und es mir nicht gelang, auch nur ein Wort, geschweige denn das rechte Wort zu finden.
Aber diese Verlegenheit währte nur ein paar Momente. Die Blässe der lieblichen Wangen, die gerötheten Lider der schönen verweinten Augen, das angstvolle Beben des zarten Busens – das Alles gab mir, in dem Grade, als es mich bis in die tiefste Seele rührte, Besonnenheit, Muth und vor Allem die Sprache zurück. Ich ließ ihre Hand aus der meinen und sagte, indem ich sie durch eine Bewegung einlud, auf einem moosbewachsenen Stein Platz zu nehmen, der von einem weit vorspringenden Felsblocke überwölbt und ganz trocken war:
»Ich danke Ihnen, liebes Fräulein, daß Sie mir vertraut haben. Ich hoffe, Sie sollen es nie bereuen. Was in meiner Macht steht, Ihnen zu dienen, darauf mögen Sie so sicher rechnen, als ob ich Ihr älterer Bruder wäre.«
Sie blickte zu mir hinauf – ich war an ihrer Seite stehen geblieben – und wollte etwas erwidern, aber Thränen erstickten ihre Stimme; sie barg das Gesicht in beide Hände und weinte bitterlich.
Ich sprach ihr Trost und Muth ein, so gut ich es vermochte, und wie es denn in solchen Momenten, wo nur Einer spricht, während zwei sprechen sollten, zu geschehen pflegt, daß der Eine viel mehr sagt, als er im anderen Falle gesagt haben würde, so erzählte ich ihr denn nach und nach Alles von Anfang an: wie ich Egbert gefunden, wie er mir das Geheimniß seiner Liebe schon in der ersten Stunde offenbart, wie ich ihm abgerathen, wie er treu geblieben, wie ich dann wieder seine Liebe auf alle Weise begünstigt, trotzdem ich mir in keinem Augenblicke das Bedenkliche und Gefährliche eines solchen Verhältnisses verhehlt; wie aber gerade das Auftreten des Grafen, der ihrer in jeder Beziehung – nur nicht vielleicht in der des Vermögens – unwürdig sei, Egbert's Leidenschaft nur erhöht und ebenso mein Verlangen, eine Entscheidung herbeizuführen, geschärft habe. Und eine Entscheidung müsse jetzt eintreten, wenn, wie ich gehört, sie Tannenburg in wenigen Tagen mit dem Jagdschloß des Großfürsten vertauschte in Gesellschaft des Grafen, als dessen Verlobte sie dann wohl nach Tannenburg zurückkehren würde – falls sie überhaupt zurückkehrte.
Das junge Mädchen hatte durch ihre jetzt spärlicher fließenden Thränen hindurch mir eifrig zugehört und das hatte mir auch den Muth gegeben, weiter und weiter zu sprechen. Als ich des Grafen erwähnte, sah ich, wie ein Zucken durch den schlanken Körper flog. Sie schüttelte heftig den Kopf und blickte mich dann mit ihren großen feuchten Augen angstvoll an.
»Ich weiß es, daß Sie ihn nicht lieben«, sagte ich; »und wenn ich es nicht schon vorher gewußt hätte, würde mich die Scene gestern Abend, deren freiwillig-unfreiwilliger Zeuge ich gewesen bin, über Ihre Gefühle nach dieser Richtung hin aufgeklärt haben. Aber, theure Miß, der Widerstand so manches jungen Mädchens gegen eine ungewünschte, ja verhaßte Verbindung ist durch das Drängen und Drohen liebloser Verwandten gebrochen worden, und ich wiederhole: die Reise, die Sie vorhaben, erfüllt mich für Sie mit schwerer Sorge. Sie werden das Schloß des Großfürsten als die Braut des Grafen verlassen.«
»Nein, nein!« rief das Mädchen, indem sie plötzlich aufsprang, und die Hände wie zur Abwehr von sich streckte, »nie werde ich diesen Menschen heirathen! nie! lieber sterben als das!«
Ich hatte mit Absicht die Gefahr, die sie lief, zu einer Verbindung mit dem Grafen gezwungen zu werden, so groß geschildert, um sie zu einer bestimmten Erklärung zu drängen. Dennoch überraschte mich die so plötzlich hervorbrechende Leidenschaft des jungen Mädchens dergestalt, daß ich einen Augenblick ganz überhörte, wie sie auf einmal, während ich nur immer englisch gesprochen hatte, deutsch zu reden begann. Dann freilich kam mir mit diesem Gedanken ein anderer, der mir ein ganz neues Licht über die Situation ausgoß.
»Sie sind eine Deutsche«, rief ich; »gestehen Sie es: Sie sind eine Deutsche, sind nicht die Tochter jenes Mannes, gehören gar nicht zu jener Familie! O, dann ist Alles gut, kann noch Alles gut werden! Welche Bande Sie auch immer mit jenen Menschen verbinden, wenn es nicht die des Blutes sind – sie werden sich lösen lassen. Ich bitte, ich beschwöre Sie: vertrauen Sie sich mir an! Eine solche Gelegenheit, es frei zu können, kommt uns so leicht, kommt uns vielleicht nie wieder. Aber klar muß ich sehen können, wenn ich helfen soll, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen, daß ich ihm helfe, und Sie müssen das wollen, wenn Sie ihn lieben, wie ich jetzt mehr als je glaube.«
»Ja, ja, ich – o mein Gott, was soll ich thun! was soll ich thun! ich bin das unglücklichste Geschöpf!« murmelte das arme Kind, indem es auf den Steinsitz zurücksank und das Gesicht mit den Händen bedeckte.
Sie hatte die letzten Worte wieder englisch gesprochen. Ich stand rathlos da. Die Vermuthung, daß sie nicht die Tochter ihres Vaters, daß sie eine Deutsche sei, kam mir jetzt thöricht, ja abgeschmackt vor.
Plötzlich ließen sich irgendwo über uns in den Tannen, welche die Felsen krönten, und durch die sich ein Pfad, den ich nicht kannte, ziehen mochte, Stimmen hören. Ellen sprang auf, zitternd.
»O, mein Gott«, flüsterte sie, »wenn das mein Vater wäre! ich bin verloren! er würde mich tödten!«
Sie stand mit vornübergebogenem Kopfe lauschend. Die Stimmen kamen jetzt, obwohl noch immer nicht deutlich, aus größerer Nähe zu uns.
»Um Gotteswillen retten Sie mich!« rief das Mädchen, krampfhaft mit ihren beiden Händen meine Hände erfassend.
Wenige Schritte von uns, gegenüber der Seite, von der die Stimmen zu kommen schienen, zog sich, zwischen den steilen Felsen eine mit Steingeröll ausgefüllte Schlucht in die Höhe, über die sich im Frühjahr ein jetzt ausgetrockneter Wasserfall in das Rabenthal ergießen mochte. Die Schlucht war sehr eng und verlor sich oben in dichten Tannen. Wenn es mir gelang, hier hinaufzuklimmen – und in solchen Momenten gelingt einem Alles – war ich in weniger als einer Minute für Jeden spurlos verschwunden, und das Mädchen kam, wenn man sie traf, von einem einsamen Spaziergange. Ich drückte ihr die Hände, sagte ihr mehr durch Blick und Gebehrde, als mit Worten, daß sie den Weg, den wir gekommen, zurückgehen möge, und war schon im nächsten Augenblicke in einem tollkühnen Anlauf die Schlucht halb hinauf. Die Steine, auf die ich meine Füße setzte, wichen unter mir fort, und polterten hinab, die Farrenkrautbüsche und Ginsterstauden, an die ich mich klammerte, blieben mir in den Händen – aber ich arbeitete mich – ich weiß nicht wie – in unglaublich kurzer Zeit vollends in die Höhe, freilich nicht, ohne, oben angelangt, mit kochender Brust, athemlos den Stamm einer Tanne umklammern zu müssen, um mich nur auf den Füßen halten zu können.
Und nun, als mir eben der Athem und die Besinnung allmählig wiederkamen, hörte ich zu meinem Schrecken die Stimmen, denen ich hatte ausweichen wollen, ganz in meiner Nähe. Es war offenbar: ich hatte mich, wie man das in Bergschluchten so oft thut, in der Richtung, aus der die Stimmen erschallten, geirrt, und war ihnen mit Aufbietung aller meiner Kraft entgegengelaufen. Was sollte ich thun? Zurück konnte ich nicht, ohne den Hals zu riskiren – wozu mir denn doch, Alles wohl erwogen, eine unbedingte Nöthigung nicht vorzuliegen schien. Es blieb mir nichts übrig, als auf dem Pfade, der, wie ich jetzt sah, an dieser Stelle dicht an dem Rande der Schlucht hinführte, weiter zu schreiten, mit der Miene Jemandes, der sich auf einer Morgenpromenade an frischer Waldluft, Sonnenschein und Vögelzwitschern harmlos ergötzt, und dazu behaglich die Melodie von »Herr Heinrich saß am Vogelheerd« »Heinrich der Vogler«, beliebte Ballade von Johann Nepumuk Vogl, vertont von Carl Loewe. pfeift.
Ich hatte kaum die ersten drei Tacte gepfiffen, als die Stimmen, die mir nun schon ziemlich nahe waren, plötzlich verstummten. In der Gewißheit, im nächsten Augenblicke auf den Feind zu stoßen, pfiff ich herzhaft weiter und war eben bis zur »lieben Nachtigall« D. h. bis zur zweiten Strophe, in der allerdings von einer »süßen Nachtigall« die Rede ist. gekommen, als bei einer Wendung des Pfades plötzlich – Herr Lindau vor mir stand, während ein helles Gewand, das nur die flüchtigen Glieder Käthchens von Pusterhausen umspielen konnte, zwischen den Stämmen der Tannen davonflatterte.
Die Ueberraschung war zu groß und zu angenehm, als daß ich ein herzliches, wenn auch stilles Gelächter hätte unterdrücken können, in welches der Dichter, nach kurzem Besinnen, ebenso herzlich, wenn auch noch stiller, einstimmte.
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte ich, »aber wer hätte ahnen können, daß –«
»Wir schon so weit wären«, unterbrach mich der Sänger mit einem bezeichnenden Blick nach der Richtung, in welcher das helle Gewand verschwunden war. »Ja, lieber Himmel, ich hatte das auch gestern um diese Zeit noch nicht geahnt; aber diese Tannen scheinen mit ihrem Duft auch Liebe auszuströmen, also, daß der ganze Wald davon erfüllt ist. Ich glaube, daß hier irgendwo herum der Venusberg liegen muß, und es soll mich gar nicht wundern, wenn ich eines schönen Morgens, oder lieber Abends der hohen Frau selber begegne.«
»Was Ihnen um so leichter passiren könnte, als sie für flötenspielende Schäfer und im Walde irrende Minnesänger immer ein besonderes Faible gehabt hat.«
»Freilich«, sagte Lindau, »und kann man es ihr verdenken? die Liebe kostet Zeit – wer hat so viel Zeit als ein Schäfer? die Liebe weiß nicht, was sie will – ein irrender Minnesänger weiß es auch nicht. Ach Gott, wer kennt sein eigenes Herz!«
Und der Dichter seufzte tief, während er seine Cigarrentasche hervorlangte und mir ebenfalls von seinem Vorrath anbot.
»Nur, wer keins hat«, meinte ich.
»Sehr wahr«, entgegnete Lindau, »sehr wahr; und folglich der um so weniger, dessen Herz – danke, sie brennt schon! – dessen Herz um so reicher ist. Ja wohl, der Reichthum des Herzens, der Ueberschwang der Empfindung – das ist es, was den Willen irrt, daß wir die Uebel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehn. Denn, gestehen wir es uns, lieber Freund, ein Uebel ist der Schaukelzustand all dieses Neigens von Herzen zu Herzen, dieses Hangens und Bangens in schwebender Pein In Anlehnung an Goethes Gedicht »Rastlose Liebe« sowie Klärchens Lied im 3. Akt von Goethes »Egmont«.. Alle kann man sie doch nicht heirathen, aber wiederum der Gedanke, eine zu heirathen, und hinterher, wofür doch Millionen gegen eins spricht, zu finden, daß sie die Rechte nicht war – das ist zu furchtbar; vor diesem Gedanken erbleicht die Farbe der robustesten Entschließung.«
»Und was sagt sie dazu?«
»O, sie sagt gar nichts – das ist eben das Reizende an ihr. Ich hasse die spirituellen Weiber, die schon Alles wissen, schon Alles tausendmal empfunden haben. Nein, sie lächelt nur, verdeckt mit einer holden stummen Pause die tiefsten und breitesten Lacunen Lücken. ihrer Bildung, und lächelt wieder, als hätte sie das geistreichste Ding von der Welt gesagt. Sie ist ein Engel.«
»Sollte Ihnen diese stummlächelnde, seelenlose Psyche nicht mit der Zeit langweilig werden?« fragte ich.
»Unmöglich!« rief Lindau. »Sie kann mir nicht langweilig werden, denn sie langweilt mich bereits; aber gerade dieser Umstand scheint mir entscheidend. Ich sehe in dieser Langeweile, die, wie ich anzunehmen Grund habe, schon jetzt gegenseitig ist, die reine Negation, welche, nach den Gesetzen der Polarität, aus sich die reine Position einer glücklichen Ehe hervortreibt.«
»Spielen Sie nicht mit dem Feuer, lieber Freund; Sie möchten sich garstig verbrennen.«
»Ich hör' Ulyssen, den vielerfahrenen, reden«, entgegnete Lindau; »aber ich kann Sie versichern, ich spiele gar nicht, im Gegentheil: ich bin noch niemals so prosaisch ernst gewesen. Es hat ja Jeder, der kein Neuling ist, so eine Art von Maßstab für seine Empfindungen. Der Eine kann, wenn er ernstlich liebt, nicht rauchen, der Andere nicht schlecht über die Frauen sprechen hören; ich für mein Theil kann, wenn ich gründlich verliebt bin, also nicht heirathen will – denn ich werde niemals aus Liebe heirathen – kein Sonnet machen. Ganz natürlich! man greift nie zu künstlichen, und noch dazu fremden Formen in Augenblicken wahrer Erregung. Heute Morgen nun – Sie werden aus diesem Umstande mit Leichtigkeit den richtigen Schluß ziehen – wurde ich angenehm überrascht und zugleich über die prosaische Ernsthaftigkeit meiner Absichten freundlich aufgeklärt, als ich, einem Versprechen nachzukommen, das ich gestern etwas leichtsinnig Fräulein Käthchen gegeben hatte, ein Gedicht auf sie machen wollte, und dabei ohne weiteres in die Form des Sonnets gerieth. Ich weiß nicht, ob ich –«
»Aber, lieber Freund, wie können Sie zweifeln!« rief ich, »Sie wissen, wie hoch ich Ihr Talent schätze, und für Alles, was Sie mir mittheilen, selbst für das vielleicht weniger Gelungene, dankbar bin.«
»Nun, es ist in der Form nicht so schlecht«, sagte der Dichter, urtheilen Sie selbst!« und er recitirte, indem er stehen blieb, und mich durch eine schmale Spalte der fast geschlossenen Lider seiner langgeschlitzten Augen fixirte:
»In jeder andern Stadt ein ander Mädchen! –
Das war mein wildes Wort in früh'ren Tagen –
›Der Thoren spotte ich, die Ketten tragen,
Aus federleichten, weichen Sommerfädchen;
Nein! neue Lieb' in jedem neuen Städtchen!‹
Nun muß der Spötter bitter sich beklagen,
Nun fühlt er selbst in Ketten sich geschlagen,
In Ketten sond'rer Art, mein holdes Käthchen!
Des Armen denk' ich, den am Strand, dem flachen
Von Liliput, das Volk der schlauen Kleinen
Umstrickte tausendfach in wen'gen Stunden.
Wie er erwacht, er weiß nicht, soll er lachen
Soll weinen er, und unter Lachen – Weinen
Erklärt er endlich sich für überwunden.«
»Bravo!« sagte ich.
»Nicht wahr«, sagte der Dichter, »es ist nicht schlecht; und dann, wissen Sie, kann es für spätere Zeiten nicht schaden, wenn ich jetzt schon gleichsam zu Protokoll gebe, daß die Sache zum Lachen ist.«
»Oder zum Weinen«, meinte ich.
»Oder zum Weinen; wir können uns ja darin theilen; es wäre ungalant, wenn ich Alles für mich behalten wollte. Aber, um auf etwas Anderes zu kommen, werden Sie heute Nachmittag von der Partie sein?«
»Ich denke.«
»Ich auch!« sagte der Dichter; »solche Wald- und Wiesenpartien sind von dem schalkhaften Gott der Liebe eigens erfunden, um Gelegenheit zu machen. Auf Wiedersehen also!«
Der Dichter reichte mir die Hand mit leisem Druck und ging in das Kurhaus, zu dem wir unter so gewichtigen Gesprächen unvermerkt zurückgekommen waren.
Ich eilte in den Kurgarten, wo ich Egbert im Schatten eines Baumes sitzend bemerkt hatte, wie er mit der Miene des Weisen von Syrakus geheimnißvolle Figuren in den Sand zeichnete.
»Ich salutire den gelehrten Herrn«, sagte ich, an seiner Seite Platz nehmend: »Ihr habt mich weidlich schwitzen machen.«
»Du siehst in der That sehr echauffirt aus«, erwiderte Egbert mürrisch, »ich habe Dich vergebens erwartet; wo bist Du gewesen?«
»Eurer Gnaden zu dienen: im Dienste Eurer Gnaden«, erwiderte ich, mir den Schweiß abtrocknend, der mir noch immer von der Stirn perlte.
»Hast Du sie gesehen?« fragte Egbert, sich mit Lebhaftigkeit zu mir wendend; »ich nicht.«
»Das glaube ich; man kann sich nicht mit zwei Herren zu gleicher Zeit Rendezvous geben.«
Egbert sah mich so erschrocken an, als ob er plötzlich Spuren eines im Stillen bereits weit vorgeschrittenen Wahnsinns an mir entdeckt habe.
»Bist Du –«
»Verrückt? o nein, ganz und gar nicht, und nun höre einmal aufmerksam zu!«
Ich erzählte ihm Alles, was mir, seitdem wir uns gestern Abend getrennt hatten, begegnet war. Die Ohnmachtsscene mit dem enteilenden Grafen und dem hilfeklingelnden Vater versetzte ihn in unbeschreibliche Wuth; ich hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten, daß er nicht sofort hinlief, um an dem Grafen persönliche Rache zu nehmen. Mit einem nicht minder großen, wenn auch weniger peinlichen Interesse erfüllte ihn die Erzählung des Stelldicheins im Rabenthal, das leider abgebrochen werden mußte, als ich hoffen durfte, die junge Dame endlich zum Sprechen gebracht zu haben. Indessen waren doch verschiedene Punkte in ein klares Licht gesetzt worden. Zuerst ihre Liebe zu Egbert, von der Egbert jetzt so wenig wissen wollte, als ob eine solche Vermuthung auszusprechen, oder gar von einer Gewißheit zu reden, eine persönliche Beleidigung für ihn in sich schließe.
»Ich bitte Dich«, rief er, »sage mir nichts mehr davon! Ich weiß, daß es unmöglich ist. Ich will mich nicht mit einem Gedanken tragen, der mir wie ein Frevel vorkommt, ein Frevel an diesem holdseligen Mädchen.«
»Und was hat sie im Rabenthal gewollt? Irgend einen zwingenden Grund muß sie doch gehabt haben, und das kann nur die Liebe gewesen sein.«
»Oder die Verzweiflung«, sagte Egbert; »denn das ist ja klar, daß man sie zwingen will, den verdammten« – Egbert zermalmte das Ende der Phrase zwischen seinen knirschenden Zähnen, schluckte es mühsam hinunter und fuhr dann fort: »Nun sucht das arme Mädchen Hilfe, wo es Hilfe findet, und weshalb sollte sie da nicht Dich« –
»Ebenso gut nehmen, wie einen Andern? sehr schmeichelhaft! Aber, Egbert, wir haben nicht Zeit, mit einander Versteckens zu spielen. Sage mir lieber, wie kommt sie zu ihrem Deutsch? und was bedeutet es, daß man diesen Umstand so sorgfältig verheimlicht hat? daß der Amerikaner mir selbst und überall versichert hat, Niemand von seiner Familie außer ihm verstehe eine Silbe deutsch?«
»Ich erkläre mir das sehr einfach«, erwiderte Egbert; »er weiß es vermuthlich wirklich nicht, daß sie deutsch versteht; sie sind ja schon seit mehreren Monaten in Deutschland: in Baden, Berlin, was weiß ich. Sie wird es heimlich gelernt haben, zu ihrem Vergnügen. Du siehst ja, daß sie von der übrigen Familie so gut wie losgetrennt ist. Vielleicht hat sie auch ein besonders großes Sprachtalent; diese amerikanischen Damen sollen ja manchmal erstaunlich viel wissen.«
Ich murmelte etwas von mangelhafter Orthographie, indem ich den Zettel, den sie mir heute Morgen durch die taube Alte geschickt hatte, aus der Westentasche nahm und ihn Egbert übersetzte.
Egbert ließ sich den Zettel geben, ihn mit strenger, fast finsterer Miene betrachtend, wie ein Lehrer ein sehr mißrathenes Exercitium. Dann faltete er ihn mehrmals zusammen – offenbar in tiefster Zerstreuung – und steckte ihn – augenscheinlich, ohne zu wissen, daß er es that – in seine Westentasche. Ich dachte großmüthig, Westentasche ist Westentasche, und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den bedeutenden Vortheil, der uns durch den Umstand, daß Miß Ellen Deutsch verstand, erwachsen sei.
»Jetzt kommt es wahrlich nur auf Dich an«, rief ich; »darauf, daß Du die erste beste Gelegenheit benutzt, ihr Deine Liebe zu gestehen, endlich einmal für Dich selber zu sprechen. Ich für mein Theil bin froh, daß ich meines undankbaren Dienstes überhoben bin. Ihr braucht mich nicht mehr; nun seht aber auch selber zu, wie ihr fertig werdet.«
»Du wirst mich nicht verlassen, Fritz!« sagte Egbert, indem er meine beiden Hände ergriff und mir angstvoll mit seinen guten Augen in die Augen schaute.
Es waren dieselben Augen, deren ich mich von der Tertia her so wohl erinnerte, wenn er des Morgens um halb acht die lateinische Präparation noch nicht angefangen hatte, und ich ihm, behufs schnellerer Geschäftserledigung, die Bedeutungen der fürchterlichen Worte mit Bleistift am Rande notirte.
Ich drückte ihm die Hände. Wir gingen bis zum Mittag im Kurgarten auf und ab, die Möglichkeiten der Fahrt heute Nachmittag besprechend.
Zu der wurde lebhaft gerüstet. Nach getroffener Verabredung sollte das Mittagsmahl heute eine Stunde früher eingenommen werden und zwar in der offenen Halle des Gartens, da der große Saal im Kurhause bereits zu dem Ball, mit dem das Fest würdig geschlossen werden sollte, geschmückt wurde. Doch fand sich die Gesellschaft in der Halle nur sehr spärlich ein. Einige hatten vorgezogen, lieber ein sicheres Frühstück einzunehmen, als auf ein unsicheres Mittagbrot zu warten, und erschienen in Folge dessen gar nicht. Zu diesen gehörten die Amerikaner. Andere waren mit ihrer Toilette nicht fertig geworden, und kamen zum letzten Gang – wie die Damen von Pusterhausen (schmerzlich erwartet von Herrn Lindau, der seinen Gram über das lange Ausbleiben der Angebeteten vergeblich durch doppelte Portionen zu bekämpfen gesucht hatte); wieder Andere waren wohl rechtzeitig erschienen, aber offenbar in der übelsten Laune. Dies war der Fall mit dem gesammten englischen Kränzchen, vor allem mit Frau Justizrath Scherwenzel, deren blaßrothes Haubenband, das sie sehr fest unter dem Kinn zusammenzubinden pflegte, fortwährend in der Nähe des rechten Ohres der Frau Oberpost-Directorin von Dinde in wackelnder Bewegung war, während die kleinen blassen Augen der Dame beständig giftige Blicke nach der Stelle des Tisches warfen, wo sich die Schaar der Treuen um Frau Herkules und Fräulein Kernbeißer gesammelt hatte, und wo ebenfalls ungemein eifrig conversirt wurde mit gelegentlichem Pelotonfeuer Hierbei schoss die Infanterie, in kleinere Gruppen (meist in Pelotons, also mit etwa 30 bis 40 Soldaten) unterteilt, abwechselnd, jeweils geschlossen eine Musketensalve, so dass der Eindruck eines »rollenden Feuers« entstand. ärgerlicher Blicke nach der Richtung des englischen Kränzchens. Ich sah auch, wie Dr. Kühleborn, wie mir schien, als Friedenstaube von einer Partei zur andern flatterte, aber ohne daß ihm Jemand sein Oelblatt abnehmen wollte. Ich hatte die Gesellschaft während meiner Anwesenheit in Tannenburg eifrig genug studirt, um ungefähr zu wissen, was diese Aufregung hervorgebracht hatte, und wo meine Wissenschaft zu Ende ging, konnte Lindau, der Allwissende, nachhelfen.
»Die Sache ist die«, sagte Lindau, indem er einen Hühnerflügel tranchirte, »daß wir nur vier große Leiterwagen, zu zwanzig Personen jeden, haben; außerdem die Chaise des Wirthes, die von den Amerikanern occupirt ist, des Doctors Phaëton Kleine, zweiachsige, offene Kutsche mit Verdeck, die nicht von einem Bediensteten, sondern vom Herrn oder der Dame selbst gefahren wurde., in welchem nur für zwei Platz ist, und ein paar Einspänner, die alle schon besetzt sind. Das hat bei sonstigen ähnlichen Gelegenheiten ausgereicht; man behalf sich eben und theilte friedlich die Leiden einer Leiterwagenfahrt. Aber die Anwesenheit des Großfürsten hat den Saamen der Zwietracht in die Gesellschaft gestreut, und dieser Saamen ist in den letzten zwei Tagen herrlich aufgegangen. ›Meine Schwiegermama‹« – hier lächelte der Dichter – »ist durch das Benehmen des englischen Kränzchens bei Emma's und Käthchen's Unfällen tödtlich beleidigt, und hat ihnen offene Fehde angekündigt. Nicht minder offene Fehde, wenn auch aus einem mir näher liegenden Grunde, wüthet zwischen meinem blonden Käthchen und der brünetten Frau Herkules, die ach! nicht mehr mein ist. Wiederum haben die Lorbeeren des englischen Kränzchens Fräulein Kernbeißer nicht schlafen lassen; sie hat proponirt und es durchgesetzt, daß die Kinder der mater pulchra bei der Einweihung des Großfürstensteines eine große Rolle spielen – ich glaube Blumen streuen sollen – oder ein ähnliches Nonsens, während mater pulchra selbst als Waldfrau erscheinen und ein Gedicht – natürlich von Fräulein Kernbeißer – recitiren wird. Nun bringen Sie einmal diese Capulets und Montecchis Die verfeindeten Familien in »Romeo und Julia«. in den drei Leiterwagen unter, denn einer geht ab für die Musik. Kühleborn's diplomatisches Genie wird ein weites Feld haben. Sehen Sie nur, wie er vielgeschäftig von einer Gruppe zur andern rennt! Und da kommen die Wagen schon.«
In der That rangirten sich diese eben auf dem großen Platz vor dem Kurhause. In demselben Augenblicke brachen auch die drei Hauptparteien, die Führer voran, aus dem Kurgarten auf, und eilten in schnellem Schritt, der zuletzt in einen kurzen Trab fiel, den Wagen zu, um im Namen der Partei von denselben Besitz zu ergreifen. Unglücklicherweise aber war diesen dreien eine vierte Partei zuvorgekommen, eine Schaar von meist jüngeren alleinstehenden Herren, die die Kegelbahn und das Billardzimmer zu vereinigen pflegte und die es sich ebenfalls nicht nehmen lassen wollte, bei der Fahrt »unter sich« zu sein. Vergebens, daß Dr. Kühleborn mit seiner ganzen Beredsamkeit für »bunte Reihe« plaidirte. Der Kegelklub wollte nichts davon wissen; wer noch zu ihnen hinaufwolle, möge kommen, aber hinunter stiegen sie nicht wieder. So blieben denn für die Andern eigentlich nur noch zwei Wagen, die zu besteigen man sich beeilen mußte, denn die Pferde, von dem großen Lärm rings um sie her erschreckt, fingen an unruhig zu werden. Frau Herkules, die sehr nervös war, kreischte, die schönen Kinder schrieen; Dr. Kühleborn, dem die Geduld zu reißen anfing, nahm einen Befehlshaberton an und machte die Sache nur noch schlimmer; der Wagen des Kegelklubs, der seine Ladung eingenommen – auch Egbert und ich hatten hier ein Unterkommen gefunden – setzte sich in Bewegung; von dem Musikantenwagen, der, vorauffahrend, schon die Ecke des Kurhauses passirt hatte, erschallten programmmäßig die feierlichen Klänge von: »Muß i denn, muß i denn zum Städtl hinaus« zur Verzweiflung einiger Dorfhunde, die der Spektakel herbeigelockt. Mein letzter Blick fiel auf die Wirthschaise, welche noch immer der Amerikaner harrte, und auf Käthchen von Pusterhausen, welch offenbar keinen Platz mehr hatte finden können, und jetzt an Lindau's treuem Arm von Wagen zu Wagen geleitet wurde, aber ohne daß sich von irgendwoher liebevolle Hände nach ihnen auszustrecken schienen.