Der Jesuit
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Fünfter Abschnitt. 1721.

Der Abend in Santa Dominica, – Luis und Ines. – Der Fremde, – Seine Erzählung, – Seine Erinnerungen. – Des indianischen Kindes erstes Abenteuer, – Der Morgen in der Kolonie, – Die fremden Schiffe, – Wiedersehen, – Die Jäger auf den Savannen, – Konsultador und Rektor, – Justinens Los. – Der Vorschlag des Pfarrers. – Die Nacht. – Der Ueberfall. – Die Savannen. – Das Lager der Abiponer. – Kapitän und Kapitana. – Das Opfer, – Fest des Siebengestirns. – Hilfe aus der Ferne.

Der Abend flammte purpurrot am Horizonte, den ein Kranz von schwarz aufsteigenden Wetterwolken einfaßte. Die Ebene lag von schwüler Hitze überbrütet. In dem Missionsorte Santa Dominica läutete die Glocke und auf dem Platze vor der Kirche versammelten sich, von der Arbeit in Feld und Haus gehend, die Bewohner der Mission: Männer, Weiber und Kinder in buntem Gedränge, aber mit anständigem Schweigen. Ein großer Kreis wurde geschlossen, und andächtig falteten sich alle Hände, als das Tor des Missions, Hofes aufging und der Pfarrer hervortrat, begleitet von einigen Negern, die schwere Karren, mit zerlegtem Fleische gefüllt, heranzogen, und von stämmigen indianischen Mägden, die in langen schwankenden Körben an Lianenstauden große Vorräte von Mais und Tee herbeitrugen. Der Pfarrer, eine gesunde, obgleich siebzigjährige Gestalt, begab sich würdevoll in die Mitte seiner Pfarrkinder und sagte: »So ist denn wieder mit Gottes, des Ewigen, Hilfe ein mühevoller Tag der Arbeit und des Fleißes zurückgelegt. Der wackere Mann, euer Corregidor, meine Kinder, hat mir den erfreulichsten Bericht über euer Streben abgestattet; und neben dir, du guter Juan Bosco« – der genannte Indianer bückte sich geschmeichelt und demütig – »der unsere große Caamiripflanzung so vortrefflich zu bewässern unternommen hat, habe ich alle übrige zu loben, mit Ausnahme eines einzigen, dessen ich leider mit verdientem Tadel gedenken muß.«

Die Leute sahen sich ernsthaft und verwundert an; aber ohne den Aufruf abzuwarten, trat einer aus dem Volke, ein rüstiger junger Mann hervor und kniete mit betrübter Miene nieder, indem er ausrief: »Ach, Vater Luis! vergebt doch ja, und auch der gute Vater über dem Himmel vergebe mir! Ich habe gesündigt; ich habe im Zorne meine Nachbarin, die gute Kordula, verwünscht, und Unkraut in ihren Acker geflucht. Ich bekenne meinen Fehltritt und will ihn nie wieder tun!«

»Recht, Francisco,« versetzte der Pfarrer, »du hast die Liebe des Nächsten und Gottes Langmut und Fürsicht beleidigt; ein schweres Vergehen. Laß sehen, ob Kordula die Pflichten einer wahren Christin besser versteht. Tritt hervor, du beleidigte Nachbarin des reuigen Francisco und sage, was, nach deinem Wunsche, dem Beleidiger geschehen soll?«

Kordula hatte Tränen im Auge und antwortete, ohne sich zu besinnen: »Tut ihm nichts zuleide, lieber Vater. Ich vergebe ihm von Herzen!«

Der Pfarrer sah sich vergnügt im Kreise um, nickte der Rednerin Beifall, berührte dann das Haupt des Reuigen und sagte sehr sanft: »Hast du's gehört, Francisco? So geh' denn um ihretwillen straflos hin in deine Hütte, faste heute, und schäme dich, damit du morgen ein anderer Mensch seist!« Der Getadelte küßte inbrünstig des Pfarrers Hand und entfernte sich mit gebeugtem Haupte und zufriedenem Herzen. »Seht ihr?« fuhr der Geistliche freudig zu dem lauschenden Volte fort, »seht ihr, wie viel es wert ist, daß ihr den wahren Gott und Heiland erkennen lerntet? Was ehedem unter euch nur die Schleuder oder der rachsüchtige Pfeil entschied, schlichtet nun ein Wort des Friedens. So kommt denn heran, ihr Fleißigen, ihr Milden, ihr Müden! Esset von dem Brote, das der Herr unter euern Händen wachsen läßt; von dem nährenden Fleische, und trinket den Trank der Gesundheit, damit ihr den Herrn noch lange preiset und lobet!«

Nun setzte sich die Menge in Bewegung, schritt in Doppelpaaren an dem Pfarrer vorüber, empfing aus der Wage seiner Begleiter, Familie für Familie, Fleisch, Mais und die ersehnte Unze Tee; dann sprach der Geistliche den Segen; das Volk antwortete mit einem melodischen Kirchenliede und zerstreute sich in seine stillen Hütten, um das Mahl zu bereiten, und auf der bequemen Ochsenhaut die Mühen des Tages und das herannahende Gewitter zu vergessen. Der Pfarrer beschäftigte sich noch eine Weile damit, dem Regidor und dem Alkalden der Mission die Arbeiten und Verhaltungsregeln für den nächsten Tag aufzugeben, und zog sich sodann in den Hof seines Hauses zurück. Das mannigfaltige Federvieh, das diesen Hof belebte, hatte sich vor dem in der Ferne brausenden Gewitter in die Ställe geflüchtet. Der zahme Straußvogel des Pfarrhauses allein ging stolz und aufgerichteten Hauptes mit gewöhnlicher Gravität auf dem zierlich gestampften Platze umher und lüftete die Flügel dem streichenden Luftzuge entgegen. Der Pater streichelte seine wehenden Federn und sagte lachend zu ihm: »Du mein guter Freund und Haustrabant, kannst du mir nicht verraten, wo dein Spielgefährte ist, der heute so undankbar mein Haus verließ?«

Der Vogel schien altklug die langen Augenbrauen in die Höhe zu ziehen; da erklang von Ferne ein silberner Glöckchenton. Ein leichter Trab, dem ein schwerer folgte, kam jenseits der Rohrwand, die den Hof umgab, heran. Ein schlanker Rehkopf sah über die Wand; die Türe in derselben sprang unter der Pfote des Tieres auf; es trabte freudig hindurch, mit schellenden Halsbandglocken, und kauerte sich zu des Pfarrers Füßen, als ob es seines Ungehorsams wegen Vergebung betteln wollte. Der Pater, angenehm überrascht, bückte sich, den schmalen, grauroten Hals zu streicheln, als auch ein Pferd mit einer hübschen Reiterin durchs Tor stürmte. »Ines! Ines!« rief der Pfarrer, gutmütig verweisend und mit dem Finger drohend. Ines sprang jedoch, leicht wie eine Feder, von dem Pferde und jagte es mit einem Schlage ihrer Gerte wieder ins Freie zurück. »Lauf, du wilder Negro!« rief sie, ein wenig atemlos, indem sie die Türe zuwarf und mit dem hölzernen Riegel verschloß, »du hast deine Schuldigkeit getan. Suche den Weg nach deiner Weide, ehe der Blitz kömmt!« Dann näherte sie sich etwas schüchtern dem Geistlichen, senkte den Kopf und fragte freundlich: »Habe ich dir Angst gemacht, lieber Vater? Ich mußte dir ja den Liebling wieder bringen. Das leichtsinnige Tier, verspielt und possenhaft wie es ist, hatte sich gewiß schäkernd von der Rinderherde entfernt und in den Wald verlaufen. Es dauerte lange, bis das faule Reh, im Schatten rastend, meinen Ruf und ich seine Schellen vernahm. Ich meinte fast, ein Tiger hätte sich seiner bemächtigt. Doch endlich, die Jungfrau sei gelobt, kann ich dir's wiederbringen, Vater Luis!«

»Und gehst von Hause, ohne zu sagen wohin?« versetzte der Pfarrer gekränkt, »und setzest dich selbst, in Waldschluchten dringend, dem Tiger, durch stille Wasser reitend, dem Krokodil aus, du böses, unbesonnenes Kind? Glaubst du vielleicht, ich sei dem Rehe in höherem Grade gut, als dir? Habe ich dich nicht von zarten Kindesbeinen an gepflegt und gewartet? Habe ich dich nicht getauft und somit zum zweitenmal und edler geboren, als deine Mutter es getan?«

Ines ergriff schmeichelnd des Pfarrers Hand und küßte sie. Er dankte ihr nun für den Liebesdienst und fügte bei: »Ich habe verziehen! Sieh zu, wie du mit dem grämlichen Strutto, dem Dragonervogel fertig wirst, der heute die neckende Spielgefährtin sehr verdrießlich vermißte.«

Ines klopfte schäkernd die Brust des großen Vogels und sagte hierauf: »Ich will's einbringen, guter Bursche. Schlüpfe indessen nur in die Scheuer. Die Wolken kommen wild und schwarz über die Parana her, und die fernen Berge hängen voll Nebel. Fort, Gejenk

Der Strauß trabte ruhig nach der Scheune, die hinter ihm verriegelt wurde. Das Reh folgte dem Herrn in die Hausflur. Ines zog die Laden an den Fenstern zu und sagte indessen, bedächtig innehaltend: »Wenn nur der Fremde noch ankömmt, bevor das Wetter losbricht. Es wird einen fürchterlichen Sturm geben.«

»Welcher Fremde, Ines?«

Das Mädchen lächelte verlegen. »Er scheint mir kaum ein Spanier zu sein,« sagte es alsdann und seine bräunliche Wange rötete sich merklich, »er spricht nicht so gut spanisch wie wir. Ich begegnete ihm draußen an den Tabaksfeldern; ich holte ihn nämlich ein, im Heimkehren begriffen. Der arme junge Mann saß traurig bei seinem Pferde, das im Niederstürzen sich den Fuß verstaucht hatte. Freilich war der Herr unklug, daß er nicht, wie unsere Leute, einige Pferde auffing oder mit sich nahm; indessen hatte ich doch Mitleid, und wahrlich, hätte ich nicht dem schnellen Reh zu folgen gehabt, mein eigen Pferd hätte ich dem jungen hübschen Herrn abgetreten. Er fragte, ob er nach Santa Dominica komme, wenn er weiter ginge, und ich bejahte es, und wies ihn an die Ochsenfänger, die sich in weiter Ferne und im Staube sehen ließen. Sie werden ihn wohl auf ein Pferd genommen haben und mit ihm auf dem Wege sein. Eilen sie jedoch nicht, so ist der Sturm viel schneller als sie.«

Ein dunkelroter Strahl, der aus den Wolken fuhr und von einem grellen Wetterschlage begleitet wurde, bekräftigte die Furcht der Indianerin. Aber zu gleicher Zeit ließ sich aus der Ferne, vom Eingänge der Mission kommend, das Geschrei und Getümmel der heimkehrenden Horde vernehmen, die in den Savannen gewesen war, um Ochsen zu fangen, zu schlachten, zu häuten.

»Sie kommen!« rief Ines, zufrieden gestellt und ging nach der Haustüre, durch die Ritze zu lauschen.

»Hätte ich doch beinahe meines Gasts vergessen!« sagte inzwischen der Pfarrer zu sich selbst, mit einem ungeheuchelten Vorwurfe, »wie zerstreut doch das Alter macht; absonderlich, wenn man sich eines wiedergefundenen Kindes und dessen Geschwätzes erfreut!« Er trat an die kleine Stiege und rief hinan: »Pater Xaver! Pater Xaver! nicht zu Hause?«

Keine Antwort. Der Pfarrer warf geschäftig seinen Regenmantel über, stülpte den Rohrhut mit den beiden wasserdichten Krempen auf und schritt, so schnell es anging, nach dem kleinen Gärtchen vor, das zwischen Hof und Ackerfeld gelegen, den Hinterteil des Gebäudes begrenzte. Unter dem Stamme einer mächtigen Algarova ruhte der Gesuchte, vor sich hinstarrend in die Sturm brauende Luft, horchend auf das Wellenschlägen der unfern strömenden Parana, versunken in den Anblick der zum Schrecken sich rüstenden Natur, ohne vor ihr zu zittern; fühllosen Körpers, unbewußten Geistes. Die Stimme des Pfarrers rief ihn zum klaren Bewußtsein zurück. Er sah sich um und fragte: »Was wollen Sie, mein Freund?«

»Was wollen denn Sie beginnen, frage ich,« versetzte Luis. »Der Wind beugt schon um und um die Palmen nieder und Sie wollen ihm trotzen? Kommen Sie ins Haus. Beunruhigen Sie mich nicht.«

Der Gedankenvolle stand mechanisch auf. »Ich gehorche,« sagte er, »ob es mir gleich lieber wäre, von dem Wetterwinde in die Heide, wo der Tiger streift, oder in die Wellen des Strom« getragen zu werden.«

»Welche Reden für einen Christen und einen Geistlichen!« verwies ihm Pater Luis sanft und ernst, »lassen Sie Ihren Beichtvater dergleichen nicht zum zweitenmal hören!«

»Ich redete ehedem wie Sie, mein Vater!« antwortete der Gast, »aber seit acht Tagen hat sich so viele« anders gemacht.«

»Gottes Schickung!« tröstete der Pfarrer, »halten Sie darauf, Pater Xaver, und kommen Sie herein. Ihre Mietreiter kommen zurück, und nach ihrem Geschrei zu urteilen, muß der Fang beträchtlich gewesen sein; wir wollen die Häute im Magazine unterbringen.«

Die Aussicht auf das Geschäft war dem trüben Gaste willkommen. Die Pforten des Lagerhauses, dieser Vorratskammer für die ganze Niederlassung, wurden aufgeriegelt. Die heimkommenden Indianer sprengten in bunter Reihe heran, warfen ihre Ladung von Fellen zum Boden nieder und rannten von dannen, dem Gewitter zu entkommen. Auf so unordentliche Weise war die Beute bald niedergelegt, und Pater Xaver stand berechnend zusammen mit dem Anführer der Expedition in die Savannen, als noch ein Nachzüglertrupp von Reitern kam, deren Pferde schwer bepackt waren, und von welchen einer zweimännisch auf dem Gaule saß. Die wilden Jäger warfen sich erst unter Dach und Fach von den Tieren, denn draußen fiel der Regen dicht, und der Hintermann des Doppelreiters stürzte mit Jubelgeschrei an Xavers Brust. Dieser konnte sich des Andrangs nicht erwehren, doch ebensowenig den in einen verstellenden Indiermantel von Palmblätterzeug Gewickelten alsobald erkennen, bis dieser den Mantel fallen ließ, die Haare aus dem Gesichte strich und dem Ueberraschten den Ausruf entpreßte: »James! James! wie kömmst du hieher? Welch ein Gottesengel führt dich in meine Verbannung?«

James weinte einen Strom von Tränen an des Pflegevaters Halse und konnte nicht sprechen, nur schluchzen, nur seufzen, nur hellauf weinen, bis Pater Luis beide bei den Händen ergriff und nach dem Innern des Hauses führte. »Euer Gefühl ist für die Neugierde der Stierschlächter zu gut!« sprach er, »weint und sprecht euch hier aus, meine Freunde, denn die Einsamkeit ist sowohl für die, die da klagen, als für die, die sich im Herzen freuen!«

Er verließ, bescheiden und schweigend, die eng Umarmten. Sie vergaßen des brüllenden Donners, des tobenden Regens, des bebenden Hauses, das unter Sturmesgewalt zu weichen drohte. Münzner konnte sich am Gesichte seines Pflegesohns nicht satt sehen, und tausendmal wiederholte er die einfachen Worte: »Du hier mein Sohn? Du hier guter James!« ehe es ihm einmal einfiel, nach der Art und Weise, wie alles sich zugetragen, zu fragen. Endlich geschah es doch.

James erwiderte: »Da Sie geschieden waren, konnte ich dem Superior nicht folgen. Ich konnte nicht. Ich rettete jedoch den Senator!«

»Ich weiß mein Sohn. Die Tat war brav und würdig. Aber, was du ihr geopfert ... das zerriß mein Herz, da ich's erfuhr!«

»Gott führt uns auf allen Wegen,« versetzte James, »nur auf diese Weise konnte mir's gelingen, Justine aus Angst und Gefahr zu erretten.«

»Du hast's getan?« fragte Münzner überrascht, »das ist mehr, als ich gehofft. Ich glaubte sie unter Protestanten auf ewig und auf immer verloren!«

»Nicht doch, mein Vater!« fuhr James fort und erzählte von Justinens Abenteuern auf dem Turme, von ihrem zufälligen Wiederfinden, von dem Entschlusse, sie von der Gefahr, die ihr die Lainez und der Türmer bereiteten, zu befreien.

»Ich liebte das Mädchen,« sagte er mit schwärmerischem und wehmütigem Feuer, »ich glaubte damals, von Justine geliebt zu sein. Mit welchem Auge konnte ich ihre Lage ansehen? sie in des Superiors Händen? sie in einem Kloster? während ich in meiner Unbesonnenheit den Augenblick schon nahe träumte, wo ich als geachteter Offizier um ihre Hand würde werben können? ich trug erst seit zwei Tagen die Uniform des Gemeinen; meine Einbildungskraft war Jahrzehnte vorausgeeilt, und ich wollte lieber die freie Justine fern von mir, in einem andern Weltteile wissen, als auf ewig gefesselt in meiner Nähe. Ich ging ans Werk. Ich sann. Aber, die Möglichkeit? ich hatte nicht Freunde, nicht Bekannte. Die Uniform schützte mich nur, daß man nicht in mir die rechte Hand des Doktors Leupold entdeckte, über dessen wahren Beruf man aufs reine gekommen war. Ich durfte mich nirgends bloß geben. Ich hatte kein Geld, den Hebel aller Dinge. Je zuversichtlicher ich an meinen Plan gegangen war, je niedergeschlagener wurde ich, da endlich die Unzulänglichkeit meiner Kräfte sich mir nicht verhehlen konnte. Indessen hatte ich mein Wort gegeben, und mehr als das Wort fesselte mich die Leidenschaft. Ich geriet auf den abenteuerlichsten Gedanken. Der Werbkapitän war am vorigen Tage angekommen; ein Franzose, leicht und gefällig im Benehmen; ein feiner Mann, der unter den Neuangeworbenen gerade mich zu seinem Bedienten wählte, weil er in mir eine bessere Bildung entdeckte; weil ich ihm gefiel. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ... ich glaubte in dem Betragen des Mannes eine gewisse Ritterlichkeit zu verspüren; ich faßte mir ein Herz; ich sprach mit ihm ungefähr so, wie in Balladen und Romanen der dienstfertige Zwerg zum Paladin redet, den er zur Rettung einer im Turme des Riesen gefangenen Dame aufzufordern gedenkt. Zum Glück fand auch der Kapitän die Sache artig und seltsam genug. Ein niedliches Mädchen befreien, dessen Rettung ich ganz seiner Macht und Großmut allein anheimstellte – das reizte ihn. Er ahnte nicht den Zusammenhang, den mein Herz mit der Geschichte hatte. Er sah vielleicht ein galantes Abenteuer in der Ferne. Mir alles gleichviel, weil er nur zusagte. Litzach brachte die Botschaft auf den Turm. Wir warteten um die zehnte Stunde der Nacht unfern des Turms mit Wagen und Pferd. Ein ärgerliches Zwischenspiel hätte uns beinahe alles verdorben. Das Unglück will, daß in derselben Nacht ein Ohrenbläser dem Bürgermeister die Anzeige macht, daß auch Pahlens zu der entlarvten Sekte gehört. Es wird Wache abgeschickt, den Türmer einzuziehen und nachzusuchen, ob er nicht Freunde auf dem Turme verborgen. Das Unglück will, daß Justine, ihrer List und dem günstigen Augenblicke vertrauend, vom Turme herniedersteigend, beinahe in die Hände der Wächter fällt. Ihr guter Geist bedeckt sie indessen schützend mit seinen Flügeln, wie auch die Lainez, die noch Zeit findet, sich oben zu verbergen und der oberflächlichen Nachsuchung der Soldaten zu entgehen. Pahlens wird fortgeschleppt; der sogenannte Zehnerwächter bleibt an seiner Statt im Turme; verschließt alles sorgfältig, steigt in die Höhe, und indem sein Laternchen immer schwächer durch die Fenster des Turmes strahlt, verglimmt in uns Harrenden auch jede Hoffnung, unsere schöne Schutzbefohlene zu retten. Es war indessen anders beschlossen. Die Lainez, in ihrem Versteck beinahe verzweifelnd, sich allein und verlassen sehend, von der Morgenröte ihr Verderben fürchtend, faßt einen kecken Entschluß, der Französin würdig. Behutsam wagte sie sich in der dunkeln Nacht an das Zimmer des Türmers. Der Wächter, das Branntweinglas vor sich, wendet halb trunken und nickend der Türe seinen Rücken und spielt mit dem Hunde. Der Schlüssel des Turmes liegt auf dem Tische. Auf dem Trompetergänglein an der Plattform steht das Laternchen brennend, zum Elfergang gerichtet. Wie ein Schatten schwebt die Lainez durch die halb offene Zimmertüre. Der Hund knurrt; sein Herr gibt ihm Schläge, denkt aber nicht daran, sich umzusehen. In einem Augenblicke nimmt die mutige Frau den Schlüssel leise weg, entflieht so stille, als sie kann, ergreift die Laterne und eilte wie ein Wirbelwind über die Treppen. Auf der Hälfte des Weges schreckt sie ein Geräusch. Unterdrückte Seufzer – leise Klagen bringen aus dem Gange der Glockenstube an ihr Ohr. Entschlossen stößt sie die Türe auf. Justine richtet sich eben hinter derselben aus einer Ohnmacht auf. Die Lainez fühlt das heftigste Mitleid für die Geisterbleiche. Ohne Rat, ohne Hilfe, ohne Aufsicht, nur dem Augenblicke und dem Triebe nach Freiheit gehorchend, unterstützt sie die Ermattete, führt sie schnell hinab ... die Türe klingt ... öffnet sich ... Justine stürzt ins Freie, die Lainez folgt, sperrt wieder vorsichtig die Pforte und der Wagen rollt, da wir weiße Gewänder durch die Finsternis sahen, geschwinde herbei. »Das sind zwei Damen?« flüsterte mir der Kapitän zu, »ich hatte aber nur Augen für Justine, die sich, wie ein Kind, vertraulich auf meine Schulter stützte, als ich sie in den Wagen hob. Die Lainez, unwissend und über diese Vorbereitungen verwundert, folgte nicht minder. Der Kapitän bedeckte die schönen Flüchtigen mit seinem weichen Mantel, befahl dem Reiter auf dem Bocke, scharf zu fahren und behielt mich neben sich auf dem Rücksitze. »Du begleitest mich zur ersten Station,« sagte er, »von dort kehrst du mit dem Wagen zurück und ich bringe die Damen noch eine Strecke weiter, erwarte dich mit meinem Pferde. Ich werde dir Nachricht hinterlassen.« Nun fühlte ich erst die Schwere der Subordination. Es galt aber Justine, und ich schwieg geduldig. Ohne Aufenthalt gelangten wir unterm Schutze des Kapitäns durch das Tor und fuhren stracklich weg. Die Damen schliefen oder stellten sich schlafend. Wir sprachen nur abgerissene Worte, Noch war der Tag nicht angebrochen, als wir hielten. Ein elendes Wirtshaus nahm uns auf. Hier sollte gefrühstückt werden. Hier löste sich alles. Die Lampe des Wirts beleuchtete unsere Züge. »Alle Donner!« rief der Kapitän, »ist das nicht Madame Lainez? wie kommen Sie hierher, meine Schöne?« – die Lainez glaubte in die Erde sinken zu müssen. »Das Abenteuer nimmt eine üble Wendung,« sagte der Kapitän hierauf halb lachend, halb bitter zu mir, »die eine (Justine), die mir gefällt, wird von dir mit verliebten und argwöhnischen Blicken gehütet, und die andere ... beim heiligen Georg! 's ist meine Frau!«

Die Lainez weinte heiße Tränen. Justine staunte, ich nicht minder.

»Ei, Madame!« fuhr der Kapitän fort, »wie erging es Ihnen, seit wir uns trennten? und erinnerten Sie sich nicht, daß wir uns heilig zusagten, uns nie wieder zu sehen? Ich gestehe, daß nur der Zufall diese Rencontre herbeigeführt, aber es ist doch ein verdrießlicher Zufall. Mußte mich ein Duell aus Frankreich verjagen und unter meinem Kadettnamen in fremden Diensten nach Deutschland führen, damit ich Sie, meine Scharmante, wiederfände? Genug, keinen Augenblick mehr mit Ihnen!« Er sprang empor, ich hielt ihn auf. »Was soll aus den Frauen werden?« fragte ich für Justine besorgt. »Sollen wir sie ohne Schutz, ohne Führer hier auf der Straße nach Amsterdam lassen? Vollenden Sie Ihr Werk, Herr Kapitän, wie ein echter Edelmann.« – »Eben deshalb!« antwortete er frivol, »ich habe mein heiligstes Wort verpfändet, nie mehr mit dieser Dame, die einst die Meinige war, zusammen zu weilen; nicht eine Stunde, nicht eine Viertelstunde, und ein Edelmann hält sein Wort. Darum, wenn Mademoiselle sich mir nicht allein anvertrauen und das intrigante Weib hier ihrem guten Glücke überlassen will, so lasse ich die Partie unbeendigt.« Justine weigerte sich nun aufs heftigste, die Lainez zu verlassen, die sie in ihrer Ohnmacht nicht verlassen hatte; weigerte sich, mit dem Kapitän die Reise fortzusetzen, »Pardieu!« sagte endlich der leichtsinnige Franzose, dem es in seiner Gattin Nähe sehr bange und unfriedlich zu werden schien, »so weiß ich kein Mittel, als Ihnen, meine Schöne, einen geliebtern Stellvertreter beizugesellen. Monsieur Leblanc,« wendete er sich mit scherzender Liebenswürdigkeit zu mir, »Sie sind ein galant, homme, der in den groben Rock nicht paßt. Kraft der Gewalt, die ich in meinem Depot ausübe, schenke ich Ihnen die Freiheit und werde Ihre Ranzion gegen meinen Fürsten bestreiten. Vollenden Sie dafür meine Ritterpflicht gegen Mademoiselle. Ihre Herzen stimmen überein, und mein Auge hat mich nicht getäuscht. Führen Sie jedoch nicht minder Madame Lainez recht weit, in Regionen hinweg, wo sie recht glücklich sei; so unaussprechlich glücklich, daß es ihr nie wieder einfalle, heimzukehren, und ihren Gatten so empfindlich zu erschrecken.« Meinem Dank, so wie dem Jammer, den die Lainez anhob, zu entweichen, warf er sich in den Wagen und ließ mir eine Börse zur Fortsetzung der Reise zurück, die ich nur annahm, weil ich Justine von jedem Hilfsmittel entblößt und den Senator zu Amsterdam glaubte. Dieser würde unfehlbar die Ehrenschuld sogleich getilgt haben! Aber ... nun weiter. Was übrig bleibt, ist wenig. Wir setzten die Reise mit Eilpferden fort. Justine verklärte sich in der Hoffnung, den geliebten Vater wieder zu umarmen. Die Lainez weinte in einer Stunde eine Sintflut, trocknete sie in der andern, verwünschte in der dritten ihren Mann und seine Unverträglichkeit, lachte in der vierten herzlich über die unvermutete Ueberraschung und schwor endlich, leichtsinnig und vogelfrei gegeben, Justine nicht zu verlassen, bis der Senator gefunden sei. Justine hegte ein stilles Mißtrauen gegen mich, das mich kränkte, denn nie war ich ihr redlicher ergeben, als gerade jetzt. Wir gelangten nach Amsterdam. Nicht Sie, nicht der Senator waren mehr zugegen. Das Schiff des Tormerpick hatte Sie schon hinweggetragen. Van den Hoecken gab mir den lakonischen Brief des Senators, in dem es nur hieß, zu Assumption in Paraguay erwartet der Vater seine Tochter! Diese neun Worte belebten Justine mit dem erstaunlichsten Mut, der sowohl die Lainez als mich dem Mädchen dienstbar und unbedingt gehorsam machte. Wir betrieben unsere Abreise. Wir bestiegen das Schiff, wir befuhren die Meere. Aber je klarer die See unter uns, je heiterer über uns der Himmel wurde, je trüber wurde meine Seele. Der Amerikaner hat mich getäuscht, meine Leidenschaft hat mich getäuscht, alle Hoffnungen der Sehnsucht haben mich betrogen. Justine ... liebt mich nicht. Sie trägt mein Bild nicht in ihrem Herzen, nicht an ihrem Halse. Mein Leben ist verloren. Ich habe mich dem edeln Geschöpfe unwürdig, falsch gezeigt; ich fühle es, sie kann mir nicht vergeben, kann mich nur dulden, nicht achten, nicht lieben. Nichts mehr davon, das sei tot und ab. Ich habe mich ausgeweint, stand ich in verschleierter Nacht auf dem Verdeck des Schiffs, wo mich die Wache duldete. Ich habe den flammenden Sternen mein Leid geklagt, ich habe es den ziehenden Wolken mitgegeben, und in mancher Nacht, wann der gespenstische Holländer auf seinem Nebelschiff durch die graupige Luft sauste, daß den abergläubischen Matrosen das Haar zu Berge stand, einen härtern Kampf gekämpft, als jenes Luftgespenst mit seinen weißen Wolken. 's ist nun vorüber, und ich will Ihnen nur kurz erzählen, daß wir auf der Reede zu Buenos-Ayres Anker warfen, daß wir den mächtigen Silber- und Paraguayfluß heraufschifften, und unfern von Dios Padre mit einigen Geistlichen und ihrem Gefolge zusammentrafen, die sich ebenfalls den Fluß heraufbegaben. Der eine von ihnen ist ein vornehmer Geistlicher Ihres Ordens aus Cordova, der andere Rektor des Kollegiums zu Assumption. Sie gesellten sich zu uns; ihre Ruderer sind zahlreicher als die unserigen, geschickter und gehorsamer. Sie erfuhren unsere Namen bald und der Rektor erzählte hierauf von Ihnen und dem Senator, daß Sie beide nach der Doktrina Santa Dominica abgegangen; Sie, um eine Handelslieferung zu bewerkstelligen; der Senator, um seine angegriffene Gesundheit wieder herzustellen. Diese Nachricht beunruhigte Justine und verdoppelte ihre Begierde, schneller fortzukommen, den Vater eher zu sehen. Der Zufall will, daß die Väter Jesuiten ebenfalls hierher ihre Reise richten. Wir blieben daher auf der Parana auch beisammen, und ich flog auf einem raschen Pferde voraus, unsere Ankunft anzusagen und den Senator vorzubereiten, damit die unvermutete Freude seiner geschwächten Gesundheit nicht schade. Morgen, spätestens zu Mittage kommen die Freunde nach, um die Gastfreundschaft von Santa Dominica anzusprechen.«

»Ich heiße sie im voraus, und im Namen meines freundlichen Wirts, willkommen,« sagte Münzner mit niedergeschlagenen Augen und zögerndem Tone, »nur schade, daß gerade in diesem, so fröhlichen Augenblicke, der gute Senator nicht zugegen sein kann.«

»Nicht, mein Vater? Wo ist er?«

»Er hat einen Streifgang in das Land gemacht,« fuhr der Jesuit fort, »wir erwarten ihn bald zurück, und dann...«

»Einen Gang in das Land, mein Vater? ein kranker Mann? wie konnte er's wagen?...«

»Tief im Lande träufelt aus einem Baume, den sie Anguay nennen, ein köstlicher Balsam, der an der schwächsten Brust Wunder tun soll. Dieser Balsam muß zur jetzigen Jahreszeit gewonnen und sogleich an Ort und Stelle gereinigt und gebraucht werden. Dies Heilmittel aufzusuchen, entfernte sich der Senator.«

»Und Sie begleiteten ihn nicht, mein Vater?... Verhehlen Sie mir auch nichts?«

»Ich belüge dich nicht,« erwiderte Münzner scharf und ungeduldig, sich von ihm wendend; dann trat er besänftigter zu dem Jüngling, reichte ihm die Hand und sagte: »Laß uns von etwas anderem reden, von etwas Erfreulicherem; von deiner Ankunft, und immer wieder von deiner Ankunft. Sieh, hierzulande fließt das Blut selbst in den Adern alter Leute rascher als drüben. Man braust leicht auf, man liebt aber wärmer, man freut sich lebendiger. Wirst du denn meine Freude vervollständigen? Wirst du hier das Gelübde erfüllen, das dich in Europa anwiderte? Tu' es hier! hier hast du die schönsten Werke der Gesellschaft vor Augen.«

»Muß denn diese Frage in der ersten Stunde meines Empfangs aus Ihrem Munde gehen?« fragte James sanft, aber gekränkt.

»Ich schweige,« versetzte Münzner mit einem Seufzer; »wohl dir jedoch, mein Sohn, wenn nur mein Mund ferner diese Frage an dich richtet. Doch, sieh!« fügte ei hinzu, »die Luft ist wieder hell geworden. In diesen gelobten Ländern reinigt das wohltätige Gewitter in kurzer Zeit den Luftkreis. Der Abend ist wieder still und herrlich und gewürzig duften alle Blumen und Büsche um uns her. Werde auch du ruhig, mein Sohn. Ich gehe, unsern ehrwürdigen Wirt auf den Besuch vorzubereiten, der ihm werden soll. Wir erwarten dich in dem kühlen Vorplatze.«

Münzner entfernte sich. James lehnte sich an eine Fensterluke, sah in den Hof. Der Empfang im Pfarrhause schien ihm rätselhaft; sein Wohltäter um vieles verändert. Nicht die Züge allein, die in zehn Monden um so viel Jahre älter geworden waren, was eine Folge der Himmelstrichsveränderung sein konnte ... sein Wesen war anders geworden. Nicht mehr jene ruhige Bestimmtheit, jenes klare Streben, jener einfache Gleichmut – Eigenschaften, die ihn vor vielen ausgezeichnet hatten – eine trübe Strenge, ein tiefsinniges Brüten lag auf Stirne und Schulter des Mannes, daß die erstere sich faltete, wie im Kummer, daß die letztere sich beugte, wie im Joch. James sah auf zu dem Himmel, der ein anderer und dennoch derselbe war, wie der, unter dem er geboren; er sah auf Häuser und Felder, die so ganz verschieden von den europäischen waren, und doch eben nicht anders als diese; und mitten unter diesen fremdartigen und doch bekannten Dingen und Gegenständen kam er sich so einsam, so fremd, so unbekannt vor ... so verlassen! Schon flirrte die Dämmerung, früh einbrechend, um ihn. Ein schlankes Mädchen in der einfachen reizvollen Tracht jenes Landes schritt durch den Hof, nach dem Lusthäuschen im Garten, das, sich an den Johannisbrotbaum und die nachbarlichen Wachspalmen lehnend, aus engen, gegen Fliegenbesuch schützenden Gittern von Rohr erbaut, ein erquickendes Plätzchen in der Kühle gewährte. Der Tisch wurde darin zum Tee bereitet, und James, der lieblichen Gestalt folgend, die mit einer wohlverwahrten Glaslampe zuletzt nach der Laube ging, überraschte sie bei der Vollendung ihres Geschäfts.

»Ach, sieh doch!« sagte er, »meine schöne Helferin! Kennst du mich noch, mein Kind? Dein Wort gab mir Trost, als ich ratlos am Wege saß!«

»Gott hilft immer!« versetzte das Mädchen, ihn mit kindlicher Ruhe betrachtend.

»Durch seine Engel!« fügte James seufzend hinzu und setzte bei, »die herrliche Blüte, die deine Brust schmückt, wie nennt man sie?«

»Die goldne Mondblüte!« antwortete das Mädchen und reichte sie ihm unbefangen hin, »wollt Ihr sie Herr?«

James nahm die Blüte zögernd. »Du gibst einen schönen Schmuck weg, mein Kind, der dich besser ziert, als selbst das glänzendgelbe Glaskorallenband um deinen Hals.«

»Das ist nicht Glas, Herr!« versetzte das Mädchen ernsthaft und unterrichtend, »das ist der Balsam, der aus einem Baume fließt, weit, weit von hier, den ich aber nicht zu nennen weiß.«

»Wolltest du mir wohl deinen Namen sagen?« fragte James weiter.

»Warum nicht, Herr? Ich heiße Ines. So bin ich getauft, und Vater Luis hat mich selbst getauft, damit ich zum lieben Herrn im Himmel komme.«

»Du Unschuldige! Wie alt bist du, gute Ines?«

»Seit ich hier bin, hat die Algarova zwölfmal geblüht, und im Walde erinnere ich mich, sie dreimal in der Blume gesehen zu haben.«

»Im Walde, Kind?«

»Ich bin darin geboren, Herr, ein wildes Kind, von Wilden.«

»Ja, wild bist du, meine Ines. Wie du auf dem schnaubenden Pferde dahersprengtest und an mir vorüberjagtest ... mir bangte für dich.«

Ines lachte. »Seid ruhig,« sagte sie, »ich halte mich fest, und das Pferd, das eine Mähne trägt, wirft mich nicht ab. Meine Landsleute sind fürs Pferd geboren.«

»Deine Landsleute?«

»Ja; die Abiponer, Herr! Der Vater setzte mich stets vorn auf seines Tieres Hals, und auch die Mutter saß zu Pferde. Ich entsinne mich dessen noch gar wohl. Wie ich von meinem Volke kam, ist mir viel dunkler geblieben. Ich schlief, Herr. Neben der Mutter schlief ich auf der Matte und es war alles Nacht und dunkel um uns her, als wir uns niederlegten. Es waren viele Leute und viele Pferde, die um uns her im Kreise standen, und die Feuer ließ man ausgehen, weil die Sterne so herrlich am Himmel glitzerten. Das weiß ich noch gar gut; denn nimmer habe ich seither einen so großen, weitgespannten Himmel gesehen, wie dazumal. Wir schliefen also und mit einem Male donnerte es, daß ich hell aufwachte. Ich sah recht vieles um mich her: Feuer und Dampf; Blitze und Reiter. Die Mutter war auch zu Pferde und ich hing in einem Sacke von Fellen an ihrem Sattel hernieder. Das Pferd rannte fort und plötzlich ... wachte ich wieder auf, und sah nicht mehr das Pferd, und nicht mehr die Mutter, sondern ich lag in einem kleinen grünen Walde, wie in einem Korbe, und die seinen Spitzen des Waldes gingen hoch über mir, wie ein lichtes Dach zusammen. Die Sonne schien sanft und gelb hindurch und ein leichter Wind bewegte das Dach, daß es sich abwechselnd aufschloß, um mir in aller Höhe den blauen Himmel zu zeigen, bald sich wieder zutat, mich in die grüne Einsamkeit zu versenken. Ich schrie, trotz meinem Behagen, denn die Mutter fehlte mir. Da raschelte es seitwärts neben mir, und durch die Halme des Waldes streckte sich ein neugieriger beweglicher Kopf von einem wunderschönen Tiere, gefleckt, gestreift, in allen Farben glänzend, und ich wußte damals nicht, daß eine böse Schlange mich ansah, und streckte ihr spielend die Hände entgegen. Der Kopf zitterte, als ob er zaudernd witterte, immer näher, erreichte mich fast und fuhr dann plötzlich zurück, mit einem pfeifenden Schrei. Ein großer Schlangenleib warf durch diese Bewegung eine seiner Windungen auf meinen Leib, riß sich indessen schnell und kräftig ins Grüne und verschwand wie ein Pfeil. Dafür kamen andere Gäste lärmend und brüllend einhergejagt, wie ein Sturm, und mit einem Male sah ich über die Spitzen des Waldes ein breites gehörntes Haupt herniederschauen. Ich glaubte die Herde des Vaters in der Nähe und schrie so laut, als der Stier brüllte, und – nicht lange, so stand ein dichter Kreis von solchen Tieren um mich herum und glotzte mich hilfloses Kind an, das sich an einer Staude emporrichtete und furchtsam die unbeweglichen Tiere betrachtete. Da fand mich der Ochsenhirte von Rosario, hob mich auf und brachte mich dem guten Pater Luis, der mein Vater wurde, weil Gott mir die Eltern genommen, damit ich sein eigen Kind werden sollte. Die arme Mutter muß mich, vielleicht im Schlafe, vom Schoße verloren haben, denn der grüne Wald, von dem ich redete, war nur das hohe Gras der weiten Savanne, und ich wäre dahin gewesen, ohne Gottes Schutz!«

»Armes Mädchen! Mutterlose, arme Waise!«

»Ich bin nicht arm und nicht unglücklich, Herr! Ich habe ja in Don Luis einen Vater gefunden, und in der Kirche steht das Bild meiner himmlischen Mutter, mit Gold und Seide geputzt. Ich bete zu ihm; ich rede mit ihm, und sie redet auch mit mir in meinen Träumen, oder wenn ich das Gesicht auf den Boden lege und mir die Gedanken ausgehen lasse. Und die heilige Mutter ist so gnädig, so liebevoll! Sie hat die arme dumme Ines verständig gemacht, ihr Heil zu begreifen; sie hat mich gekleidet, sie gibt mir Speise! Ach, Herr, ich bin nicht arm! Aber meine Mutter im Walde mag's sein, denn sie hat ihre Tochter nicht mehr, und auch keine im Himmel, mit der sie reden kann!«

James schwieg ergriffen und die fromme Ines ging weg, Ihre Reden klangen in des Jünglings Ohren nach. Unwillkürlich verglich er die Indianerin mit Justine. Beide schön, beide entschlossen und tatkräftig; beide die Unschuld selbst, und dennoch so ganz verschieden! – der feine Tee schmeckte ihm nicht. Das Gespräch der Jesuiten, das in lateinischer Sprache vor sich ging, behagte ihm nicht. Frühzeitig suchte er seine Matte, frühzeitig verließ er sie wieder. Die zahlreichen Heiden brüllten an der Gasse vorüber. Leute mit Ackergerätschaften drängten sich auf dem Platze. Ein Zeichen mit der Glocke der Kirche, und die Schreitenden hielten an deren Pforte. Sie wurde aufgetan, Lichter brannten, Weihrauch dampfte, der silberhaarige Luis begann die Messe. Anstand und Würde von seiner, Andacht von der Zuhörer Seite, vereinigten sich, den gewünschten Zweck hervorzubringen. Die Indianer gingen still befriedigt an die Arbeiten des Feldes, um unverdrossen die Stunde zu erwarten, in welcher Gott selbst durch die Hand ihres Vaters ihnen Nahrung spenden würde.

James wünschte dem aus der Kirche tretenden Pfarrer Glück zu der Ruhe und fleißigen Eintracht in seiner Kolonie. Luis lächelte und sagte: »Das findest du in allen unsern Doktrinen, mein Sohn. Friede ist erste Bedingung des Glücks, und Friede halten wir.«

»Diese Leute besitzen jedoch nichts,« wendete der junge Mann ein, »Sie sind in jedem Stücke abhängig.«

»Zu ihrem Besten, Freund,« sagte Luis lebhaft; »eigenes Besitztum war die Quelle der Habsucht, des Neides, des Diebstahls, des Mordes. Wir kennen diese Dinge kaum von Namen; niemals hat seit meiner Amtführung einer von den hier angesiedelten Quaraniern etwas entwendet; niemals endigte sich ein Streit mit Blut. Diese wilden Stämme, durch Ueberredung und Scharfsinn dem Walde, den Bergen und der Flußräuberei entfremdet, müssen wie unmündige Kinder gehalten werden. Freilich wird einst die Zeit kommen, die auch hier die Mündigkeit befiehlt: ich erlebe sie aber nicht mehr.«

»Ihre Gesundheit, mein Vater, wird noch lange der Zeit trotzen.«

»Die Zeit, mein Sohn, ist der Tropfen, der den Stein höhlt. Gott sei Lob indessen für die Kraft und den Frohsinn, die mich in meine Silberzeit begleitet haben. Weißt du jedoch, woher das kömmt? ich bin im Gemüte ruhig gewesen mein Leben lang. Ich habe nie hoch hinaus gewollt, nie von Ehrgeiz und Würden geträumt. Ich wundere mich selbst, daß ich Pfarrer geworden bin; ich meinte, höchstens zum Vikar tauglich zu sein. Aber der Pater Provinzial zu Cordova meinte es anders, und Gott hat mir mit dem Amte auch leidlichen Verstand dazu gegeben. So lebe ich denn ruhig und zufrieden hin, ohne Sorge, ohne Plage. Mich kümmert's nicht, was die Herren zu Cordova treiben; ich bin seit vierzig Jahren Bauer geworden, und die Bauern um mich her haben gelernt, mich nicht nur Vater zu nennen. In dieser rohen aber guten Kinder Mitte will ich sterben, arm und geliebt; das ist alles, was ich wünsche. Daher bin ich auch gesund und frisch; frischer als Euer Pflegevater, der um zwanzig Jahre Lebens jünger ist, denn ich. Er trägt Gram auf dem Herzen; ich kenne den Kummer nicht; er hat sein Haus noch nicht bestellt ... ich habe seit vierzig Jahren meine Lampe angezündet. Er ist ein armer Mann, weil er zu viel weiß, weil er zu viel zu tun gezwungen gewesen ... weil ... doch ich vergesse, daß ich zu seinem besten Freunde rede, der alles dieses besser wissen muß, als ein beschränkter Landgeistlicher aus dem Missionslande. Beiläufig nur so viel: deine Weigerung, endlich das Kleid zu nehmen, mein guter fremder Sohn, trägt viel zu Pater Xavers Betrübnis bei.«

»Mein Vater ...!«

»Stelle dich nicht verwundert,« unterbrach ihn der Pfarrer gutmütig aber eindringlich, »höre mich an: Du hast dich verpfändet, du mußt dich lösen, das ist eins. Du mußt denjenigen lösen, der aus Menschenfreundlichkeit dein Bürge geworden ist; das ist das zweite. Du mußt endlich der Welt und dem Herrn dienen; das ist das dritte, notwendigste. Wären wir in Europa, mitten im Gewebe der großen Spinne, um Mückenjäger in ihrem Solde zu werden, so würde ich die Achseln zucken, meinen Weg gehen und mich nicht nach dem umsehen, was du beginnst. Aber hier, in dieser jungen, frischen Welt, wo die äußersten Enden des Gewebes eingreifen, wo sie leichter, feiner sind, hier ist's etwas anderes. Hier, auf dem Lande, hier können wir nützen. Hier kann die Mannskraft handeln, ein volles frommes Herz glücklich sein. Laßt den Herrn zu Assumption und Cordova ihre Ränke und Regierungssorgen! Wendet Eure Bemühungen auf diese armen Indianer und handelt nach dem Willen des ewigen Vaters! O, mein guter Jüngling! wenn ich dich hier umherführe und dir die reinlichen Haushaltungen zeige, in denen man christlich lebt und fleißig ist; die zufriedenen Familien, die weder das nomadische Leben, noch das betäubende Chicagetränk mehr verwüstet; die Väter, die, statt auf dem Pfühl der Trägheit zu ruhen und dem Weibe alles aufzubürden, jetzt die Versorger der Ihrigen sein würden, wenn die Gesellschaft nicht für alle sorgte; die Mütter, die nicht mehr ihre unschuldigen Kinder würgen, um wieder der Leidenschaft zu huldigen, oder sich eine Plage mehr vom Halse zu schaffen; die Kinder selbst endlich, die in Gottesfurcht und Elternliebe emporwachsen, ein sanftes friedliches, lernbegieriges Geschlecht; du wirst unser Los glücklich preisen und dich schnell demselben Berufe weihen, und schnell das Kleid anlegen, in welchem meine Quaranier mich als ihren Vater verehren; in dem ich mich dann und wann, von der Herrlichkeit meiner Bestimmung übermannt, für einen Strahl der Gottheit halten möchte, wenn es die einem armen Pfarrer anständige Demut nur zuließe. Sieh um dich! diese Kirche habe ich errichtet, alle diese Hütten habe ich erbaut. Es ist keiner unter vierzig Jahren im Dorfe, den ich nicht getauft: es liegt keiner in unserer Kirchhoferde, den ich nicht begraben hätte. Wie die Palmen, wie die Tamarinden meines Hofes habe ich sie alle, die da leben, jung gesehen! Alles ist hier mit mir alt geworden, und für das Generalat zu Rom tauschte ich nicht meine geringe Pfarrei, in der ich Melchisedeks Würde trage, und nicht umsonst trage, weil mir das Bewußtsein sagt: dein Leben war nicht faul, nicht vergebens!«

James sah noch horchend und lächelnd in des Greises hell leuchtende Augen, als vom Eingange der Mission sich viel Geräusch hören ließ und der Alkalde mit langen Schritten herbei kam, »Mein Vater!« sagte er zum Pfarrer, »der Feldhüter bemerkt auf dem Strome schwere Kähne aufwärts kommen, mit vielen Leuten bemannt. Befehlt, was geschehen soll. Die Leute könnten räuberische Payaquas ober spanische Abenteurer sein. Soll ich die Glocken läuten, Waffen austeilen? der Regidor ist auf den Aeckern und ich habe nach ihm geschickt.«

»Das sind unsere Freunde!« rief James und eilte ohne Aufenthalt dem Strome zu. Die müßigen haushütenden Frauen und Greise und Kinder, die längs dem Ufer hin wohnten, oder Wäsche hielten, oder in der Sonne lagen, versammelten sich am Landungsplatze. Starke Reihen von zahmen Stieren und Pferden zogen die ankommenden Schiffe an tüchtigen Fellriemen und Leinenstricken gegen die Fluten, und vierzig Ruder peitschten im schnellsten Takt, den Lauf zu verdoppeln, den herrlichen Strom. Mehrere riesenhafte Payaquas, bis zum Gürtel im Wasser stehend, mit brennend rot gefärbten Haaren und breiten Schultern, leiteten die aus dem violetten Holze der Algarova gefertigten langen Kähne sorglich an Felsstücken und Sandhügeln vorbei, dem Landungsplatze zu. Der Anblick dieser wilden Leute beunruhigte die am Ufer stehenden Quaranier, doch ein Blick nach den Kähnen selbst beschwichtigte ihre Furcht. Zwei angenehme weiße Frauengesichter sahen zwischen krausen Negerköpfen wie Lilien aus der Nacht hervor, und neben ihnen flatterten schwarze Mäntel der Gesellschaft Jesu; hier willkommene Boten der Friedlichkeit. Längs dem Strande zur Mission kehrende guaranische Jägersleute, die den Tapir in den Sumpfwäldern verfolgt hatten, feuerten mit gellendem Geschrei, die Väter des Ordens zu empfangen, ihre Gewehre in die Luft ab. Lebhafte Neger antworteten mit den Pistolen und Vogelflinten, die sie an Bord hatten. Die Glocke in der Mission läutete. Von Feldern und Wiesen strömten alle Bewohner zusammen. Pater Luis, samt Regidor und Alkalde und den ältesten Indianern, erwartete am Ufervorsprung die Ausschiffung der Fremden. Auf den starken Schultern der Payaquas schwebten die Damen über die Fluten; nach ihnen wurden die geistlichen Herren herübergeschafft. Mit ruhiger Demut empfing der Pfarrer die Vorgesetzten, mit fröhlichem Jubel James seine Begleiterinnen. Justine sah sich mit glänzenden Augen rund um und rief: »Ein herrlicher Ort, Monsieur White! wo aber ist mein Vater? ist er so krank, daß ihn die Nachricht von der Ankunft seines Kindes nicht an den Strand zu führen vermag? zu ihm! zu ihm, mein Herr! ich kann nicht eine Viertelstunde länger leben, ohne ihn zu sehen!«

James führte sie und versuchte, sie auf die Nachricht von der Abwesenheit des Senators vorzubereiten. Die lebhafte Jungfrau hörte indessen nicht auf seine Worte. Vergnügt und mit strahlendem, alles umfassendem Blick wendete sie sich im Gehen nach allen Seiten. Das mannigfache Grün der Zedern, der Palmen und Tamarinden, in welchem die gelben Dächer der Kolonie lagen, bildete eine erquickende Aussicht. Der zarte Rasen des Ufers war ein sanfter Teppich, die Blüten oder Früchte an Hecken und Geländen schmückten den Weg, und neugierig folgten die Weiber und Kinder, die noch nie an ihrem Wohnorte eine Europäerin gesehen, der lieblichen Gestalt. Justine war größer und voller geworben, ausgeprägter ihr Gesicht, schöner und feuriger ihr Auge, entschlossener ihre Haltung, ausdrucksvoller ihre Gebärde; frei und zierlich ihr Gang, wie der der Lainez. Neugierig aber freundlich betrachtete sie das mitziehende Volk, grüßte, lachte mit den Kindern, sprach mit ihnen, erhielt aber von den Nichtverstehenden unverständliche Worte in den Kauf. Endlich war das Pfarrhaus erreicht, endlich stand Justine unter der Türe desselben. Ihr Herz schlug ängstlich; ihr Mund öffnete sich, den Vater zu rufen. Pater Münzner erschien. Justinens Züge verdunkelten sich. »Sein Sie willkommen, geehrteste Tochter meines Freunde«!« sagte Münzner, der diesen Eindruck wohl bemerkte, »ich wünschte Ihnen im ersten Augenblicke angenehmer zu sein.«

»Das ist nicht möglich und auch nicht nötig,« entgegnete Justine ernsthaft und entschieden, »Ihr Anblick, mein Herr, erinnert mich an zu viel. Erlauben Sie, daß ich Ihnen hier eine Freundin übergebe, die manches um Ihretwillen gelitten hat und die ich den Verfolgern entriß, obgleich sie, wie andere auch, ein falsches Spiel mit mir getrieben. Vergelten Sie mir den Dienst mit der einfachen Anweisung, wo ich meinen Vater zu suchen und zu finden habe.«

Münzner schwieg bedeutungsvoll und James, die ängstlich werdende Tochter zu beruhigen, wollte statt des Pflegevaters das Wort nehmen. Der geräuschvolle Eintritt des Pfarrers mit seinen geistlichen Obern, des Volks, das neugierig ihnen nachdrängte, unterbrach ihn. Zwei Indianer von den Schützen, die soeben wieder heimgekommen waren, machten sich heftig Platz durch die Menge und näherten sich eilfertig dem Pfarrer. »Da! guter Vater Luis!« sagten sie mit betrübter Gebärde, »da ist alles, was wir von deinem Gastfreunde gefunden haben! In dem Lager eines wilden Yagurate, den wir erlegten, fanden wir die traurige Beute.«

Pater Luis starrte die Boten staunend an. Münzner erbleichte heftig, wie auch James. Justine stieß einen gellenden Schrei aus, denn – war ihr gleich die Sprache der Jäger fremd und unbekannt – sie kannte das Kleid ihres Vaters, das sie blutig und zerfetzt zu den Füßen des Pfarrers niederlegten. Mit rollenden Augen schlug das Mädchen die Hände zusammen und rief mit dem Tone der entsetzlichsten Furcht: »Was ist hier geschehen? was mit meinem armen Vater vorgefallen? Wer Mitleid mit mir hat, verhehle mir nichts. Wer Gefühl in der Brust trägt, verheimliche einer bangenden Tochter nicht das ärgste!«

Totenstille im Kreise. Endlich faßte sich der Pfarrer und sagte zu ihr in gebrochenem Deutsch: »Es ist besser, meine Tochter, daß der starke Christ die Zweifelschlange zertrete, denn die Wahrheit ist dem Himmel lieb und der Erde angenehm. Ihr Vater ist seit länger denn einer Woche abwesend. Er entfernte sich ohne unser Vorwissen, um in den unfernen Wäldern den Balsam zu suchen, der seine kranke Brust heilen sollte. Ein Indianer hat ihn begleitet. Keine Nachricht seitdem, bis auf diesen schrecklichen Fund, der uns nur zu deutlich macht, daß der Unglückliche eines wilden Tieres Beute geworden ist. Fassen Sie sich. Gottes Rat ist unerforschlich, aber weise.«

Justine sank kraftlos in die Arme der Lainez, deren Augen selbst heiße Tränen entfielen. Eine erschütternde Szene folgte. Luis unterhielt seine Ordensbrüder von der traurigen Geschichte; James stand seinem Pflegevater bei, der in trüber Wehmut verging und auf das Ergreifendste immer wiederholte: »Meine Schuld! meine Schuld! meine größeste Schuld!« Justinens Schmerz wurde brennend wie die Wunde an ihrem sehnenden, zerrissenen Herzen. Sie stieß die Lainez von sich, den tröstenden James, den Doktor, der seine Leiden mit den ihrigen vereinigen wollte. »Weg!« rief sie außer sich, »ihr alle weicht von mir! denn ihr habt unser aller Elend verschuldet! Ihr habt meines Vaters Glück, seine Ehre, sein Leben gemordet! Was soll mir eure Teilnahme! Weg auch du!« fuhr sie zürnend und weinend fort, indem sie den ehrwürdigen Luis, der sich ihr näherte, zurückwies, »du trägst da« Kleid dieser Mörder, dieser Diebe an Gut, Leben und Ehre! Weg! Deine weißen Haare lügen, wie deine fromme Stirne! Gebt mir meinen Vater zurück! Ich habe tausend Meilen gemacht, um Verbannung und Unglück mit ihm zu teilen, und finde ihn im Rachen eines Ungeheuers wieder! Und dieses Ungeheuer ist gnädiger als ihr, denn es hat ihn schnell hinweggerafft, während ihr in langsam hingerichtet habt! Kann ich denn meinen Erinnerungen so wenig entfliehen, als dieser qualvollen Gegenwart?«

Sie drängte mit erneuter Kraft die Lainez von sich; ihr Auge fiel auf Ines, die ängstlich, aber freundlich zu der Fremden stehend, vor ihr auf den Knieen lag, ihre Hände drückte, ihr tausend schöne Worte sagte und die kühlende beruhigende Frucht der Quembe bot; dem Gaumen der Erhitzten ein willkommenes Labsal. Die kindlichen reinen Züge der Indianerin stimmten Justinens Bewegung in sanftere Wehmut um; die Leidende gestattete es, daß einige Tropfen des kühlenden Saftes ihre Lippen benetzten, sie litt die Liebkosungen der Indianerin; sie drückte dieselbe an ihre Brust, »Ja!« rief sie schmerzlich, »du, fremdes Geschöpf, du bist hier meine einzige Verwandte! Jene, die meines Weltteils Farbe und Sitten haben, sind meine geschworensten Feinde! Sie haben meinen Vater in den Staub getreten, sie werden mich nicht verschonen! Sie haben ihn getötet, sie werden auch mich vergiften. Nur von deinen Händen will ich meine Speise nehmen! Nur du, mein Kind, meine Schwester, nur du sollst bei mir sein, bis mich mein Gott wieder aus diesem Mörderlande führt!«

»Beruhigen Sie sich!« sagte der Rektor von Assumption, ein Franzose von Geburt, schmeichelnd und süß wie Honig, »die arme Wilde hier versteht nicht, was Sie ihr sagen. Ihr Widerwille gegen unsern Trost ist dagegen unbegreiflich. Verwünschen Sie nicht uns, nicht dieses Land, das Kanaan für Sie genannt werden mag. Gott hat Ihnen viel genommen, allein, wie er es gegeben, kann er es auch wieder entziehen. Ihr Vater ist in seinem Schoße, denn er ist in seiner wahren Kirche Grundsätzen gestorben. Sie haben noch den Schritt in diese Kirche zu tun, und je schneller Sie ihn machen, je schneller wird der göttliche Trost bei Ihnen einkehren.«

»Monsieur!« rief Justine empört und maß ihn mit zornigen Blicken. Der Rektor ließ sich von dem Tone der Höflichkeit dadurch nicht abbringen. »Wie gut wäre es gewesen,« sagte er, »wenn Ihr würdiger Vater imstande gewesen wäre, selbst, in eigener Person, seine Tochter dem Gotte darzubringen, dessen Gnade die letzten Jahre seines Lebens verherrlicht hat. Aber – in seiner Ermanglung – liegt mir, dem Vollstrecker des Testaments, das er vor seiner Abreise von Assumption in meine Hände legte, ob, seine Pflichten gegen Sie und die Kirche zu erfüllen. Ein günstiges, Zusammentreffen wird Sie schneller ans Ziel bringen. Pater Jose Aculcho, einer der würdigen Konsultatoren des hochwürdigen Provinzials zu Cordova, der hier steht, wird Sie unter seinem Schütze nach Cordova bringen, sobald unsere Umreise durch die ihm zugeteilten Doktrinen beendigt wurde. Im Kloster der Karmeliterinnen werden Sie Unterricht, teilnehmende Herzen und eine ewige sorgenlose Existenz finden, übereinstimmend mit den Bedürfnissen Ihrer Lage, und dem letzten Willen Ihres seligen Vaters!«

»Mein Gott!« rief Justine, die nun erst begriff, wo alles hinaus wollte, »was sagen Sie? Sie getrauen sich, mich, ein freies Mädchen, das Ihnen nicht in Lehre, nicht in Pflichten unterworfen ist, mit Zwang zu einem Dasein zu führen, das ich verabscheue?«

»Ihr Vermögen, Ihres Vaters Erbe liegt in unsern Händen, unbeschadet der Ansprüche, die wir noch dereinst auf Ihr europäisches Gut zu machen haben dürften,« lautete die trockene Antwort des Rektors.

Justine blickte fragend und durchbohrend den Doktor Münzner an. Dieser nickte mit dem Haupte und sagte niedergeschlagen: »So ist's, beste Jungfer. Ihr Vater verlobte der heiligen Gesellschaft schriftlich sein Vermögen; Sie der katholischen Kirche und einem beschauenden Klosterleben!«

»O der Tücke, die ihn dazu gebracht!« versetzte Justine äußerst heftig. »Geldhunger war die Triebfeder eurer Handlungen? So nehmt es denn hin, das elende Geld! Wo meines Vaters Leiche blieb, bleibe auch seine vergängliche Habe! Lassen Sie mich nur wieder von dannen ziehen um diesen Preis! Ich will nicht klagen, will nicht murren, will mein Brot vor den Türen betteln! Nur hinaus aus diesem Lande, worin mich nicht einmal das Grab meines Vaters zurückhält! Hier sind noch einige Diamanten! Sie sollen von Wert sein! Nehmen Sie diese letzten Ueberreste einer Wohlhabenheit hin, die Ihre Brüder vernichteten. Lassen Sie mich jedoch zur Stunde fort! Hier lebt nicht mein Vater! nicht mein Glauben! Ich sterbe unter diesen Menschen!«

»Arme!« sprach Münzner trübe vor sich hin, »aus des Löwen Höhle führen keine Fußtapfen.«

Der Rektor lächelte über die Aufregung Justinens und sprach mit dem Konsultator spanisch. Dieser winkte mit der Gravität des Vorgesetzten dem Pfarrer und sagte ihm: »Sie stehen mir dafür, daß die Person sich kein Leid antut, und daß ich sie bei meiner Rückkehr wieder finde.«

Justine, von Tränen übermannt und das Gesicht in ihre Hände verbergend, beachtete nichts um sich her. Die Lainez und die Indianerin sprachen zu ihr, wie zu einer Bildsäule. Münzner ging händeringend im Hintergrunde des Gemachs auf und nieder. James starrte düster vor sich hin und der Pfarrer entfernte das Volk, bis auf die Obern der Kolonie. Dann sagte er bescheiden aber fest zu dem Konsultator: »Mein Vater! ich erinnere Sie, daß mein Pfarrhaus kein Gefängnis ist. Noch viel weniger scheint mir die Jungfrau eine Verbrecherin.«

»Sie gehorchen!« war die kurze drohende Antwort, »ich nehme alles bei dem Provinzial auf mich.«

»Bedenken Sie!« sagte Luis, »wenn der Generalkapitän erfährt ...«

»Was da?« brausten Konsultator und Rektor auf. »Hier ist der heilige Ignacio Generalkapitän. Wo wären wir der Exzellenz zu Buenos-Ayres unterworfen? Haben wir nicht unsere Verträge, unsere Rechte? Wo die Gesellschaft befiehlt und den Tribut bezahlt, muß Monarch und Statthalter schweigen,«

»Das nimmt kein gutes Ende!« sagte Luis, »ich protestiere.«

»Mademoiselle Müssinger ist eine Fremde!« sprach James, der nur mühsam bisher an sich gehalten, »wie wollen Sie, meine Väter, verantworten, was Sie tun?«

»Wer spricht hier?« fragte der Rektor drohend entgegen, »Mademoiselle ist durch den Tod ihres Vaters meine Mündel.«

»Sie wollen die erschlichene Gewalt mißbrauchen!« rief James erhitzt.

»Mein Sohn, bedenke wo du bist!« mischte sich Münzner besorgt ein, »und Sie, meine Väter und Obern, vergeben Sie dem unbesonnenen jungen Manne, der ein schnelles Urteil spricht.«

»Das soll ihm übel bekommen!« sagte der Rektor aufgebracht. »Des Provinzials Nachrichten aus Deutschland reden von dem widerspenstigen Engländer, der seine Pflicht umgehen möchte. Das Provinzialat wird ihm hier sein Urteil sprechen.«

»Unglücklicher!« seufzte Münzner, James' Hand fassend, »siehst du? meine Ahnung!«

»Mein Urteil!« fuhr James auf, »was habe ich Ihnen, was dem Orden getan?«

»Du hast viel gekostet, und unsere Erwartungen betrügen wollen,« antwortete der Konsultator mit harter Stimme, »du hast schwere Buße verwirkt, und nur Nachgiebigkeit kann dir einen würdigem Platz in unsern Häusern erwerben.«

»Nimmermehr!« entgegnete James, »dieses unschuldige Lamm soll geopfert werden, und ich nicht minder? Machen Sie mich zu Ihrem Sklaven, aber nicht zu Ihrem Bruder!«

»Welche freche Sprache?« polterte der Rektor.

»Sie soll ihm vergehen,« sagte der Konsultator, »die Bußkammer zu Cordova soll ihn zahmer machen. Fürs erste, Bursche, verlassest du diese Doktrina nicht. Wie für die Sennora, haften mir Pfarrei und Regidor für dich.«

James knirschte. Münzner trat besänftigend vor ihn und sagte zu dem unwilligen Herrn von Cordova: »Schonen Sie ihn um seines Jähzorns willen! Es wird sich alles legen. Ich bürge, daß Sie ihn ruhiger hier wieder finden.«

»Wer bürgt uns denn für Sie, Pater Xaver?« fragte der Konsultator höhnisch, »Ihr Schicksal habe ich in der Tasche. Ihr Provinzial reklamiert Sie. Sie werden ungesäumt nach Europa zurückkehren, um sich vor ihm über den Ausschlag Ihrer letzten Mission daselbst zu verantworten, Sie sind wichtiger Punkte angeklagt.«

Münzner stand wie niedergedonnert; dann hob er die Augen gen Himmel und sagte: »Wie du willst, Herr! Aber dich zurücklassen, hier zurücklassen, mein James?« setzte er bei.

»Desto besser!« sprach der Rektor bitter, »Euer Beispiel, ihr Deutsche, verdirbt jeden guten Keim, Ihr bildet Räsoneurs, Grübler, und Grübelei führt zur Blasphemie.«

James wollte sich voll Wut von dem Doktor losreißen, der ihn begütigend festhielt. »Sie werden dich noch binden lassen!« sagte er auf Deutsch zu dem Jüngling, und im selbigen Augenblick befahl der Konsultator dem Alkalden, Negerketten herbeizubringen und sie dem Jüngling anzulegen. Pater Luis trat schnell vor und entgegnete mit edlem Feuer: »Meine Obern vergeben! Diese Dinge sind aber unbekannt in meiner Mission. Wir haben nicht Ketten, nicht Peitschen; nicht einen Strick, um einen Menschen damit zu binden. Diese armen jungen Leute sind meine Gäste. Die Gastfreundschaft duldet keine Mißhandlung.«

»Gehorsam!« rief der Konsultator.

»Euer Hochwürden vergeben,« sagte der edle Greis wie oben, »ich bin siebzig Jahre alt geworden, ohne etwas Schlechtes zu tun. Ich will nicht erst jetzt anfangen, selbst wenn Don Philipp, unser allergnädigster Herr, es so zu haben begehrte. Wir sind hier auf dem Lande, unter harmlosen Menschen. Hier ist's uns auch in der Ordenskleidung vergönnt, ein Mensch zu sein. Ich bin der Vater meiner Untergebenen, der Freund der Fremden, nicht ihr Stockmeister. Verlangen Sie das nicht, meine Obern.«

»Schwachkopf!« sagte der Rektor verächtlich vor sich hin.

Der Konsultator drohte dem Pfarrer ernsthaft mit dem Finger. »Sie machen sich eine böse Note, lieber Mann,« sprach er, »ohnehin hat Ihr Vikar, der nach Cordova zurückkam, Ihrer nicht zum Besten gedacht.«

»Weil ich ihn fortschickte,« war Luis Antwort, »weil er in Kirche und Haus, bei Männern und Frauen alles das tat, was unser Heiland nicht getan hat. Der ehrwürdige Pater Provinzial wird aber auch mich hören, und nicht allein den tückischen Andalusier. So alt ich bin, scheue ich noch nicht, dem Recht zuliebe, den weiten Weg nach Cordova.«

»Ihr werdet ruhig hier verbleiben!« erwiderte ihm mit imponierendem Tone der Konsultator. »Die Disziplinargesetzte unserer Gesellschaft sind Euch seit einem halben Jahrhunderte bekannt, und somit kein Wort weiter.«

»Ich bin kein Rebell,« antwortete der verblüffte Pfarrer, »aber, was Sie verlangen, ist nicht meines Amts.«

»Sie kommandieren Ihre Milizen als Oberst,« lachte der Konsultator, »Sie verstehen es aber nicht, einen Menschen zur Haft bringen zu lassen! Senner Corregidor! Sorgt Ihr, daß dieses Mädchen sowohl, als der junge Mensch getrennt in ein sicher verwahrtes Haus gebracht werden, bis zu meiner Rückkehr.«

»Ruhig! Du machst dich unglücklich und mich noch elender, als ich bin!« sprach Münzner begütigend zu dem auflodernden James, der mit den Worten »auch Sie mein Vater?« die Hände sinken, alles mit sich beginnen ließ.

Regidor und Alkalde versuchten, den Befehlen des strengen Aculcho einige Milderung abzugewinnen, aber er faßte ihre schwächste Seite, indem er sagte: »Ihr seid exkommuniziert, wenn ihr länger widerstrebt! Der junge Mann ist ein unserem Hause Entsprungener, das Mädchen eine Ketzerin. Beide gehören vor unser Gericht, und der Generalkapitän zu Buenos-Ayres mit all seinen Schergen hat ihr Schicksal nicht zu schlichten.«

Das Wort ›Ketzerin‹ machte die guten Leute, die um Justine beschäftigt waren, zurücktreten. Auch Ines entfernte sich, schüchtern ein Kreuz schlagend. James lachte bitter und folgte finster schweigend dem Alkalden, der ihn fortführte.

Der Regidor bedeutete Justinen, ihm ohne Widerrede zu folgen. Durch den Schleier ihrer Tränen emporsehend, fragte sie erschöpft: »Wohin führt Ihr mich?« Da aber der Regidor ihr nicht antworten konnte und keiner derjenigen, die ihre Frage verstanden, antworten wollte, so folgte sie ihrem Führer wie ein Lamm mit den Worten: »Gleichviel, wohin es geht. Nur aus dem Bereiche dieser Menschen, deren Blicke mich vergiften!«

»Sie, Pater Xaver,« sprach der Konsultador, »geben mir Ihr Priesterwort, sich nur, um nach Cordova und von dannen nach Europa zu gehen, aus der Doktrine zu entfernen, und Ihrem Zögling auf keinerlei Weise zum Entweichen behilflich sein zu wollen!«

Nach einigem Bedenken gab Münzner das Wort. »Das erste mit Freuden,« sagte er, »ich hoffe, in einigen Tagen bereit zu sein, mit dem ersten Warenkahn abzureisen. Das zweite verspreche ich mit Leid; aber überzeugt, daß meine Hilfe meinen guten Sohn nur in größeres Unheil stürzen würde. Wenn übrigens die Bitte eines Mitbruders für Sie von einigem Gewicht wäre, so ersuchte ich Sie, die Tochter des verunglückten Müssinger gnädig und milde zu behandeln. Wir haben viel an ihrem Vater und ihr verschuldet, meine Väter, was erst in der Folge klar werden dürfte. Mich, der ich das arme Werkzeug sein mußte, bald mit wohlwollendem, bald mit blutendem Herzen ... mich ereilt jetzt das Schicksal; denn mein Los in Europa wird ein hartes sein. Erschweren Sie es nicht, meine Freunde in Christo, durch die Leiden der unglücklichen Justine!«

Die fremden Jesuiten sprachen hierauf kein Wort und nannten den Fortgehenden verächtlich einen Träumer, dessen Zukunft hart, aber nicht ungerecht sein könne. Zugleich wurde die Lainez, von deren bisherigem Wirken man, durch die, fast gleichzeitig mit ihr angekommenen Berichte, genau unterrichtet schien, aufgefordert, bei Justine ihr Heil zu versuchen und nichts zu versäumen, um diese auf den Weg des Heils zu führen.

»Zu lange, wie wir vernehmen, arbeitet Ihr schon an diesem Geschäft,« sagte der Rektor geringschätzend, »ich möchte Euch raten, das Brot der Gesellschaft nicht als eine unnütze Arbeiterin zu verzehren. Im Gegenteile, wenn's Euch gelingt, die Widerspenstige, ehe der Pater Konsultator wiederkommt, zu bekehren, sollt Ihr nach Verdienst belohnt werden. Die gottesfürchtige Frau von Guébriant, die sich vor den Greueln der Regentschaft nach St. Fé flüchtete, bedarf einer Kammerfrau und Vorleserin, und dieser einträgliche Posten soll Euch durch mein Fürwort nicht entgehen.«

Die Lainez, in ihrer Eitelkeit beleidigt, rümpfte, ebenfalls geringschätzend die Nase und antwortete: »Ich danke Ihnen für den guten Willen, meine Väter; bin aber zu schwach, ihn zu verdienen. An dem Mädchen ist nicht das mindeste zu ändern. Sie ist von einem Eigensinn, der Ihnen zu schaffen machen wird, und, da es nun einmal so ist, möchte ich raten, sie lieber zu lassen, wie sie bisher war. Mein Streben ist, was sie betrifft, geendigt, und ich will die Freundschaft, die sie mir erzeigt, mit der sie mich gefesselt hat, nicht mit Leiden vergelten. Madame Guébriant wird eine andere Kammerfrau finden und mich in Frieden nach Frankreich zurückkehren lassen, wo die Hitze nicht so unausstehlich, die Sprache angenehmer, und die Tracht weit anständiger ist.«

»Daß müßtet Ihr allerdings,« versetzte der Rektor hochmütig. »Wir gedenken nicht, unnütze Leute von zweifelhaftem Charakter in den Kolonien zu füttern. Ihr werdet mit dem Deutschen Xaver abreisen, ein würdiges Paar träger Diener. Hebt Euch jetzo weg! Für eine gute Note wollen wir Sorge tragen!«

Die Lainez ging mit diesem Bescheid. »Hätte ich Vermögen,« sagte sie mit Bitterkeit zu dem Pater Münzner, dem sie alles erzählte, »so würden mich die gescheiten Finanziers schon freundlich gebeten haben, dazubleiben. Pfui der Schande! ich eine Magd der alten unerträglichen Frau von Guébriant? Um solchen Preis sollte ich meine schönsten Jahre einem Bemühen hingegeben haben, das täglich meinen Charakter und meine Existenz gefährdete? Aber nur Geduld, mein würdiger Vater! Man mißhandelt auch Sie. Lassen Sie unsere Kräfte vereint wirken. Mein Provinzial wird unsere Berichte getreulich nach Rom befördern. Die Menschen hier am Ende der Welt sollen erfahren, was es heißt, einer Frau von Stande unwürdig zu begegnen.«

»Madame Lainez,« antwortete der Doktor ruhig, »laßt uns nicht Steine auf andere werfen. Wir haben genug mit uns selbst zu tun. Wenn doch Ihr Geist ebenfalls die Erschütterung empfände, die der meinige seit meiner Anwesenheit in diesem Lande empfindet! ich gehe nach Europa zurück um elend zu werden, aber ich habe es nur zu sehr verdient.«

Die Lainez entfernte sich achselzuckend, weil der Pfarrer eintrat.

»Nach Europa zurück?« sagte dieser vertraulich, nachdem er an Türe und Fenstern gehorcht hatte, »das wird Ihr Ernst nicht sein, Pater Xaver. Sie rennen in Ihr Unglück. Unsere Brüder in der Alten Welt sind Leute, wie die in der neuen; arglistig, neugierig, unversöhnlich. Sie haben – vielleicht unverschuldet – das Ansehen der Gesellschaft preisgegeben, weil unter Ihrer Amtsführung jene Gemeinde, der Sie vorstanden, verraten wurde; das vergibt man Ihnen nicht. Der Superior hat Ihre Abwesenheit benützt, sich rein zu brennen. Das Ungewitter bricht nun gegen Sie allein, später, aber schrecklicher los. Opfern Sie sich nicht ohne Not einem wilden Parteihasse, der vielleicht Ihr rüstiges Leben zwischen vier Mauern begräbt.«

»Eine Strafe meiner Sünden,« erwiderte Münzner schwermütig, »dann – meine Pflicht. Gehorsam hieß mein Gelübde. Die Obern rufen, ich folge.« Luis schob sein Käppchen ungeduldig hin und her. »Die Gesellschaft,« sagte er schnell, »ist im Begriff, von einigen Gliedern derselben durch eine Ungerechtigkeit geschändet zu werden. Ich erfülle meine Pflicht gegen ihr Wohl auf bessere Art, wenn ich dieser Schande vorbaue. Ich bin ein alter, verbauerter Pfarrer, mein Bruder, aber eben weil ich alt bin, kann auch der liebe Gott rufen, wann er will, und ich will rein vor ihn treten. Ihr armer Pflegesohn, Ihres Freundes ärmere Tochter sollen dem schmutzigen Eigennutze des Quinquevirats zu Cordova nicht geopfert werden. Sie nicht den Mißgriffen Ihres Superiors. Lassen Sie die Väter abreisen. Meine Worte haben bei dem Regidor und dem Alkalde, die ich erzogen, die ich aus der Gemeinde gewählt habe, Gewicht und Einfluß. Ein Wink von mir, und sie lassen die widerrechtlich Verhafteten frei. Ich befördere dann ihre Flucht.«

»Sie, edler Mann, wollten sich der Rache der Obern bloßstellen?«

»In meiner entlegenen Doktrine, an den Grenzen des Gebiets barbarischer Völkerschaften, achte ich ihrer Drohungen für meine Person nicht. Sie sollen mich nicht wegführen aus dem Lande, wo ich wirkte, wo ich den Tag der Auferstehung erwarten will.«

»Gesetzt, Sie retten meinen Zögling und das arme Mädchen, dessen Schicksal auf meiner Seele brennt ... was soll aus ihnen werden? werden sie nicht, mitten in einem unermeßlichen Lande, aller Hilfsmittel beraubt, dennoch wieder in die Hände der Feinde fallen, oder elend zugrunde gehen?«

»Hören Sie mich an. Die Berge, die wir von hier aus sehen, verketten sich mit den Alpgebirgen Brasiliens. Diese Höhen, dem Namen nach dem Zepter Portugals unterworfen, sind ihrem Beherrscher beinahe völlig unbekannt geblieben. Einzelne Wachtposten, die man so weit herausrückte, sind kaum vermögend, gegen die Scharen unabhängiger Eingeborner ihre Existenz zu behaupten. Täler und Berge von erstaunlichem Umfange haben noch nie einen Portugiesen gesehen. In einem dieser Täler, umringt von Urwaldungen und von jähen Abstürzen, versteckt wie das Paradies, das noch kein Weltumsegler wieder aufgefunden, lebt, jung und kräftig, ein kleiner Staat, der unsern Flüchtlingen und Ihnen vorderhand völlige Sicherheit gewähren würde. Unsre Obern, wie die Regierungen von Spanien und Portugal, halten, trotz ihrem Scharfsinn und ihren Nachforschungen, das Dasein dieses kleinen Staats für eine Fabel, für eine müßige Volkssage. Dennoch existiert diese Pflanzschule eines reinen Christentums, und die Republik ›Der gute Jesus in den Wildnissen‹ ist kein Märchen einer träumerischen Amme. Ein Vetter meines Hauses, der in dem Regimente Arragon Kapitän gewesen, der in der Folge, über Zurücksetzungen verdrießlich geworden, zu Cordova das Kleid des heiligen Franziskus genommen, mußte, um eines schweren Handels willen, den er mit unsrer Gesellschaft hatte, flüchtig werden und zog sich in jene Wildnisse zurück, wo er eine aufblühende Gemeinde fand, an deren Spitze er jetzo als Vater, als Priester, als Feldherr und König steht. Es ist beinahe ein Jahrzehnt verflossen, seit ich die letzte Kunde von ihm empfing, aber der riesenhafte Körperbau des Mannes verbürgt mir die Dauer seines Lebens. Ich sende euch, meine Freunde, an ihn. Er hat mich einst wie seinen Vater geliebt und wird mir ein freundliches Andenken bewahrt haben. Dem Genügsamen wird eine Wildnis bequem und die Gelegenheit nicht fehlen, euch in den Norden unseres Kontinents zu schaffen, wo Englands Zepter schützt und Penns Kolonie jeden Glaubensbruder willig aufnimmt. Oder in Portugals Kabinett reifen günstigere Ansichten für die Freiheit der Konfessionen, zugleich mit gehässigern gegen unsere Gesellschaft, deren wachsende Macht bald den Neid der bis jetzo glücklich geblendeten Regenten beunruhigen dürfte. Auf jeden Fall, weit von Jupiter sein schützt vor dem Blitze! Beherzigen Sie das, mein Freund. Der Indianer, der vor zehn Jahren, nach dem guten Jesus in den Wildnissen verschlagen, mir davon Meldung zurückgebracht, lebt noch, und sein Gedächtnis wie seine Sinne sind rüstig und frisch. Geprüfte Leute in nicht geringer Anzahl sollen euch geleiten und euch zum Frieden führen, den man in dieser sturmbewegten Welt und Zeit nur in der Einsamkeit der Troglodyten finden mag.«

»Mann! ich staune vor den kühnen Schöpfungen Ihres jugendlichen Geistes! Was Sie sagen, gleicht einem poetischen Traume!«

»Sind denn diese Landschaften nicht Gebilde der kräftigsten Poesie? noch sträubt sich ihre Ueppigkeit gegen die Ketten unsers Verstandes; noch ist dieser Boden frisch. Europa ist ein ausgebrannter Vulkan; hier sprudelt noch Urkraft und auf dem ungewöhnlichen Schauplatze kann noch Ungewöhnliches gedacht und getan werden. Gedenken Sie meines Vorschlags. Ich will jetzt an meine Kinder die Lebensmittel austeilen, die sie heute verdient haben, und die Kähne unsrer Herren mit Vorräten versorgen, daß sie morgen ungehindert nach der nächsten Doktrine abreisen können.«

Münzner überlegte lange und schwer. Er seufzte ängstlich auf, »warum kam mir die Erkenntnis nicht früher? warum erst jetzt plötzlich nach dem Verschwinden, nach dem Tode des Senators? welche Zukunft von Leiden? und dennoch, wie so heiter gegen die Vergangenheit; fünfzig Jahre, die ich in stolz-ruhigem Scheinbewußtsein verlebte, weisen mir nun ihr nacktes trauriges Gerippe. Keine Blüte in irgend einer Furche, worein ich ein gutes Saatkorn zu legen glaubte! elend war meine Saat! O so vollende sie sich denn an mir, dem Schöpfer so vielen, Unglücks! O so geißle mich die Pflicht, in deren Dienste ich Herrliches zu vollbringen glaubte, indem ich nur Böses schuf. Losgerissen von der Welt, will ich mich hier zur Sühne geben, damit jenseits mein Los milder werde! Die Gesetze meines Standes haben mir die Ruhe genommen, so mögen sie auch meine Tage hinnehmen, James, der junge ins Leben tretende Mann, gehe hin in Gottes Namen. Vielleicht bringt ihm die Wüste Gewinn, vielleicht segnet in der Wüste der Himmel seine Liebe; ich will keinen Teil an seinem Schicksal haben, damit ihm nicht einst geschehe, wie mir. Ich gehe aber, wohin mich Beruf und Gehorsam ruft: zur ungerechten – ach! zur gerechtesten Buße!«

Ines trat zu dem Bekümmerten, zu dem Entschlossenen. Sie brachte Erfrischungen und sah traurig aus.

Münzner fragte nach der Ursache ihrer Niedergeschlagenheit.

»Euer Sohn dauert mich,« sagte das Mädchen unbefangen, »und mit der jungen Sennora habe ich viel Mitleid. Warum sperrt man sie ein? Euer Sohn brütet stille vor sich hin. Die Sennora weint, zürnt, und denkt mit finstern Augen nach. Mit Euerm Sohne könnte ich reden, aber das geht nicht wohl an. Die Sennora verstehe ich nicht. Wenn ich jedoch zu ihren Füßen sitze und sie wehmütig anschaue, so ist's als ob sie wüßte, was in mir vorgeht, denn sie umarmt mich dann und herzt mich, als ob sie meine Schwester wäre. Sie ist so gut und muß, wenn sie auch eine Ketzerin ist, in den Himmel zum Vater kommen; nicht wahr, Don Xaver? Pater Luis hat mir versprochen, daß ich auch meine Mutter im Himmel finden sollte, ob sie gleich nicht getauft sei. Die Sennora wird ja auch darin nicht fehlen.«

Das plaudernde Kind wartete vergebens auf eine Antwort. Münzner sah düster mit übergeschlagenen Armen vor sich hin. Ines blickte verlegen nach dem Fenster.

»Soll ich das Gitter schließen, Vater Xaver?« fragte sie schüchtern, »der Abend kommt, die Fliegen finden sich ein, und – seht doch, wie es plötzlich dunkelt ... wie es Nacht wird ...!«

Sie lief zum Fenster, sah zum Himmel und schlug mit einem Schrei die Flügel zu. »Ach! bei unsrer lieben Frau vom Rosenkränze,« rief sie erschrocken, »seht doch, mein Vater, welche ungeheure Menge von Vorkani durch die Luft zieht und sie verfinstert! der Zug macht ein schwarzes Dach über die ganze Mission! Ach, wie das schauerlich durch die Wolken fliegt! das bedeutet ein Unglück, ein schweres Unglück, mein Vater!«

»Aberglaube!« sagte Münzner verdrießlich.

»Mit Eurer Erlaubnis,« versetzte Ines, »es hat seine Richtigkeit, was ich sage, nur glauben es unsere Leute hier nicht, weil sie vom quaranischen Volke sind, und ich ein Abiponerkind bin. Sie lachen der Heuschrecken, wir fürchten sie aber, und immer ist etwas Schweres geschehen, wo diese Unholde vorüberzogen. Wenn nur uns die heilige Jungfrau gnädig bewahrt. Ich bringe ihr alle Sonntage einen frischen Strauß im Namen der Gemeinde. Die fremden, schwarzen Herren mögen sehen, wie sie fertig werden.«

»Ei!« sagte Münzner verweisend, »Ines, ist das Christenliebe?«

Ines schämte sich. Sie entgegnete schüchtern: »Ihr habt recht, Vater Xaver. Ich habe gefehlt. Sagt es dem Vater Luis nicht. Er wird es schon in der Beichte hören. Aber mir kömmt immer vor, die beiden Herren von Cordova seien nur in Euer ehrwürdiges Kleid verkleidet. Vater Luis und Ihr – ihr seid ganz anders, und ich möchte lieber zeitlebens bei euch allein bleiben, als nur eine Stunde lang bei dem hagern Herrn von Assumption, der mich immer so seltsam ansieht, wie der ehemalige Vikar, oder besser, wie die Schlange in der Savanne.«


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