Der Jesuit
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Mit einer anständigen Verbeugung verließ der Doktor den Handelsherrn, und wandelte nach der Stadt zurück. Müssinger sah ihm verwundert nach, und dann in sein eignes Innres. Mittel und Wege fand er freilich darinnen nicht vor, aber ein besserer Mut belebte seinen Geist, und sein Plan, sich aus der Welt zu schaffen, kam ihm bald wie ein Traum, bald lächerlich vor. Der prachtvolle Morgen trug das Seinige dazu bei, den Aufgeregten zu beruhigen. Die erste Folge dieser eintretenden Ruhe war die Sorgfalt, die der Senator darauf verwendete, seinen Anzug wieder anständiger herzustellen. Alsdann stand er auf, blickte zum Himmel auf, und murmelte: Wohlan! den Versuch ist ja wohl die Lehre wert, und im schlimmsten Falle ändert ja der Strom binnen drei Tagen nicht sein Bett! Somit drückte er den Hut in die Augen, wanderte gravitätisch zur Stadt zurück, und seiner gleichgültigen Miene hätte niemand angesehen, wie es vor einer halben Stunde um ihn gestanden.

»Mein Guter,« sprach er nach einiger Ueberlegung in seinem Kabinette zu dem Buchhalter, »es liegt mir daran, daß Ihr Euch von dem Amsterdamer nicht in meinem Hause finden lasset. Es dient mir zu besserem Stand und Hinterhalt, wenn ich sagen kann, baß Ihr, auf andern Geschäftstouren begriffen, noch nicht zu mir heimkehrtet, mir seine Antwort noch nicht hinterbrachtet, Ihr habt mir nur in einem Briefe gemeldet, daß er selbst kommen würde, sich mit mir in Richtigkeit zu setzen; nichts weiter, versteht Ihr mich? Ich gewinne durch diese Unwissenheit Aufschub, und währenddessen geht eine neue Quelle auf.« – »Das gebe Gott!« seufzte der treue Buchhalter, »wo befiehlt aber mein hochzuverehrender Herr Prinzipal, daß ich mich hinbegebe?« – »Ihr mögt nach Steinstadt reisen,« erwiderte der Senator, »und bei Gericht den Zwangprozeß gegen unsern saumseligen Schuldner, den Apotheker, eifrig betreiben und anhängig machen. In einigen Tagen ist das Geschäft beendigt, zu dem ich einen Diener abfertigen würde, wenn nicht die Umstände wären, wie sie sind. Damit jedoch Eure Abfertigung ein gewisses Aufsehen mache, mögt Ihr hier noch zu verbreiten suchen, daß Ihr in meinem Namen auf die Steinkohlengruben bieten sollt, die der Graf zu Steinstadt versteigern läßt.«

»In Gottes Namen!« ließ sich der Buchhalter vernehmen, und ging, sich fertig zu machen. Der Senator stieg indessen hinauf zu seinen Frauensleuten, und kündigte ihnen an, der Herr van den Hoeclen von Amsterdam werde binnen wenigen Tagen eintreffen, und eingeladen werden, in dem Hause seines Geschäftsfreundes sein Quartier zu nehmen. Deshalb müsse das beste Gastzimmer instand gesetzt, und in Küche und Keller alles auf den Fuß hergerichtet werden, einen so ehrenwerten Besuch nach Gebühr zu empfangen und zu vergnügen. Die Senatorin murrte und maulte viel über die ungelegene Störung des Hauswesens, gab dann, da sie nichts an dem Befehl zu ändern vermochte, in aller Gleichgültigkeit Justinen die Schlüssel zu Haus und Hof und ließ die flinke, bereitwillige Tochter für alles sorgen. Sie selbst sah, nach wie vor, ganze Stunden lang durchs Fenster, schlief, betete ihre Psalmen gedankenlos, und hatte am Abend, in träger Ruhe unter den Freundinnen sitzend, viel von der Mühe und Plackerei einer weitläufigen Wirtschaft und unbequemer Gäste zu erzählen. Die Spiel- und Klatschschwestern säumten nicht, das Erfahrene und Gehörte in der ganzen Stadt zu verbreiten. Durch Lehrlinge und Diener und Mäkler ging von der andern Seite das Gerücht von jener Steinkohlenspekulation um, und der Senator hatte die Freude, auf der Börse wieder freundliche Gesichter zu sehen, und das Wiederaufkommen seines Kredits zu bemerken, »Van den Hoecken wird bei ihm wohnen!« flüsterten sich Händler und Sensale zu, »er erwartet ihn also mit gutem Gewissen! Auf die Steinkohlengruben des Grafen läßt er bieten? Sie müssen bar bezahlt werden, weil die Exzellenz das Geld für Spa braucht. Er floriert also wieder, der Herr Müssinger!« Und: »Ein wackrer Mann! ein braver Mann!« scholl es nun wieder weit und breit, gerade aus dem Munde derjenigen, die ihn schon am meisten geschmäht hatten. Die ruhigern, solidern Kaufleute zuckten indessen die Achseln, schüttelten die Köpfe, murmelten von Dunst und tauben Nüssen, und erwarteten die Zukunft. Aengstlicher und sehnsüchtiger als sie alle, erwartete der Senator selbst die Tage der Entscheidung, und es wurde ihm schwül zu Sinne, denn schon waren fast zweimal vierundzwanzig Stunden seit der Unterredung mit dem Doktor verflossen, und noch hatte sich, außer dem Dunst nichts geändert in seinen Verhältnissen. Wo er ging und stand, dachte er an den unausbleiblichen Bankrott, und zugleich an die Worte des Doktors, die wie Metallklänge an sein Ohr schlugen: »Hilf dir selbst, und Gott ist mit dir. Stoße den vom Brett, der dich hinabstoßen will!« Kann ich denn diese harten Reden nicht los werden? fragte er sich oft, wild an seine Stirne schlagend, und verschloß sich dann wieder auf Viertelstunden in den stillsten Winkel seines Hauses.

Unterdessen machte Justine die fleißige Wirtin, und ordnete und putzte in den Gastzimmern, daß es eine Freude war. James, der vergebens zur Stunde kam, und den die Mutter schnöde abgefertigt hatte, sah im Vorübergehen die Türe der Gaststube zufällig offen, blickte hinein und grüßte Justine, die auf einem Tische stand, und sich umsonst bemühte, die schwere Stange des Vorhangs auf die Haken über dem Fenster zu bringen. Ihr Gesichtchen war feuerrot vor Zorn, und mit weinerlicher Stimme rief sie dem Engländer zu: »So kommt doch herein, Monsieur! Seit zehn Minuten rufe ich mir die Kehle rauh, nach den einfältigen, dummen Mägden, die mich hier allein gelassen haben. Noch eine Minute, und ich hätte die schwere Fahne da, wie sie ist, auf das Getäfel geworfen, und wenn Spiegel und Marmortisch, und alles dabei zugrunde gegangen wäre. Helft mir!«

»Mit Vergnügen!« beteuerte James, legte den Hut ab, und bereitete sich, auf den Tisch zu steigen. Justine stampfte ungeduldig mit den Füßchen. »Mein Gott, wie förmlich!« rief sie, »legt doch um Gottes Willen Euer englisches Phlegma ab. Ein anderer wäre mit einem Sprunge schon bei mir gewesen!« – »Ein wenig Geduld!« ermahnte James das Mädchen, nahm den armen Vorhang aus dessen Hand und in einem Augenblicke saß er, wo er sollte. – »Besonnen kommt man nicht minder schnell zum Ziele,« sprach James weiter, und reichte Justinen die Hände, sie vom Tische zu heben. Sie bedachte sich eine Weile, wollte ihr böses Gesicht beibehalten, das schelmische Lächeln drang aber durch das Gewitter, und wie ein Zephir flog sie an des Jünglings Armen zur Erde. »Ihr seid ein possierlicher Mensch!« sagte sie, ihm neckend in die Augen sehend, »so oft ich Euch die Wahrheit sage, spielt Ihr den Gekränkten, und gebt eine Sentenz zum besten. Gewöhnt Euch das ab, Monsieur. Ihr seid ja kein Kandidat, der blöde tun muß, ums liebe Brot. Was ein vorwitziges Mädchen sagt, muß den Vernünftigen nicht kümmern.«

»Menschen, die mir gleichgültig sind, kümmern mich auch nicht,« antwortete James, der noch nicht alle Bitterkeit besiegen konnte. Justine blickte ihn rasch und gleich wie strafend an, verzog dann fröhlich lächelnd den Mund, und drehte sich, schnell wie der Wind, im Kreise um.

»Seht aber doch, wie schön ich alles hier eingerichtet habe!« rief sie, sich dreimal gegen den Spiegel verbeugend und lustig in die Hände klatschend, »ich wette darauf, die Königin Ulrike hat keine schönere Wohnung.«

»Die Freude, die Sie an Ihrem eigenen Werke haben,« entgegnete James scherzend, »brächte mich beinahe auf die Vermutung, diese Zimmer seien für Ihren Verlobten eingerichtet.«

»Ach Gott, nein!« versetzte Justine, indem sie die Hände in spaßhafter Klage zusammenschlug, »Herr Birsher wohnt leider nicht an der Ecke, um so geschwinde seinen Besuch abstatten zu können. Vorderhand wird nur ein alter steifer Holländer, der Herr van den Hoecken hier sein Quartier nehmen. Der beste Freund meines Vaters, sie haben sich aber in ihrem Leben noch nicht gesehen. Der liebenswürdigste Mann; wir wissen aber noch nicht das geringste davon. Seht Euch das Zimmer noch einmal recht an, und lobt meinen Geschmack. In diesem Zustande seht Ihr es nicht mehr wieder!«

»Wieso?«

»Herr van den Hoecken wird schon alle meine Bemühungen zuschanden machen. Diese weißen Vorhänge wird der Rauch seiner Pfeife schwärzen, all diese Ordnung seine plumpe Hand zerstören. Ach, die Männer sind ja nur dazu vorhanden, der Weiber zierliche Schöpfung zu verunglimpfen.«

»Wie kommen Sie jetzt zu der Sentenz?«

»Das Medaillon an jenem Vorhang, den Ihr, Monsieur befestigt habt, bringt mich zu der Beschwerde. Es steht schief und baufällig. Schade dennoch um das arme Bild.« »Warum befehlen Sie nicht?« fragte James lebhaft, sprang abermals auf den Tisch, und richtete das vergoldete Prunkstück nach der Regel aus. Justine verneigte sich steif. »Monsieur!« sagte sie, »ich bin mit Euch zufrieden. Wie kömmt's, daß Ihr jetzt lebendiger werdet?«

»Ich strebe nach Ihrer Zufriedenheit, Mademoiselle,« entgegnete James verbindlich. – »Das gefällt mir,« sprach Justine ernsthaft wie eine Königin, »Ihr mögt aber wissen, daß ich nicht genügsam in meinen Forderungen bin.«

»Und doch würde ich eine jede erfüllen!« versicherte James nicht minder ernsthaft. »Jede?« fragte Justine noch ernster: »Besinnt Euch, Monsieur. Ich lasse nicht mit mir scherzen.«

»Auch scherze ich nicht,« schloß James fest und bestimmt.

»So wolltet Ihr also auch, wenn ich es verlange, den einfältigen Lauscher über die Treppe werfen, der schon seit einer Minute den Kopf in die Türe steckt, und nicht ahnt, daß ich im Spiegel seine Ohren sehe?«

James sah sich verwundert um, und gewahrte Nothhafts Kopf, ein albernes ertapptes Fuchsgesicht, aus dessen Munde stammelnd die Worte kamen: »Mit Permiß, hochgeehrte Jungfer! Ich suche nur Ihren Herrn Vater!«

»Mit Permiß,« antwortete Justine verächtlich, »Er ist ein erbärmlicher Pinsel, dem mein Herr Vater für seine Horcherei den Kopf zurecht setzen soll. Führ' Er sich ab, und such' Er anderswo.« Nothhaft verschwand mit leisen Verwünschungen. Justine lachte herzlich, teils über den Diener, teils über James, der, wie aus einem Himmel gefallen, vor ihr stand.

»Sagen Sie, wunderliche Fee!« sprach er, »wie soll ich Sie nennen? Sie wechseln die Farbe wie ein Demant. Schon glaubte ich auserkoren zu sein, Ihnen einen wichtigen Dienst zu leisten, Ihren Beifall erwerben zu können, und plötzlich löst sich alles in einen Scherz auf.«

»Gesteht es nur, Monsieur!« erwiderte hierauf Justine, »Ihr seid eitel. Ich bin es aber nicht weniger. Ihr könntet Franzose sein. Mein Ernst ist jedoch nicht immer Scherz.«

Die Gutmütigkeit, die sich in Justinens Rede kundgab, machte dem Jüngling Mut, nach ihrer Deutung zu fragen, allein Müssingers Dazwischenkunft setzte seiner Neugier unübersteigliche Schranken.

Der Senator trat heftig ein, und rief mit auffallender Sorglichkeit: »Ist alles fertig, Justine? Alles hergerichtet und geordnet?« Auf die Bejahung fuhr er fort, ohne auf James zu achten: »Brav, schön, meine Tochter. Zur besten Zeit, mein Kind. Er ist angekommen. Van den Hoecken ist da. Der Kellerbursche aus dem Römischen Kaiser hat mir's soeben gesteckt. Allein gekommen, ohne Bedienung. Man kann den Mann nicht im Gasthause lassen. Ich gehe selbst zu ihm. Sage mir, bin ich angezogen, wie sich's gebührt? Fällt die Perücke gut? Sitzen die Strümpfe und Kniebänder? Hängt der Degen recht, wie er soll? Wie findest du den Busenstreif?«

»Schön und wohlanständig wie alles übrige, lieber Vater,« antwortete Justine, ein feines Lächeln kaum bemeisternd, »Sie sind jedoch in einer Unruhe befangen, die mir auffällt. Sie haben ja nicht vor den Kaiser zu treten, sondern vor einen Kaufmann, der nicht mehr, nicht weniger ist, als Sie selbst, und obendrein Ihr Handelsfreund!«

»Ach ja!« versetzte der Senator mit ängstlichem Atemzuge, »ach ja! das ist er, aber die Schicklichkeit, die Mores ... und dann meine Pflicht ... und worauf es ankömmt! Liebe Justine, erhebe deine Seele zum Gebet! ... Deine Mutter ist Eis ... Du aber mein Kind halte den Daumen für mich! hörst du? bringe mir Glück! freilich darfst du nicht wissen ... aber ... wie gesagt ... Adieu!«

Schon war er jenseits der Schwelle. Die Herzensangst, die unverkennbar aus ihm sprach, machte Justine sehr nachdenklich. Sie stützte sich auf den Tisch, und blickte sinnend auf die Straße, Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens drehte sie sich kopfschüttelnd um, um zu gehen.

»Wie? Ihr seid noch da, Monsieur White?« fragte sie, wie erstaunt den jungen Mann zu sehen, der sie mit verschränkten Armen und teilnehmend betrachtete. »Könnt Ihr mir nicht sagen, was der Auftritt soeben bedeutete?« setzte sie gezwungen lächelnd hinzu.

»Die Mächte, die uns leiten, warnen oft den Glücklichen, daß er sich auf Unheil gefaßt mache,« entgegnete schonend und vorbereitend der Jüngling. – »So?« fragte Justine wieder mit durchdringendem Blicke, »Euch steht's jedoch schlecht an, den Unglückspropheten allein hier spielen zu wollen. Was berechtigt Euch dazu? gewiß nur meine Nachsicht, die Euch zu solcher mißbrauchten Vertraulichkeit den Mut gibt. – Außer der Lehrstunde bin ich nicht für Euch zu Hause.«

James Gefühl wallte über. »Nach Befehl,« entgegnete er kaum hörbar, »hätte ich geahnt, daß Sie auf Ihre Frage nur ein stummes Achselzucken wünschen, und nicht ein freundlich offen Wort, so hätte ich mir die Beleidigung, Ihnen die Reue erspart.«

Er entfernte sich schnell. Schon war Justine im Begriff, bereits von dem innern Vorwurf gequält, ihn zurückzurufen; schon hob sich ihr Fuß, ihm nachzueilen, aber Stimme und Bewegung bezwang sie im stolzen Selbstgefühle. »Ein unerträglicher Mensch!« eiferte sie vor sich hin. »Was er sich erlaubt! Ist das nicht der Ton, den ein Vater gegen seine Tochter annimmt? Gelte ich ihm denn nicht für voll? Bin ich denn ein Kind, das sich alles gefallen lassen muß?« Ein schneller Blick in den Spiegel belehrte sie zur Genüge, daß sie kein Kind mehr war, sondern eine Jungfrau in der schönsten Blüte des Alters. Wohlgefällig ordnete sie die Spitzen, die ihren Busen zart und schwach verhüllten, die Schärpe um das enge pralle Mieder, die Falte ihres seidenen Gewandes, und ging einigemal vor dem Spiegel auf und ab. »Wahrlich!« sprach sie alsdann mit verklärtem Angesichte, »Herr Birsher wird nicht die häßlichste Braut aus Europa entführen. Wenn er nur auch recht hübsch ist, und wohlgewachsen, und prächtig und sauber im Aeußern! Wie werden sich die Jungfern ärgern und die Frauen, wenn ich in aller Herrlichkeit mit ihm abziehe! Wie werde ich dagegen jubeln, wenn ich aus diesem Hause scheide, wo mich die Mutter nicht liebt, nicht haßt, und nur für ihre Kammerjungfer ansieht, wo der Vater von Tag zu Tag wunderlicher wird. Wahrhaftig, noch einmal ein Auftritt wie der vorige, und mir würde bange um seinen Verstand!«

Soeben ließen sich Stimmen in der Hausflur vernehmen, und gewichtige Schritte kamen über die Treppe herauf. Erschreckt flog Justine aus dem Zimmer, und bewillkommte sehr verlegen einen sehr dicken schweren Mann, der an der Hand des Senators, in Reisekleider gehüllt, emporkeuchte. Ein Lastträger folgte mit einem gewichtigen Koffer auf der Schulter. Das ganze Kontorpersonal lauschte unten mit vorgestreckten Hälsen.

»Der sehr achtbare Herr und Freund van den Hoecken aus Amsterdam,« sprach der Vater geschäftig zu Justine, und zupfte sie, einen sehr tiefen Knicks zu machen. Der Holländer versuchte seinerseits eine Verbeugung, sah Justine starr aber freundlich an, blinzelte mit den kleinen Augen. »Ein hübsches Kind, die Jungfer Tochter,« sagte er noch halb atemlos, »ein recht hübsches Kind, eine lockende Eva! es ist scharmant, Ew. Edeln, daß ich dem Römischen Kaiser Valet gesagt habe, um hier in die Arme einer griechischen Helena zu sinken.«

»Ei, der Himmel bewahr mich in Gnaden!« platzte Justine heraus, und floh vor den ausgestreckten Armen des Fremdlings nach der Mutter Zimmer. Van den Hoecken lachte ungemessen, und wehrte dem Senator ab, der Justinen nacheilen wollte.

»Lassen Ew. Edeln das wilde Jüngferlein immerhin springen und laufen,« sagte er fortlachend, »der Wein muß brausen, das Bier schäumen. Am Ende gibt es noch den solidesten Trank. Ich bin der Jungfer schon recht zugetan, und denke, sie soll mir es auch werden. Alte Hagestolze wie ich, haben das Geheimnis endlich weg, wie man das Frauenzimmer kirre macht. Fürs erste jedoch,« setzte er hinzu, »weisen Sie mir mein Zimmer an, und entschuldigen Sie mich bei Ihrer lieben Frau. Zum Tee komme ich herüber. Meine müden Beine müssen bis dahin ausrasten.«

Der Senator stieß dienstfertig die Türe auf, und van den Hoecken betrachtete mit Wohlgefallen sein Quartier, »Ew. Edeln haben mich wie einen Kongreßambassadeur logiert,« schmunzelte er, »item, unsere persönliche Bekanntschaft hebt vollkommen gut an; wünsche nur, daß auch in caeteris alles gut ablaufe, mein bester Herr.«

Der Senator wollte den Augenblick benutzen. Er stellte sich daher vor den im Lehnstuhle ruhenden Gast, und begann zu erzählen von dem Buchhalter, der nicht zugegen, von dessen oberflächlichem Briefe, von der Freude, die er empfinde, den Handelsfreund zu bewirten, von den bösen Zeiten und den Wagnissen eines Spekulanten, und besonders von der Notwendigkeit, sich als Christen gegenseitig zu unterstützen, und zu schonen. Als er jedoch bis zu diesem Punkte gekommen war, faltete der Gast seine Stirne mächtig, bewegte mißbilligend den Kopf, und entgegnete ziemlich unfreundlich: »Geschätzter Herr Senator! Dergleichen Betrachtungen schicken sich wenig in der ersten Bewillkommnungsstunde. Was jedoch die Spekulanten betrifft, und die christliche Moral, so sollen erstere nicht weiter fliegen wollen, als die Federn reichen, und letztere nicht begehren, daß einer, um dem andern durch die Finger zu sehen, sich selber ruiniere. Sie werden mich begreifen, obgleich ich nicht das beste Deutsch rede. Im Holländischen könnte ich mich freilich besser ausdrücken. Uebrigens lassen wir dergleichen Erörterungen auf morgen. Meine Maxime ist: zuerst ruhen, dann arbeiten. Morgen nach dem Frühstück von Geschäften. Meine Wechsel sind in aller Ordnung. Halten Sie nur das Ihrige in Bereitschaft.«

Der Senator war wie von kaltem Wasser übergossen. »Ew. Edeln vergessen,« stotterte er, »daß meines Buchhalters Abwesenheit ...«

»Doch keinen Aufschub macht?« unterbrach ihn van den Hoecken, herzlich lachend. »Warum nicht gar! Ein exakter Kaufmann, wie Sie, weiß die Zahltermine auch ohne den Buchführer. Respekttage habe ich in Hülle und Fülle gelassen, und aufhalten kann ich mich nicht länger als zwei Tage. Also haben Ew. Edeln die Güte, sich nicht länger zu sträuben. Ich weiß es, große Summen gehen schwer vom Herzen; mir selbst nicht minder; allein was sein muß ... nun, Sie sind ja ein Ehrenmann, und somit heute kein Wort mehr hievon.«

Müssinger empfahl sich mit verstecktem Mißvergnügen, und ging bis zur Dämmerung heftig auf dem Altan des Hauses hin und her, um sich die gehörige Fassung zu verschaffen, deren er, seinem Gaste gegenüber, bedurfte. Plötzlich blieb er stehen, und sagte vor sich hin: »Bin ich denn nicht ein blödsinniger Mensch, daß ich noch hoffe, und kann diese Hoffnung mit nichts in der Welt rechtfertigen? Was soll mir eine leere gespenstische Erwartung? Warum habe ich nicht auf der Stelle dem hartnäckigen Manne gesagt, was er morgen dennoch erfahren muß? daß es weit ärger mit mir steht, als selbst mein Buchhalter ihm gesagt, dessen vergebliche Bemühungen er nur für die Flausen eines Mannes, der nicht zahlen will, zu halten scheint. Ich muß mich demütigen vor ihm, wie nicht vor einem Kaiser, und nur von seiner Barmherzigkeit Rettung erwarten! Ein saurer Schritt – der sauerste meines Lebens! ist er aber vergebens, auch mein letzter, so wahr mir Gott gnädig ist, vor des Holländers Augen zerschmettre ich mir den Kopf!«

Von diesem Gedanken erfüllt, stieg er hinab in sein Kabinett, lud mit der Entschlossenheit der abgestumpften Verzweiflung seine großen Reisepistolen, und legte sie, unfern von seinem Drehstuhle in ein verstecktes Fach des Schreibtisches. Hierauf schloß er sorgfältig zu, gab den Kontorbedienten für den ganzen folgenden Tag – einen Sonntag – freien Urlaub, und verfügte sich in die Wohnstube, wo er seine Frau, ihre Freundinnen, Justine und van den Hoecken schon beisammen fand. Der Tee wurde nach holländischer Sitte herumgereicht. Der Gast setzte sein größtes Vergnügen darein, sich von der Tochter bedienen zu lassen, und durch mehrere Scherze, wie sie alte Herren seines Schlags sich oft zu erlauben pflegen, die Röte der Jungfräulichkeit auf ihre Wangen zu jagen.

»Das wäre ein Mädchen,« sagte er unter andern, »das wieder Leben in mein verödetes Hauswesen bringen könnte, wenn ich einen Sohn hätte, oder wenn die Jungfer mich selbst zum Manne nehmen wollte. Unsre steifen Amsterdamer Puppen müßten sich verstecken vor der muntern Frau van den Hoecken. Wahrhaftig, Ew. Edeln, seh ich die Jungfer an, so wird mir's wohl begreiflich, wie sie Ihre Tochter sein kann; aber die bequeme Madam dort im Kanapee würde nicht jeder für ihre Mutter halten.«

»Hm!« dehnte die Senatorin etwas empfindlich: »Ew. Edeln und meine Wenigkeit stellten dafür ein passenderes Paar vor.«

»Wahrhaftig!« lachte van den Hoecken ausgelassen: »Sie haben recht, meine Wertgeschätzte, und ich würde auch des Schicksals Wink nicht unbeachtet lassen, hätte es dem Himmel gefallen, Sie in ledigem Stande vor meine Augen und Gemüt zu führen. Wie die Sachen aber jetzo stehen, werde ich mich schon an die Jungfer Tochter halten müssen.«

»Bitte sehr!« lächelte Justine schnippisch, und zog ihre Hand aus der Rechten des Holländers. Die gereizte Mama setzte indessen phlegmatisch bei: »Inkommodiere sich der Herr nicht. Meine Tochter ist versprochen; sie wird eine Birsher in Neuyork.«

»Oho!« entgegnete van den Hoecken: »Mit dem Birsher nehm ich's auch noch auf. Bin ich nicht so jung wie der Sohn, bin ich doch reicher als der Vater, und der Weg nach Amsterdam ist um ein gutes Stück näher, als der nach Amerika.«

»Danke gar sehr, lieber Herr!« spöttelte Justine. Die Mutter nickte ihr den völligsten Beifall zu. Der Vater ließ sich vertraulich neben dem Holländer nieder, und sagte, als die Frauen sich wieder alle um die Teekanne und Butterschnitten drängten, so süß als möglich: »Ew. Edeln haben eine unvergleichliche Gabe, zu scherzen. Ein andrer hätte glauben können, Sie hätten in der Tat ein Auge auf unser Kind.«

»Das habe ich auch,« bekräftigte van den Hoecken, »ich bin der schnippischen Jungfer seelengut, und möchte sie für mein Leben gern in meinem Bauerchen haben.«

»Ha!« versetzte der Senator, vor dessen Seele allerlei Hoffnungen und Pläne wieder aufdämmerten, »wir waren ja bisher, ohne uns zu kennen, so gute Freunde, achtbarer Herr ...«

Er stockte: ein Auge sah verlegen auf den zitternden Busenstreif, das andere auf den Holländer, der, seine Pfeife kaltblütig anbrennend, langsam zu ihm sagte: »Nun? und weiter? Drücken Ew. Edlen ab! Nun?«

»Ich meinte nur,« fuhr der Senator, seine Schmiegsamkeit mit ungeduldiger Ruhe behauptend, fort, »daß ich Ihnen nicht leicht ein Ansuchen fehl gehen lassen möchte, wenn dessen Erfüllung in meiner Macht stände.«

»Versteh ich Sie?« fragte van den Hoecken heimlicher. »Vielleicht auch nicht das Ansuchen um die Jungfer Tochter?«

»Ihr Scharfsinn, werter Herr ...« begann der Senator.

»Bitte, keine Komplimente!« fiel der Holländer ein. »Der Birsher steht aber im Wege. Wie könnte man den wegschaffen?«

»I nun,« flüsterte Müssinger, »man müßte sehen, wie sich etwa die Gelegenheit darböte ...«

»Ein ehrliches Mannswort zu brechen?« sagte van den Hoecken ernst und mit Vorwurf, »ein kaufmännisches Versprechen ist heilig wie ein Eid. Es muß gehalten werden, wenn auch eine Gelegenheit sich darböte ... lieber Mann, und ein noch zehnmal reicherer Freier als van den Hoecken von Amsterdam, der Ihnen nur um der lieblichen Tochter willen den niedrigen Charakterzug vergibt –«

»Mein werter Herr,« wollte der Senator auffahren. Der Gast hielt ihn jedoch im Zaume, indem er ihm zuflüsterte: »Machen Sie doch ihren Schritt nicht vor Ihrer Familie und den Fremden offenbar. Schämen Sie sich im stillen vor mir allein, und wundern Sie sich nicht, wenn ein ehrlicher Mann zögert, Ihnen Kredit zu geben, da Ihre feierlichen Zusagen Ihnen feil geworden sind.«

Den Rücken des Senators überlief es wie mit tausend Nadelspitzen. Kurz und trotzig, um den Herrn von Amsterdam seine Beschämung nicht sehen zu lassen, wendete er sich von ihm, und vergaß die Pflichten des Hausherrn. Van den Hoecken übersah ihm den Ingrimm, und mischte sich in ein Gesellschaftsspiel, das die Frauen beliebt hatten. Hier entfaltete er bald eine Fröhlichkeit, die man ihm nicht angesehen hatte, eine Freigebigkeit, die den Spielerinnen nicht mißfiel, und eine Gutmütigkeit, die ihm Justinens Herz geneigter machte. Er zog es auffallend vor, sich mit dem muntern Mädchen zu unterhalten, gab sich viele Mühe, es an sich zu fesseln. Der Senator sah mit schwankenden Hoffnungen und vieler Reue dieser feinen Bewerbung zu, bis die zehnte Stunde schlug, und die Schicklichkeit gebot, den Gast nach seinem Zimmer zu geleiten, und die Frauen allein zu lassen. Verbindlich und gefällig wünschte van den Hoecken allerseits gute Nacht, und begehrte scherzend von Justinen den Verlobungskuß. Die Jungfer verweigerte sich lachend. Van den Hoecken hatte sich's vorgenommen, die süße Frucht nicht unberührt zu lassen. – »Will Sie mich nicht qua Bräutigam küssen, spröde Jungfer,« sagte er lachend ... »so erlaube Sie mir doch wenigstens, Sie qua Papa zu küssen. Ich könnte es ja doch sein, denke ich; he?«

»Gute Nacht, Herr Vater!« antwortete dem Scherze nachgebend und munter das lustige Mädchen, und bot ihm Stirne und Wange zum Kuß. Van den Hoecken zauderte nicht, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen, und verließ, glänzend und strahlend von Vergnügen das Zimmer. Der Herr vom Hause, von widrigen Gefühlen bewegt, ging, den vergoldeten Armleuchter in der Hand, zum Gastzimmer hinaus. Beide Männer schwiegen ernsthaft. Der Senator öffnete mit eignen Händen die grünen Damastvorhänge des Alkovens, schloß die Fenster, zeigte stumm auf alle Bequemlichkeiten der Wohnung, und wollte sich mit einem trocknen: »Schlafen Ew. Edeln wohl!« abführen. Van den Hoecken redete ihn darauf an.

»Wollen wir denn im Groll scheiden, werter Herr und Gastfreund?« sagte er. »Lassen Sie uns Friede machen. Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt, und Sie haben bereut; somit gut. Wollen Sie bedenken, daß Feindseligkeit nichts taugt. Sie haben mich selber in Ihr Haus geladen, und vertrauensvoll hab ich's angenommen. Sein Sie auch freundlich in dem gastfreundlichen Hause. Bei Gott, ich bin es auch wieder.«

Der Senator konnte zwar die dargebotene Rechte des Kaufmanns nicht ausschlagen, aber gefangen geben mochte sich sein Stolz auch nicht. Steif verbeugte er sich daher und erwiderte: »Ew. Edeln wollen scherzen. Ich habe alles vergessen, und bitte um dieselbe Vergünstigung. Wann befehlen Sie morgen geweckt zu werden?«

»Ich inkommodiere nicht,« versetzte van den Hoecken, ziemlich unbefriedigt von des Senators Rede, »mein übergesegneter Körperumfang weckt mich frühzeitig, duldet mich nicht im Bette. Um acht Uhr wünsche ich mit dem Frühstück bedacht zu werden, damit wir um Neun an unser Geschäft gehen können.«

»Sehr wohl,« entgegnete Müssinger eiskalt, »alles soll geschehen, wie Sie es anordnen. Gute Nacht!«

Van den Hoecken legte sich zu Bette; aber der Senator fand in seiner Stube keine Ruhe. Einmal sogar verließ er dieselbe, das Licht in der Hand, und schlich in leisen Pantoffeln bis zu der Schlafkammer seiner Tochter. Schon hatte er den Finger gekrümmt, um anzuklopfen, aber scheu trat er wieder zurück, suchte er wieder seine Stube. Warum das Mädchen in das Geheimnis ziehen? sagte er mißbilligend zu sich selbst. Wird nicht ihr Eigensinn oder ihre Angst mich verderben? Es ist nicht gut, wenn der Vater die Rettung seiner Habe in schwache Kinderhände legt. Im Alter folgt der Vorwurf hinterdrein, oder auf der Stelle mißlingt der Plan. In welchem Lichte stünde ich vor dem holländischen Herrn! Könnte er's dann nicht mit Händen greifen, daß ich ihn nur ins Haus gelockt, um ihn zu kirren; daß ich auf gewisse Art der Kuppler meiner Tochter ... ? Pfui, Müssinger. Diese Blöße wäre unverzeihlicher, als die, welche deine Schwäche und deine fürchterliche Bedrängnis gaben. Fasse Mut, unglücklicher Mann! Trinke den bittern Kelch aus, wie du es dir vorgenommen. Ist der Holländer, seiner Pünktlichkeit und Hartnäckigkeit zum Trotz, ein Mann von Gefühl, wie ich beinahe nach seinen Reden vor dem Schlafengehen glauben möchte, so wird ihn die treue Schilderung meiner Lage rühren; wo nicht ... in Gottes Namen!

Mit einem schweren Seufzer löschte der Senator sein Licht, und gab sich einem wilden Traumgewirre hin, das den von Schlaflosigkeit und Grübeln Erschöpften endlich gegen Morgen umfing. Van den Hoecken hatte schon einigemal nach ihm gefragt, als er erwachte. Wie ein, seiner Sinne nicht klar bewußter Mann, ließ er sich von dem eintretenden Bedienten die Haare ordnen, zog sich nicht allzu sorgfältig an, und begab sich unter dem ersten Geläute der Kirchenglocken zu den Seinigen. Die Senatorin stand schon, geschmückt und mit Putz wie eine Markgräfin überladen, in der Mitte des Zimmers. Justine trat mit Blumensträußen und Gesangbüchern versehen, ebenfalls im Staate von Cros des Tours, herein. Die Senatorin nannte mit ihrer gewohnten Schläfrigkeit in Ton und Wesen, ihren Mann einen trägen Langschläfer, der sein Frühstück allein, oder mit seinem galanten Freunde aus Holland verzehren könne. Justinens Scharfblick erriet jedoch weit gelehriger, daß in dem Vater immer noch das ungewöhnliche Treiben wühle, das sie schon in den verflossenen Tagen bemerkt hatte. Von der Freundlichkeit ihres Grußes wohltuend angeregt, wurde der Senator milder, und sagte fast liebevoll zu seiner Ehefrau: »Liebe Jakobine! Ich muß dich heute freilich alleine in die Kirche gehen lassen, weil mich ein Geschäft zu Hause hält. Aber gerade deshalb bete du für mich, und denke meiner einmal im guten gegen den Schöpfer.« – »Faselt er nicht schon wieder?« fragte die Senatorin, spöttisch zu Justine gewendet: »Bete ein jeder für sich, und erhalte der Herr jedem den Verstand. Wenn ich den Doktor in der Kirche sehen sollte, will ich nicht versäumen, ihn zu dir zu schicken. Ein Aderlaß ist dir wahrlich nötig, denn richtig scheint mir's seit einiger Zeit nicht mehr in deinem Kopfe zu sein.«

Der Senator hob, statt der Antwort, beide Arme heftig gen Himmel, und wendete sich von dem Weibe. »Ich will mich nicht erzürnen,« sagte er mit gewaltsam unterdrücktem Unmut, »es möchte vielleicht gut sein, daß wir gerade jetzt nicht im Hader scheiden. Darum gehe recht geschwinde, Jakobine, und lebwohl!«

»Der Mann wird sich noch durch seine Galle umbringen!« versetzte die Senatorin gleichgültig, füllte sich den Mund mit getrockneten Feigen, und rauschte in ihrem weiten Stoffkleide vornehm zur Türe hinaus. Justine blieb hinter ihr zurück, kam auf den Vater zu, und sagte mitleidig: »Sprechen Sie, lieber Vater, ob ich bei Ihnen bleiben soll? Sie scheinen mir in der Tat krank zu sein.« – »Geh mein Kind,« entgegnete Müssinger, »du erzürnst deine Mutter.« – »Ich fürchte ihren Zorn nicht,« versicherte Justine gleichmütig; allein da der Senator darauf bestand, zu bleiben, um seinen Geschäften zu genügen, folgte sie, wiewohl besorgt, der Mutter in die Kirche. Die Glocken schlugen ringsum die neunte Stunde, und Müssinger klopfte an van den Hoeckens Türe. Der Gast, erhitzt von der Pein einer fast schlaflosen Nacht, empfing ihn nicht in der besten Laune, und schien geneigt zu sein, das unangenehme Geschäft zu verschieben. Der Senator jedoch, dem es wie ein Fels auf der Brust lag, der um jeden Preis der Qual fernerer Ungewißheit enthoben sein wollte, drang, wiewohl bescheiden, dennoch so bestimmt auf der Arbeit Beginnen, daß van den Hoecken endlich mit den Worten: »Sieh, wie sich das machte! Gestern so säumig, heute ohne Rast und Weile!« den Rock überwarf, seine Brieftasche aus dem wohlverschlossnen Koffer nahm, und dem Hausherrn nach der Schreibstube folgte.

»Der Tag ist recht günstig,« sagte er, da sie durch das leere Kontor nach dem Kabinett schritten, »die Diener sind vermutlich alle im Gottesdienste. Da läßt sich das Geschäft rund abmachen; und bei Zahlungen liebe ich sonderlich keine Zeugen.«

»Ich auch nicht,« entgegnete der Senator zähneklappernd, zog den Laden des Hoffenster auf, und bot dem Fremden einen Stuhl. Van den Hoecken machte sich mit dem Schlosse des Portefeuille zu schaffen; Müssinger blätterte mit zitternder Hand in dem Hauptbuche. Nachdem endlich der Holländer eine ziemliche Partie von Wechseln geordnet, und die Brieftasche wieder zugemacht hatte, sah er mit fragenden Blicken auf den unruhigen Schuldner. Der Letztere bemerkte es, und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Es wird alles bald abgetan sein, werter Herr. Hier – sehen Sie im Buche, was ich Ihnen soll; und in meiner Kassa, was ich habe!«

Er stieß mit dem Fuße den Deckel der Geldkiste auf; sie war beinahe leer. Van den Hoeckens Gesicht verfinsterte sich ungemein. »Was soll das, Herr?« sagte er scharf. – »Ich bin jetzt schon ein vornehm tuender Bettler,« versetzte Müssinger, »gewährt mir Ihr Mitleid nicht Jahresfrist, so stehe ich auch am Pranger.« – »Sie haben es durch Ihre unmäßige Spekulationswut verschuldet,« fuhr van den Hoecken mit strengem Verweise fort, »Ihre Firma schien nur solid, und war eine Seifenblase, um andere sichere Kreditoren zu täuschen.«

»Herr!« sprach der Senator mit mühsamer Fassung und Unterwürfigkeit, »sein Sie nicht ungerecht; Ihre Menschlichkeit ... mein Unglück ...!«

»Pah!« eiferte der Gläubiger, »jeder Verschwender schützt Unglück vor, und appelliert an weiche Herzen. Ein Kaufmann muß ein steinhartes Herz besitzen, soll er nicht selbst zugrunde gehen. Und wer steht mir denn am Ende dafür, daß diese ganze Wehklage nicht eine bloße Komödie sei, und in einen fraudulösen Bankrott ausgehen werde, weil sich gerade die Gelegenheit darbietet ...«

»Herr! nehmen Sie den Schimpf zurück!« fuhr ihm der Senator wütend in die Rede.

»Was da!« brummte van den Hoecken wild entgegen, »dero gestrige Proposition darf wohl auf den Gedanken führen; und kurz und gut: die leere Geldkiste befriedigt mich nicht. Hier in meiner Hand sind Ihre Wechsel. Sehen Sie dieselben an, und lernen Sie mich kennen! Ich bin nicht umsonst den weiten Weg hieher gereist; ich will nicht vergebens ...«

»Wohlan,« unterbrach ihn der verzweifelnde Schuldner, »da doch nichts Ihr Menschengefühl erregen kann: Wohlan! Sie sollen Ihren Willen haben. Diese Wechsel kenne ich, und Sie sollen nicht umsonst sich bemüht haben. Sehen sollen Sie, wie ich meine Rechnung schließe!«

Mit der einen Hand stieß er die Wechselpapiere von sich, die ihm van den Hoecken vorhielt, mit der andern zog er eine von den Pistolen aus dem Fache des Schreibtisches.

Bei dieser unverhofften drohenden Bewegung entsetzte sich van den Hoecken zum Tode. »Herr! Sie wollen doch nicht ...« lallte er, vom Stuhle auffahrend.

Nothhaft, der Kontorist, hatte die Kirche umgangen, seine Zeit in einer versteckten Spielstube zugebracht, und kehrte, nach manchem Verluste, nach Hause zurück, um seine letzten Taler zu sich zu stecken, und aufs neue sein Glück zu versuchen. Zweimal hatte er schon an der verschlossenen Haustüre geklingelt, niemand ihm aufgetan. Die haushütende Magd hielt am Dachfenster des Hintergebäudes eine gewichtige Unterredung mit der Dienerin im Nachbarhause. Der Knecht war auswärts zu seinem Schätzchen geschlichen. Demnach brannte dem lockern Kaufdiener die Ungeduld auf den Nägeln, und, als nehme er sich vor, Sturm zu läuten, zog er kräftig und unausgesetzt an der volltönenden Schelle. Sein Bemühen ermangelte nicht des gewünschten Erfolgs. Schritte kamen, das Schloß ging langsam und zögernd auf.

»Taubes, ungeschicktes Murmeltier!« grollte der Eintretende, erschrak aber über die Maßen, als er nicht die Hausmagd, die er gemeint, sondern den Prinzipal selbst vor sich sah, der das Amt eines Pförtners verrichtet hatte. Seine Unbesonnenheit verwünschend, und den Jähzorn des Senators aus Erfahrung fürchtend, bückte er sich verlegen, und stotterte eine Entschuldigung her, die nicht schlechter hätte ausfallen können.

Wunderbarerweise genügte sie gerade heute dem wenig duldsamen Prinzipal. »Schon gut, mein lieber Nothhaft,« versetzte er mit leiser Stimme, »Er meint es nicht böse. Darum,« hier schloß er die Türe wieder sorgfältig, »darum ist mir's auch lieb, daß Er gerade heimkömmt. Ist etwa die Kirche schon zu Ende?« fragte er hastig nach.

Nothhaft war innerlich erschrocken ob der Totenblässe, die auf des Senators Antlitz lag, und nicht minder ob der raschen Unsicherheit in seiner leisen Rede; er erwiderte daher kleinlaut: »Nein, hochgeehrter Herr, ich konnte aber vor Uebelsein nicht in der Kirche ausdauern. Deshalb ... soeben schlug es zehn Uhr.« – »Zehn Uhr erst?« fragte der Senator wieder mit schleppendem Tone; »wie die Zeit schleicht! ich dachte, es müsse Mittag vorüber sein. Komm Er mit ins Kontor.«

»Soll ich nicht die Fensterladen öffnen?« sagte Nothhaft, als sie in der finstern Stube standen. – »Nicht doch,« erwiderte Müssinger hastig, »drinnen ist es schon heller. Nicht wahr, Nothhaft, Er hat nicht Furcht, noch Grauen?«

»Ich habe beides nie gekannt,« beteuerte Nothhaft, sehr aufmerksam werdend.

»Desto besser!« setzte der Senator bei, »so wird Er doch Rat wissen. Mich hat es stark angegriffen.« – »Was denn, Herr Senator?« – »Rede Er nicht laut. Es hat sich vor einer halben Stunde, es kann vielleicht auch eine Stunde sein, ein Unglück im Hause begeben.«

»Ein Unglück? Hier im Hause?«

»Ja doch; nur leise gesprochen. Dort im Kabinett ...« Der Senator drückte, das Gesicht wegwendend, die Türe auf. »Im Kabinett?« fragte Nothhaft, dem es kalt über den Körper fuhr, ohne sich zu regen. »Was ist dort?«

»Der Holländer...« stammelte Müssinger; »es war plötzlich aus mit ihm.«

»Mit dem Holländer?«

»Er ist in meinen Armen... gestorben, glaube ich. Geh Er hinein, und sehe Er nach, ob Er's auch so findet, oder ob vielleicht...«

Nothhaft war schon im Kabinette. Van den Hoecken lag leblos an der Erde, mit entstelltem Gesichte, und in Unordnung gebrachter Kleidung. Kein Atem war an ihm zu erhorchen, kein Pulsschlag zu finden. Der Diener fühlte des Körpers Eiseskälte, und hielt sich nicht lange bei demselben auf. Einen Falkenblick warf er durch das Gemach, und kam eilends wieder zu dem Herrn zurück. Dieser saß, die Hände zwischen den Knieen gefaltet, und das Haupt gesenkt, im Winkel der dunkeln Schreibstube. »Nun?« war sein einziges Fragewort.

Nothhaft zuckte die Achseln. »Hin ist hin,« sagte er, »er hört den Kuckuck nicht mehr schreien. Wie kam denn alles so plötzlich, Herr Senator?«

Müssinger zog einen tiefen Seufzer aus der Brust. »Wir rechneten zusammen,« flüsterte er scheu, »wir hatten eben alles geschlossen, da überkam es ihn plötzlich, er sank – auf meinen Knieen wurde es mit ihm alle.«

»So?« entgegnete Nothhaft mit seltsam gezogenem Tone. »Ein Glück nur, daß es nach dem Rechnungsabschluß traf.« – »Was meint Er?« fuhr der Senator schnell, wie aus einem Traume, in die Höhe, »was ist jetzt bei der Sache zu tun?« – »Der Herr Prinzipal scherzen wohl mit mir,« versetzte der Diener, »die Gerichte müssen gerufen, des Verblichenen Effekten versiegelt werden, das ist ja klar.« – »Die Gerichte?« fragte Müssinger, wie von Schauder überlaufen, und sehr zerstreut, »ach ja... wahr ist's; das ist zu tun... und Siegel, meint Er, müssen auch...?« »Herr Senator,« entgegnete Nothhaft spitzig, »Sie sind ja selbst beim Rate; müssen das besser verstehen, als ich einfältiger Schreiber.« – »Er hat recht, mein Sohn, sehr recht,« sprach der Kaufherr alsdann, wie sich besinnend, »und wann wäre es wohl nötig ... glaubt Er ...?« – »So schnell als möglich,« fiel Nothhaft ein, »Verzögerung könnte zu Unannehmlichkeiten Anlaß geben.« – »Leider! leider!« stimmte der Senator ein, »darum laufe Er, guter Nothhaft, und sei Er diskret gegen jedermann, damit es sich so glatt und stille abmachen lasse, als nur möglich.«

»Sehr wohl, Herr Senator,« antwortete Nothhaft, bereitwillig nach dem Hute greifend, »wollten Sie indessen einen Rat nicht verschmähen? Schaffen Sie die Pistole weg, die drinnen auf dem Boden liegt.«

Der Senator fuhr zusammen. »Eine Pistole?« stotterte er, »es muß ein Zufall dieselbe ... laßt doch sehen!«

Sich an den Diener haltend ging er nach dem Kabinette, wendete aber alsobald der Stelle, wo der Holländer lag, den Rücken, und stierte auf die Waffe nieder, die Nothhaft dienstwillig und eifrig aufhob. – »Wir wollen sie zu der andern legen,« sagte derselbe leise und hastig; sie könnte übeln Effekt machen und wenn Sie's erlauben, bringe ich auch die Halsbinde des armen Schelmen hier wieder in Ordnung. Es läßt gerade, als ob sich drei Finger hinein verwickelt hätten, um sie zusammenzuschnüren.«

Ohne Regung kehrte der Senator dem Diener, der ohne Scheu an van den Hoecken die besagte Aenderung vornahm, den Rücken fortwährend zu.

»Ich wollte ihm die Binde öffnen,« sagte er halblaut, »aber es ist möglich, daß ich in der Alteration sie fester zuzog ...«

»Ja, ja,« stimmte Nothhaft, sein Geschäft vollendend ein, »es geschieht wohl öfter«, daß die Hand ungeschickter ist, als der Kopf. So. Das wäre gut, und ich will laufen, was ich kann. Haben Sie noch etwas hier mitzunehmen, Herr Prinzipal, so nehmen Sie es jetzt. Es wird schicklich sein, daß die Herren von Gericht das Kabinett verschlossen finden.«

Der Senator wurde wieder regsam, und begann, ohne eine Silbe zu sprechen, aber mit einer beunruhigenden Hast, aus seinem Schreibtische Papiere und Bücher untereinander zu werfen, ohne in der beklagenswerten Zerstreuung, die ihn fesselte, dasjenige zu finden, was er zu suchen schien. Nothhaft trat hinter ihn, und sein Auge fiel auf ein Paket von Wechselbriefen, nach welchen des Senators linke Hand immer tappte, während seine Rechte sie immer wieder verschob. Der Diener ergriff sie. »Sie suchen wohl diese Papiere mit Ihrer Unterschrift?« fragte er dringend, »da! da! Herr – sechs – sieben – neun Tratten auf Sie selbst, von van den Hoecken in Kurs gesetzt und endossiert.« – »Endossiert?« fragte der Senator, heftig nach den Briefen haschend. »Endossiert auf die Order des Georg Birsher zu Neuyork!« fuhr Nothhaft fort, indem er sie überlieferte, »und – wahrhaftig quittiert von demselben.«

»Birsher?« fragte der Senator, betäubt auf die Blätter schauend. Nothhaft lächelte betäubend: »Stecken Sie ein, Herr Prinzipal. Daß Sie bezahlt haben, beweisen ja schon die Wechsel in Ihrer Hand ... das »Ouitte« hätte wegbleiben können. Die Tinte ist gar zu frisch. Lägen vielleicht noch andere Dokumente in der Brieftasche, die ich bei dem Holländer wahrnahm?«

»Was geht mich van den Hoeckens Portefeuille an?« fuhr Müssinger stutzig werdend auf. Nothhaft machte einen entschuldigenden Katzenbuckel, und trieb zum Fortgehen an. Wie ein Kind folgte der Senator seinen Worten, schloß das Kabinett, ohne sich einmal umzusehen, und ging, an Nothhafts Arme, zu seiner Stube, wo er sich an allen Gliedern zitternd, zu Bett legte. Wie ein guter Geist erschien ihm die aus der Kirche zurückkehrende Justine, die, von des Vaters Unpäßlichkeit hörend, mitleidig zu ihm eilte. Der Vater konnte und wollte nicht reden, sondern versuchte nur in einzelnen Lauten sein Kind zu beruhigen. Justine erschöpfte sich in Mutmaßungen über des Ratsherrn Zustand, bis die Schelle des Hauses wieder sehr stark geläutet, und vieles Geräusch hörbar wurde. Die Türe des Zimmers sprang auf, und Frau Müssinger, weiß wie die Wand, und schwerfällig, wie noch nie, schwankte ins Zimmer. – »Was ist das?« kreischte sie, ohne des Kranken zu achten, »das Haus wimmelt von Gerichtspersonen und Schergen! Ach, das Unglück! Der Holländer soll sich erhängt haben, höre ich! Ach, welch eine Schande! Gib die Schlüssel her, du gottvergessener Mann, der mir durch seine sauberen Freunde so viel Schrecken verursacht!«

»Justine wird öffnen,« versetzte der Senator unter Fieberschauern, indem er dem Mädchen die Schlüssel reichte. »Stecke diese Wechsel zu dir,« flüsterte er demselben zu, »bewahre sie sorgfältig!« Justine schob, nicht minder blaß vor Schrecken, die Papiere ein, und entfernte sich eilends. Die Mutter dagegen blieb zurück, um den Mann ferner zu quälen. »Welch ein abscheulicher Spektakel!« ächzte sie, in den Lehnstuhl am Bette sinkend; »in diesem Hause halte ich's nicht mehr aus. Der Holländer wird umgehen, in seinem weißen Mantel, ein schreckhaftes Gespenst! O Herr, gehe nicht mit uns ins Gericht! Was ich erleben muß! Pfui, abscheulich! Die Steuerkommissärin hatte recht, obgleich schon sie mich in der Kirche zum Entsetzen gebracht hat. Sie hat gestern gesehen, was wir alle nicht sahen. Wir saßen abends zu dreizehn am Tische, und einer von den dreizehn muß binnen Jahresfrist sterben! Wie mich das schon alterierte! Man sieht aber, wahr ist's! der Holländer hat bereits die Welt gesegnet.«

»Und ich werde es noch heute,« seufzte der Senator, »wenn du nicht nachläßt mit deinem abscheulichen Gekreische, Jakobine!«

»Und dennoch wirst du mich dulden müssen, bis Justine kömmt,« antwortete sie phlegmatisch, »ich gehe ohne Begleitung nicht über den Gang.«

Nothhaft trat ein, und ging rasch auf den Senator zu. »Alles besorgt, Herr Prinzipal,« rief er wichtig und vertraulich, »die Herren sind schon unten, lassen ihre Kondolenz vermelden, und soeben den Verstorbenen über die Treppe nach seinem Zimmer bringen.«

»Gott stehe uns bei!« jammerte die Senatorin mit der ausgelassenen Betrübnis stumpffühlender Leute, während Müssinger sein Gesicht in dem Kissen verbarg. »Warum ließt du den Landläufer nicht im Römischen Kaiser, da es ihm ohnehin nicht beliebte, in seiner Heimat zu sterben? Wie würde sich jetzt die hoffärtige Wirtsfrau gebärden, die sich trägt wie unsereins, hochmütig tut, wie der Großmogul, und sich erst heute in einem ganz neuen Stoffkleide brüstete, daß es der ganzen Kirche zum Aergernis gereichte! Statt dessen haben wir nun die Schande! Geh Er, Nothhaft, sorge Er wenigstens dafür, daß der Mensch nicht von den Amtsknechten heraufgetragen werde. Ich bin des Todes, wenn der Scherge in das Stockwerk kommt, das ich bewohne.«

»Sorgen Sie nicht, werteste Frau Prinzipalin,« versetzte Nothhaft, »der Herr sind ja verblichen, wie schon viele tausend Christenmenschen, und die Ehre schneidet der Tod nicht ab. Die Herren werden ein Inventarium dressieren, und die Habseligkeiten des van den Hoecken unter Siegel verwahren, bis die Erben auszumitteln. Auch habe ich für nötig erachtet, Herr Senator, einen Postboten nach Steinstadt abzuordnen, damit der Buchhalter hereinkomme, sintemalen dero Leibesumstände denselben nicht erlauben werden, an der Spitze der Geschäfte zu bleiben.«

»Warum nicht?« fragte der Senator mühsam, aber aufbrausend. »Der Unglücksfall hat mich sehr angegriffen, aber bis zur Krankheit ist noch ein weiter Sprung. Ein Magnesiapülverchen bringt wieder alles ins Gleis.«

»Mit Gottes Hilfe!« sagte Justine, die soeben, nicht wenig erschüttert, hereinkam, und dem Senator die Kontorschlüssel übergab. Sie holte das Medikament aus der kleinen Hausapotheke, reichte es dem Vater, und fuhr fort: »Ich will gleich nach dem Doktor Widerlein schicken – was bis jetzt vergessen wurde – damit Sie wieder von dem Schrecken zurecht kommen.«

»Ich bin nicht krank,« behauptete der Senator, sich ärgerlich aufrichtend, »kein solch Geschwätze! Ich werde allen meinen Arbeiten vorstehen, wie bisher –!«

»Der Briefträger brachte soeben diese beiden Schreiben,« unterbrach ihn der süßliche Berndt, der mit den Briefen in der Hand hereinschlich.

»Geb Er her,« befahl der Senator, und winkte alsdann den Dienern sich zu entfernen. Sie gehorchten; gähnend und schmollend schloß sich Frau Jakobine, die Langeweile des Krankendienstes fürchtend, an die Subalternen an, um ohne Gefahr nach ihrem Zimmer zu gelangen. Der Senator gab aber der Tochter die Briefe, und sagte leise zu ihr: »Nimm, mein Kind; mir schwimmt und flirrt es vor den Augen. Es frommt jedoch viel, sich vor dem Kontorgesindel rüstiger zu stellen, als man ist. Dir verberge ich mich nicht. Lies du mir daher vor, und unterstütze meine Schwäche.«

Bereitwillig erbrach Justine das erste Schreiben, »Von Amsterdam!« sagte sie, und der Senator zuckte hoch auf. »Hochedelgeborener Herr!« fuhr sie lesend fort: »Ew. Edeln will ich nicht ermangeln, nach abgetaner fataler Differenz mit denen Verschreibungen Ew. Edeln in Wechselform, anzuzeigen, daß wieder bereit bin, auf Garantie des werten Freundes, der sich jetzo bei denselben befindet, in Allewege Kredit obwalten zu lassen. Wir Kaufleute stehen ja in Gottes Hand, und können wanken. Wohl dem jedoch, der einen Bürgen und Stützen findet, wie den aller Orten geachteten Herrn Birsher von Neuyork.« »Was soll das?« fuhr der Senator auf, da Justine verwundert inne hielt, »der Teufel verstehe, was der Schreiber will. Sieh nach der Unterschrift.«

Justine tat es, stutzte, wischte sich die Augen, und sagte endlich leise: »Ich weiß nicht ... aber doch steht's da – van den Hoecken heißt die Unterschrift.«

»Van den Hoecken!« schrie der Senator. »Sind wir beide toll?«

»Das Datum ist vier Tage alt,« versetzte Justine mit schwankender, zweifelhafter Stimme.

»O mein Kopf, mein Kopf!« jammerte Müssinger, die Stirne mit beiden Händen haltend, »ich werde närrisch, rasend! Laß den Brief sehen ...! Gott sei mir gnädig! es ist Hoeckens Schrift ...! O du mein lieber starker Gott und Herr!« Er weinte fast in der fürchterlichen Wallung seines heftigen Gemüts. »Dieser Brief!« stöhnte er, »und jene Wechsel, das Endossement, das Acquit – ich erinnere mich erst jetzt – von Birshers Hand ...! o mein armes Gehirn!«

»Mein Vater! was haben Sie, was ist?« fragte Justine schluchzend in der höchsten Angst. Der Senator riß ihr statt der Antwort den andern Brief aus der Hand. »Gib!« stammelte er außer sich, »gib! vielleicht macht mich dies Papier vollends wahnsinnig!« Er riß es, trotz Justinens Widerstreben, auf, überflog es mit dem starrenden Blicke ... ein krampfhaftes schreckliches Lachen erschütterte seine Brust, und mit den trostlosen Worten: »Auch das noch! Einen Tag früher, und – ich elender, elender Mensch!« sank er ohnmächtig aufs Lager zurück.

Schaudernd raffte Justine das fallende Blatt auf. In wenig Zeilen meldete darinnen ein Hamburger Korrespondent ein großes Glück. Die Hamburger Lotterie war gezogen worden, und das große Los auf den Senator gefallen.


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