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Die Glocke der Kirche läutete. Ines mußte zur Teeverteilung. Dieses Geschäft wurde, wie alltäglich, abgetan. Während Konsultator und Rektor mit Pater Luis und Xaver das frugale Abendmahl einnahmen, trug Ines auch den armen Gefangenen ihre Speisevorräte zu. James und Justine bewohnten zwei getrennte Räume im Lagerhause. Des Alkalde Sohn, der Wächter des jungen Engländers, brachte die Speisen in seines Gefangenen Gemach. Justinens Wächter ließ die freundliche Ines gern zu der trauernden Sennora. Justine saß an dem Gitter der Fensterluke und sah dem Glanzspiele einiger Leuchtkäfer zu, die auf den schlanken Stauden hingen. Sie erschrak ein wenig, als Ines' Finger ihre Schulter berührten; aber der Ausdruck der Freude folgte dem Schrecken. Hastig zog sie das liebe Mädchen an sich, weigerte sich, von den Speisen und dem würzigen Tranke zu genießen, und gab der Indianerin durch Gebärden zu erkennen, daß sie eine Bitte an dieselbe richten wolle. Sie zeigte alsdann auf die Matte in der Ecke, auf den großen leeren Raum um sich her und versuchte der Ines begreiflich zu machen, daß sie sich allein zu bleiben nicht getraue und es gern sehen würde, wenn das dienstfertige Mädchen die Nacht bei ihr zubringen wolle. Ines verstand Justine alsobald und zeigte sich ebenso schnell bereit, ihrem Wunsche zu entsprechen. Der Wächter mit der Lampe wurde hinweggesendet, die Türe wieder mit den hölzernen Riegeln von außen verschlossen; tiefe Ruhe und tiefes Dunkel kehrten in dem Gebäude ein. Auch von außen wurde alles ganz still. Drei Zeichen mit der Glocke gaben den Befehl allenthalben die Lichter auszulöschen, und die Straße im Dorfe wurde nur noch in dem Augenblicke belebt, als der Pfarrer nebst mehreren mit Harzfackeln versehenen indianischen Knechten seine Gäste von Cordova und Assumption nach ihren Schiffen führte, wo sie die Nacht zuzubringen begehrten. Pater Luis kehrte mit seinen Begleitern nach Hause zurück und schloß sein Hoftor. Die Herren auf den Schiffen streckten sich unter dem leichten Zeltverdeck derselben auf ihre Matten. Die Schiffer, ein jeder an seinem Ruderplatze, duckten sich nieder, hüllten die Köpfe in ihre Mäntel und schliefen ein. Unter Akazien am Ankerplatze schnarchten die müden Payaquas. Ein Neger hielt auf dem Vorderteile eines Kahns, bei glimmender Laterne, Wache, mit seiner Vogelflinte spielend. Noch mehr beschäftigte ihn jedoch die Chicaflasche und er entschlief gleich den übrigen. Grabesruhe auf dem dumpfmurmelnden Flusse, an seinem Strande, in dem Missionsorte. Der umgehende Wächter in demselben hatte sich vor einem unbedeutenden Regenschauer in seine Hütte zurückgezogen. Auf der Gasse atmete keine Menschenseele.
Da kam von Süden her ein fernes, leises Getrappel. Es schwieg in kleiner Entfernung vom Dorfe. Einige Hunde knurrten, schwiegen jedoch ebenfalls plötzlich, und mehrere leicht gleitende Schatten kamen über Zaun, Graben und Gehege in den Ort herein; mit Blitzesschnelle hin- und widerfahrend, schauend, horchend, verschwindend, wie sie gekommen waren. Geräusch von leise webenden Sägen, Knarren von aufgehenden Gattertüren, und über den breiten Fahrweg, weit sich aber alsdann über den frischen Rasen zu beiden Seiten desselben verbreitend, zog still und geräuschlos eine Schar von Reitern in das Dorf. Stumme schnaubende Hunde ihnen zur Seite, lange Speere in ihren Händen, versteckte Fackeln mitten im Zuge. Halt auf dem Platze, kurzes unverständliches Gemurmel unter den Nachtgästen, plötzlich hochblinkende Feuerbrände, entsetzliches Geheul und kriegerischer Ruf.
Dieser Schrei, die Losung des Entsetzens, dringt wie der Donner des Himmels in die friedlichen Hütten der Quaranier. Schlaftrunken springen die Männer an die Türen und Fenster. Zum zweitenmal tönt der gräßliche Schrei, und, mit dem Tone zugleich, fliegen brennende Pfeile in die Stroh- und Binsendächer der Kabanen.
»Die Abiponer, 's ist ihr Kriegsruf!« antwortet der Weiber Wehlaut und wütend greifen die Männer nach der Axt. Die Glocke klingt gellend vom Turme. Der nachlässige Wächter erinnerte sich zu spät seiner versäumten Pflicht. Indessen weht aber schon der Brand in der Luft, würgt schon der Feind am Boden. Ein wehmütig Schauspiel! wilde Reiter, nackt auf den Pferden hängend, von abenteuerlichem Kopfputz gräßlicher gestaltet, bestrichen mit grellen, Blut und Tod kündenden Farben rasen hin und her durch die Gassen, schmettern mit ihrer fürchterlichen Schleuder alles zu Boden, was an ihnen vorüberrennt, werfen ihre langen Speere nach der keuchenden Menschenbrust, und Brände in die Glut, damit die Flammen noch höher aufflackern, die betrübende Szene würdig zu beleuchten.
Eine Horde wilder Räuber hatte das Lagerhaus erstürmt, sich der Waffen und Mundvorräte bemächtigt. Die Quaranier konnten ihnen nirgends die Spitze bieten, nirgends ihrer Raublust ein Ziel setzen; kaum dem Morde entgehen. Denn in engem Kreise hielt um den Missionsort eine furchtbare Linie von Reitern mit drohendem Speere, und nur die Verzweiflung selbst schlug sich durch. Mit den Bolas bewaffnet, die jeder Bauer an sein Pferd hängt, wenn er über Land reitet, warfen die Entschlossensten der Quaranier einen Trupp von Pferden danieder, öffneten ihren Freunden und Verwandten einen Paß. Die dem Strande zunächst wohnenden Leute flüchteten sich nach den vor Anker liegenden Schiffen. Die Herren derselben, von dem Mordgetöse aufgeschreckt, befahlen, die Seile zu kappen. In die Strandflut des Flusses stürzte sich die hilfsbedürftige Menge; Kinder und Greise auf den Schultern der Eltern, der Söhne; sie jammerten nach Hilfe, nach Aufnahme, kaum die Köpfe aus den Fluten hebend. Umsonst; die Väter auf den Kähnen, nur ihre eigene Rettung vor Augen, fürchteten der Schiffe Ueberfüllung, wiesen die Flüchtlinge mit harten Worten zurück, ließen die Fahrzeuge stromabwärts treiben. Aber Not kennt kein Gebot, denn die Abiponer waren im Rücken der Flüchtlinge. Die riesenhaften Payaquas, die das Ruder in Händen – obwohl blinde Heiden, gewissenhafter den Rückzug ihrer Herren verteidigten, als diese das Wohl ihrer christlichen Mitbrüder sich zu Herzen nahmen – fielen tot hin unter der Uebermacht. Schon netzen die Wellen der Parana die Füße der Abiponerpferde, schon stürzen sich diese wilden Krieger blutbegierig bis zum Kinn in den Strom ... Gewaltsam halten die Flüchtlinge von Dominica die Schiffe auf, schwingen sich gewaltsam hinein, und die Väter müssen geschehen lassen, daß wider ihren Willen das treue Holz der Algarova auch die schlechten Indianer dem Mordstahle entführt.
Welch ein Graus, wendet man den Blick von jenen Geretteten nach dem brennenden Pfarrhause. Vergebens stürmt die Glocke der Kirche. Sie vermag nicht dem lang gedehnten Brande in den hölzernen Gebäuden und Rohrwänden zu wehren. Sie vermag nicht, die treuen Diener zu erwecken, die für ihren Vater auf der Schwelle seines Hauses das Leben hingegeben haben. Sie haben sich umsonst geopfert.
Der Raub drang dennoch hinein. In dem sonst lebendigen Hofe regt sich nur noch der von Flammenangst und Todeskampf gepeinigte Strauß, der von zwei Pfeilen durchbohrt, mit den ungelenken Flügeln flatternd, einen Ausweg sucht, und – blind vor Schreck – nicht findet. Ferne tönen die Silberglocken des Rehs; es sucht seinen Herrn; doch dieser fällt soeben – mit dem Alkalde dem Lagerhause zueilend – in die Hände des barbarischen Feindes, während auf den Stufen der Kirche Pater Xaver von einigen Abiponern gebunden wird, die in ihm den Padre des Orts zu fangen glauben. Aus den Fensteröffnungen des Lagerhauses, das ebenfalls schon brennt, dringt nebst dichten Rauchwolken der Wehruf ängstlicher Weiber. Zwei Krieger, furchtbar anzuschauen in den ungeheuern Federkronen, die ihre Eitelkeit dem Straußvogel der Savannen samt der Haut abstreifte, stürmen hinein, dem Rufen entgegen. Krachende Türen stürzen von oben auf sie hernieder. Ein Mann mit zwei Weibern, außer sich, mit versengten Haaren, stößt auf die Wilden, die ihn mit Löwenkraft aufhalten, packen und samt seinen Begleiterinnen ins Freie schleppen.
Hier lodern Fackeln und Brandglut. Hier halten die Kaziken auf ihren dampfenden Gäulen, und unter ihren roten goldverzierten Kopfbinden hervor rinnt der Schweiß der Ermattung auf die Brust der Starken. Der Anblick schöner Frauen reizt der rauhen Obern Lust. Ein Streit droht zwischen Rettern und Befehlshabern zu entspringen, da wirft sich das jüngste der Weiber zu den Füßen des Obersten und ruft ihm zu: »Siehst du denn nicht, daß ich deines Volkes bin? Gnade deshalb und Schutz für mich und dieses Weib, das meine Schwester geworden ist!«
Verwunderung spricht aus den Blicken der Zuhörer; jedoch überwältigt von dem süßen Klang der vaterländischen Zunge, klatschen sie lebhaft in die Hände und rufen: »Wahrlich! sie ist ein Kind unsers Großvaters, und sie mit ihrer Schwester soll heilig sein und frei!«
Justine und Ines wurden auf weiße Pferde gehoben und folgten dem Zuge der Führer, die sich den Jammer besahen, den sie angerichtet.
James wurde in der Kirche mit einigen andern lebendig Gefangenen, unter welchen sich sein Pflegevater befand, zusammengebunden. Nicht die Schmerzen der Brandwunden, die er, im Begriff, Justine zu retten, davongetragen, nicht die Ungewißheit seiner traurigen Lage zerriß ihm Herz und Gehirn. Seines zweiten Vaters, Justinens Verhängnis war seine Plage, war sein Kummer. Er weinte Tränen des Mitleids und ohnmächtiger Wut auf die Hände, die gebundenen Hände seines ehemaligen Versorgers. Dieser stand vor ihm, aufgerichteter als je, in seinem Leiden wie ein verklärtes Menschenbild. »Wenn eine Folter meine Seele preßt, so ist es die Angst um dich, um Justine,« sagte der Mutiggewordene. »Mein Schicksal beunruhige dich nicht. Glaube mir, in diesem Drange des Unglücks wird mein vom Zweifel und von der Sünde gespaltenes Herz wieder eins. Es klammert sich wieder an eine Hoffnung an: an die auf unsern Heiland. Nun ist der Augenblick gekommen, in welchem ein verlornes halbes Jahrhundert vielleicht durch die Märtyrkrone, die so vielen meiner Brüder zu teil geworden, Bedeutung gewinnt. Diese Krone ist die schönste, denn sie ist eine Versöhnende!«
James schwieg niedergeschlagen, teils von der Würde des Redners ergriffen, der in seinen Banden so frei war, teils von der Nichtigkeit aller Trostgründe überzeugt, in einer Stunde, deren nächste Minute allen Ueberwundenen den Tod bringen konnte; gewisser, als der nächste Mond ihre Freiheit. Münzner blieb aber ruhig und betete still für sich aus vollem Herzen.
Inzwischen war die Nacht zurückgewichen und der Morgen trat aus der Dämmerung. Wie die Sterne erbleichten, so erbleichte auch der Brand von Santa Dominica. Die von dem Sonnenauge beschämten Flammen krochen gebändigter in das stürzende und verkohlte Sparrenwerk zurück, aber die schwarzen rauchenden Stätten zeugten von ihrer Wut, und der Anblick der Leichen in den Gassen und Räumen der Mission von der bösen, bösen Nacht. Die Hüter der Gefangenen bedeuteten diese, sich auf den Weg zu machen. Auf dem Platze klang die Pfeife und die dumpfe kleine Trommel, zum Aufbruche mahnend. Die Gefangenen wurden mit Lianen auf Maultiere gebunden und deren Zügel von Reitern geleitet. Der Abzug der Abiponerhorde war siegreich und lärmend.
Jeder Krieger, beritten, und noch einige Pferde zum Wechseln neben sich führend, hatte sich mit Beute aller Art beladen. Die leichtesten Schwärme hüteten die Seiten des Zugs, in dessen Mitte die blökenden Schafherden, die gleichmütigen, aber vor Hunger brüllenden Ochsen in unübersehbarer Zahl gingen. Scharen von Hunden hielten diese lebendige Beute zusammen und ihr Geheul und Gebell bildete, vermischt mit dem Getöse der plaudernden, lachenden und singenden Wilden, einen seltsamen Einklang. Ueber erstochene Pferde und Menschen ging der Zug hinweg, wie über den weichen Rasen, an den Häusertrümmern vorüber, und südwärts durch niedergetretene Tabaks- und Kakao-Pflanzungen. Die Gegend, die gestern noch in allem Reize des Wohlstands und der Herrlichkeit geblüht hatte, lag nun zerstört vor den Augen der Fortziehenden. Der Rückwärtsblickende sah mit Wehmut die Rauchsäulen aus den Trümmern Dominicas emporsteigen und die hohen Palmen ihre Blätter über dem höllischen Schauspiele senken. So weit das Auge auf der Parana reichte, war kein Schiff mehr zu sehen.
Die gewandten Abiponer stellten sich hin und wieder aufrecht auf die trabenden Rosse und wendeten ihr Falkenauge im Rennen nach allen Seiten hin. Auf dem Flusse konnte nichts mehr wahrgenommen werden und so lenkte denn der Trupp der Anführer, der weit vor dem ganzen Zuge hinritt, landeinwärts. Noch einige Zeit ging es vortrefflich durch Baumwälder und schattige, frisch grünende Sumpfebenen. Bald änderte sich jedoch die Landschaft. Immer mehr und mehr wichen plötzlich die Wälder zurück. Der hohe Baum schrumpfte zum niedern Busch, der Busch zum dürftigen Gestrüpp ein, und endlich verkroch sich auch dieses in einen nackten einförmigen Boden, der kaum hin und wieder Sandstriche bot, aber nirgends einen Stein. Auf dieser Fläche angelangt, die in der Spätmorgenhitze den Gefangenen unerträglich schien, fing der Abiponer erst an, aufzuleben. Die unbeschlagnen leicht gezäumten Pferde flogen nur dahin. Lebhaft schwangen die Reiter ihre hölzernen Speere und die kleine Jagd begann. Nach allen Seiten streiften die Hunde aus, um Kaninchen aufzustöbern. Der Abiponer, ohne seinen Weg zu unterbrechen, stellt sich auf sein Roß, spannt den Bogen, zielt, und fehlt fast nie das von den Hunden herbeigetriebene Ziel.
Aber mitten in dieser Beschäftigung wird von den Vorderreitern ein langer grüner Saum gesehen, der längs dem Boden hinzieht und das Meer zu sein scheint, oder ein viele, viele Meilen lang gedehnter Strom. Sie werfen ihre Federbüsche in die Luft, und ihr jubelndes Geschrei, das sich den andern schnell mitteilt, verkündigt die Nähe einer ihnen angenehmen Gegend. Die Pferde werden heftiger angetrieben. Gleichviel, ob einer der Reiter stürzt. Er verläßt das zugrunde gerichtete Tier, um sich auf ein anderes zu schwingen. Immer näher kömmt der grüne Saum; höher bald, bald niederer scheinend.
»Die Savanne!« ruft Abiponer und Quaranier aus; jener freudig, dieser niedergeschlagen, weil sich dort sein Schicksal entscheiden soll.
Man betritt endlich den Rand dieser, ungeheuren Grasebene, auf welcher kein Baum steht, und kein Fels und kein wirtliches Dorf; nur etwa die leichte Hütte des wilden wandernden Jägers. Ein riesiger Strauß steht, wie der Wächter der grünen Wüste an ihrem Saume, und gafft neugierig nach den Kommenden. Ein gewandter Schütze sprengt auf ihn an. Zu spät denkt das verfolgte Wild an die Flucht. Schon wendet es sich, spreitet die Flügel aus, um mit ihrer Hilfe, schneller als das Pferd, das Weite zu suchen – da zerschmettert ein Pfeilschuß ihm das Beingelenk – es stürzt, wird eine Beute des Siegers, der ihm die Federn entreißt, mit denselben den Sattel seines Pferdes schmückt und lachend mit den Freunden in die Ebene einsprengt.
Welch ein reges Leben in diesen Flächen, von unglaublich hohem Grase bewachsen! Flüchtige Hirsche durchstreifen, wie ungewisse Schatten, kaum durch ihre Geweihe kenntlich, die Ferne. Tausende von wiehernden Pferden fliegen rechts durch die Halme. Nicht geringere Herden von Stieren setzen links durch das Grasmeer und lagern sich brüllend in demselben, das ihnen Schatten vor dem glühenden Sonnenbrand gewährt. Und der wilde Abiponer, dessen Pferd bis zum Sattel in den Halmen schwimmt, ereilt das flüchtige Roß und zähmt es durch die einfache Schlinge; er fällt den wilden Stier an, zerrt ihn mit der Schleife zu Boden, tötet ihn mit einem Streich, und nicht Notwehr, nicht Hunger rechtfertigt die tollkühne Tat; nur der leichtsinnige Mutwille, der, überlegener Kraft bewußt und ihr vertrauend, spielend die Gefahr reizt, hat sie ersonnen, und begonnen und vollendet.
Wenn nun die armen Gefangenen im Rücken des Zuges jene Aeußerungen ungebeugter Kraft wenig beachteten, so waren sie doch den Freiern, mit solchen Szenen Unbekannten, oder derselben Entwöhnten, ein besseres Schauspiel.
Justine, deren Pferd von einem höflichen Abiponer geleitet wurde, vergaß Leiden und Gefahr in dem neuen Anblick. Ines sah mit Herzklopfen die Gebräuche ihres Volkes wieder, und die Erinnerungen einer recht frühen Zeit wurden völlig in ihr lebendig, und mit der Erinnerung kamen auch die schweren Worte der Abiponer häufiger in ihren Kopf, geläufiger auf ihre Zunge. Ein Abiponersklave, der einige Jahre zu Santa Dominica gearbeitet und gelitten, hatte damals die Landsmännin gekannt und mit ihr die heimatliche Sprache geredet, und dem nun längst verstorbenen Manne verdankte Ines nun die bedeutende Hilfe, sich gegen ihre Landsleute verständlich zu machen, und ihrer Freundin Justine, die nicht einmal spanisch redete, nützlich werden zu können. Wie gerne hätte sie dann und wann die Spitze des Trosses verlassen, um nach den lieben Gefangenen zu sehen, nach dem Vater Luis, dessen Leben sie auch erbeten, nach dem jungen Manne, an dem sie so innig teilnahm, nach dem fremden Geistlichen, ihr ehrwürdig, weil er des Jünglings Pflegevater gewesen. Auch Justine – obschon das Herz in dauerndem Groll von Münzner und James gewendet – sah – unfähig ein schönes Mitgefühl zu unterdrücken – häufig nach der Gegend hin, wo die letzten Staubwolken aufflogen. Die Leute, die ihren Groll verdienten, waren seit der Schreckensnacht gewissermaßen ihre versöhnten Freunde geworden. Nur von ihren Lippen, mitten unter Hunderten von tobenden Barbaren, konnte sie ja die Töne hören, die ihr Ohr verstand; die Töne der Muttersprache, die unter solchen Umständen den Gemeinsten im Glauben des Vornehmsten adeln. Aber es war nicht möglich, von den Obern der Schar sich zu trennen. Der Führer, ein alter Kazik von einnehmenden Zügen und kühnem Blicke, ritt zwischen den Mädchen und ließ sie nicht aus den Augen. Neugierig und verwundert betrachtete er von Zeit zu Zeit Justine, und ihr edles, bleiches Gesicht flößte ihm, wie seinen Leuten, sichtlich Ehrfurcht ein. Nachdenkender betrachtete er Ines, und, wie selten auch seine Gebärden zu Justine sprachen, so häufig redete sein Mund zu Ines.
»Du armes Kind ohne Vater!« sagte er mitleidig zu dem Mädchen, »dort dämmern die Spitzen unserer Dächer. Vergiß alles Leid. Du wirst viele Mütter und Schwestern finden, und ein jeder von uns ist dein und der Fremden Freund, weil du sie liebst.« »Ihr werdet doch den übrigen kein Leid zufügen?« fragte Ines forschend dagegen. »Der Kapitän, mein Bruder, hat darüber zu entscheiden und die weise Pilagoterigenat!« erwiderte der Kazil achselzuckend, »je mehr ich aber dich ansehe, Kind, je bewegter wird mein Herz. Ich habe nie eine Tochter gehabt, sonst müßtest du die meinige sein.«
Das Lager des Stamms wurde sichtbar und deutlicher. Leichte Rohrdächer auf schlanken Pfählen ragten in die Luft. Einige zerfetzte, irgendwo den Spaniern abgenommene Zelte brüsteten sich, von fliegenden Wimpeln umgeben, in der Mitte der regellos zerstreuten Hütten. Ein Graben schloß das Lager ein, aber diesseits des Grabens weideten die Pferde des Volks, und der erste Laut, den die Ankömmlinge vernahmen, war die Glocke der Madrina. Einige Augenblicke später ertönte ein gellender Ruf aus vielen Weiberkehlen. Aus dem hohen Grase stiegen Pferde auf. Auf ihrem Rücken hingen die abiponischen Weiber: Mädchen und Frauen. Die ersteren trugen den aus der Ferne gesehenen Männern Schläuche mit Chica, die zweiten die Säuglinge an der Brust entgegen. Ihr Jubel war grenzenlos und scheuchte die Hundebanden ins Weite, die außerhalb des Lagers an den Ueberbleibseln der geschlachteten Ochsen und Schafe nagten. Gestreckten Laufs kamen die Weiber heran, schöne Gestalten, den wohlgebauten Männern nicht nachstehend, freundlichen Angesichts, mit rabenschwarzen Haaren. Das Wiedersehen hatte alles Feuer des Südens. Ein lustiges Getümmel mischte sich in den kriegerischen Zug. Die Lanzen und Bogen wurden den Männern abgenommen, der Met ihnen kredenzt, und nach dem ersten Sturme des Willkommens reihte sich die Schar der Weiber um Ines und Justine. Die blendende Farbe der letztern, ihr fremdartiger Anzug, die Entschlossenheit, mit der sie zu Pferde saß; ihre Freundlichkeit, trotz der Lage einer Gefangenen, erregte Teilnahme. Die Weiber berührten ihre Hände, ihr Gesicht; zogen ihre seidenen Haare durch die Finger, erstaunten über ihre Augenbrauen und Wimpern, welche von den Abiponern vertilgt werden; verwunderten sich, daß sie kein eingeätztes Kreuz auf der Stirne trug, noch eingegrabene Figuren auf den Armen und Füßen, wie die Abiponerinnen, sagten ihr tausend Schmeichelworte, von welchen die arme Deutsche nichts begriff, und führten sie, samt der lebhaft begrüßten Ines, die nicht genug erklären konnte, nach dem Zelte der Kapitana, während der ganze Kriegertroß sich's in der wandernden Heimat bequem machte, die Weiber mit Geschenken vergnügte, das Gepäck ablud und die Pferde in die Weide jagte. Die Kapitana saß unter dem Eingange des Zeltes und auf ihrem Schoße ruhte ein vor wenigen Tagen geborner Sohn. Die Mädchen klopften mit Zweigen an die Wand des Zeltes und riefen: »Heil bringe dem Sohne die Fremde, die wir ihm zuführen!« Die Frau des vornehmsten Kaziken, dieselbe, die unter dem Eingange saß, ein nicht mehr junges, aber rüstiges Weib, stand auf, ging Justinen entgegen und hielt eine lange Anrede. Ines antwortete der Begrüßung. Nun schlugen plötzlich alle Umgebenden verwundert in die Hände und riefen: »Bei unsern Vorfahren! ist diese nicht die Tochter unserer Mutter? Der Gejenk der Savannen hat noch nie zwei Eier gelegt, die sich ähnlicher gewesen wären!« Die Kapitana schrie auf und fiel in Ines Arme. »Ach!« sagte sie weinend, »bist du's denn, arme, verlorne Misinga? die ich, auf der Flucht vor den bösen Waldreitern, entschlafen auf dem Pferde, aus den Armen verlor? Hat dich das Raubtier nicht verzehrt? Hat dich der Spanier nicht mißhandelt? Bist du's denn gewiß und keine Zauberin, die eine Mutter täuscht?«
Ines erkannte der Mutter Stimme wieder. Sie durfte, sie wollte nicht mehr zweifeln. Die Weiber schlugen jauchzend die Trommeln und die Kapitana riß mit dem Rufe: »komme zum Vater!« die Tochter und Justine ihr nach ins Zelt. Hier lag der Kapitän, der Sitte des Volks gemäß, auf einer Matte, in Decken eingewickelt und hielt in strengem Fasten die Wochentage seiner Frau. Allenthalben, wie eine Wöchnerin, vor Zug und Sonnenstrahl geschützt, und mit Bedeckung überflüssig versehen, horchte er gerade in seiner trübseligen Lage, während Freunde um sein Lager saßen und schmausten, auf das Märchen, das ihm ein häßliches Weib erzählte, welches, abenteuerlich mit Federn und Zweigen geschmückt, neben seiner Matte auf der Erde saß. Kaum vermochte die Nachricht von dem glücklich errungenen Siege und dem Wiederfinden seiner Tochter ihn zu bewegen, die Stellung worin er sich befand, einigermaßen zu verlassen. Er streckte der weinenden Ines die Hände entgegen und rief ihr Willkomm zu. Einige junge Leute, die mit im Streifzuge gewesen waren, begrüßten und umarmten Ines als ihre Schwester. Die Kapitana war außer sich vor Freuden, und endlich priesen alle vereint sowohl das Schicksal, das ihnen dieses Vergnügen gemacht, als die mildtätigen Menschen, die für Misinga Sorge getragen. Ines benutzte diesen Zeitpunkt und sagte: »Vater! Mutter! Brüder! diese Menschen sind von euch gefangen. Löst ihre Bande und erfüllt für mich die Pflicht der Dankbarkeit!«
»Sie sollen meine Gäste sein, wenn Pilagoterigenat es erlaubt,« sagte der Kazike, nach dem häßlichen Weibe sehend.
Dieses, die Zauberin und Wahrsagerin der Horde, verdrehte überlegend die Augen, klopfte mit seltsamen Gebärden auf die Trommel von Otternhaut, die ihr zur Seite stand und antwortete mit singendem Tone: »Balichu will mehr als geschlachtete Pferde, er will Hirnhäute der Feinde, sonst wird nimmer der Großvater genesen.«
Mit diesen Worten kam plötzlich allgemeine Betrübnis über die Weiber; sie warfen sich zur Erde, zerschlugen sich die Brust, zerrauften das Haar.
»Der Großvater ist krank, und läßt sich nicht am Himmel sehen,« erläuterte der Kazike seiner Tochter sehr niedergeschlagen, »Balichu will ihn umbringen. Noch nie ist er so lange ausgeblieben. Es muß geschehen, was Pilagoterigenat befiehlt.«
»Misingas Wohltäter müssen am Leben bleiben!« rief ein Bruder des Mädchens, »wir haben Quaranier gefangen. Sie mögen fallen!«
»Mordet doch keine Menschen!« bat Ines mit ängstlicher Rührung, »das bringt euch nimmer Segen!«
Die Gefangenen wurden in das Zelt gebracht. Die Zauberin sah nach dem dämmernden Himmel und sagte: »Steh' auf, Kapitän, deine Zeit ist vorüber. Dein Kind hat nichts mehr zu befahren. Iß und trink, und wähle mit deinen Freunden Balichus Opfer!«
Eilfertig folgte der Kazike dem Befehl, ließ Speise und Trank herbeischaffen und setzte sich mit seinen Freunden, den Anführern, unter den Eingang des Zeltes zum Schmause und Gericht. Der ehrwürdige Luis eröffnete den Trupp der Gefangenen, erschöpft aber mutig. Münzner folgte ihm, standhaft, emporgerichtet, auf alles gefaßt. James, der dritte, warf einen Blick in Justinens Auge, das Versöhnung und Angst ausdrückte, und dieses Auge gab ihm Mut. Einige Indianer, gebunden und niedergebeugt, machten den Beschluß. Ines flog an Luis' Hals, streckte ihre Arme über James und seinen Pfleger aus und rief: »Diese sind mein! diese dürfen nicht sterben, sondern beim Vater bitten für uns! Pilagoterigenat, von dem Ehrfurcht gebietenden Aussehen der Priester gerührt, nickte mit dem Kopfe, und die Bande der Geschützten wurden gelöst; sie setzten sich zum Mahle des Kapitäns nieder, der ihre Stirne berührte, ihnen zu essen reichte und somit ihre Freiheit heiligte. Ines führte Justine mit schmeichelnder Gebärde in den Kreis der Mädchen, die, wie die Frauen, abgesondert standen. Alle Blicke richteten sich nach den, zum Opfer bezeichneten Quaraniern, und des edeln Luis Mund bewegte sich, um eine Fürbitte für die Armen einzulegen. Der Abiponersprache mächtig, so wie diese Wilden mit dem Spanischen etwas vertraut, durfte er hoffen, angehört zu werden. Die Quaranier hingegen, die geschmeidigen Leute, ihr Schicksal voraussehend, versuchten das letzte Mittel, eilten auf die blutdürstige Zauberin zu, warfen sich ihr zu Füßen, gaben ihr hundert Schmeichelnamen, nannten sie den blühenden Vollmond und bettelten bei ihr um das Leben. Die Eitelkeit der alten Frau wurde rege. Die Flehenden waren hübsche, junge Leute, die sich ihrer Fürbitte anvertrauten. Sie nickte bald, bald schüttelte sie nachdenklich das Haupt, und an ihren Bewegungen hing der Kaziken Auge. Nun rührte das Weib abermals die Trommel, starrte vor sich hin, renkte und krümmte sich, murmelte viele unverständliche Worte und sang dann, wie in Verzückung: »Hört, Kapitane! Hört, Abiponer! ihr schnellen Reiter in den Heiden! Ihr schnellen Feinde der Straußenbrüder! Hört, was Pilagoterigenat euch verkündet! Ihr seid menschlich und liebevoll im Streite; ihr macht eure Gefangenen zu euren Brüdern; ihr fraßet sie nie, wie die bluttriefenden Chiriguaner! Ihr werdet auch diese hier, ob sie gleich schlechte, weichliche Quaranier sind, nicht schinden, aber Balichu hat Hunger, der gestillt werden muß, damit er den Großvater wieder loslasse. Ihr seid glücklich im Siege, der Met ist geraten, die Pferde sind gesund, und ihr lebet lange, weil ihr gerecht seid! Eure Sünde hält den Großvater nicht in Schweiß und Mattigkeit gefesselt. Eine fremde Sünde muß es also tun, und diese Sünde liegt in dem Fremden, den Bitalighuru vor wenigen Sonnen ins Lager brachte. Ihr erquickt, ihr Menschlichen, in ihm des Großvaters Tod. Ich koche ihm keinen Trank mehr. Ich röste ihm nicht mehr die Algarova. Betrachtet sein Stöhnen, sein Seufzen, seinen Schreck vor dem Schatten der Wolken! wie er zitterte, als neulich das Gewitter daher fuhr! wie er bebte und die Hände rang! Er ist ein Verbrecher, und sein Tod – das ist Pilagoterigenats letztes Wort – besänftigt allein unsern Feind.«
Mit lautem Geschrei wurde der Hexenmeisterin Vortrag aufgenommen und viele junge Leute stürmten fort nach der abgelegenen Hütte, die den Unglücklichen, so kaltblütig zum Tode Verurteilten beherbergte. »Jesus, was wird das geben!« sagte der Pfarrer von Dominica zu dem Pater Xaver, »hat mein Auge nicht schon der Greuel genug gesehen?«
Münzner seufzte still vor sich hin. James forschte nach Erläuterung der seltsamen Bewegung um ihn her. Justine blickte neugierig und beunruhigt nach der Ferne, woher der Lärm der Rückkehrenden sich vernehmen ließ. Ein armer, leidender Mensch wurde auf einer Stierhaut herbeigetragen. Zwei Jünglinge mit Skalpiermessern tanzten vor ihm her. Neugierig erhob sich alles, den zum Tode Bestimmten zu sehen, der vor dem Kapitän niedergelegt wurde. Die Schwarzkünstlerin, begierig, endlich ihren Willen erfüllt, Blut fließen zu sehen, gebärdete sich rasend, auf den Verdammten zeigend und schreiend: »Der ist's! der ist's! herunter mit seinen Haaren! Aus dem Leibe sein Herz!«
Die Weiber heulten laut auf. Die Männer sangen ein Totenlied. Die Opferer näherten sich mit seltsamen pathetischen Gebärden dem Schlachtopfer. Luis und Xaver knieten, zugedrückten Auges, betend hinter dem stehenden Volke. Ines umklammerte zitternd Justine. Diese jedoch stürzte mit einem hellauf jammernden Schrei auf den Gegenstand des Bedauerns und der Wut hin, umfaßte ihn krampfhaft und kreischte, daß die weite Ebene hallte: »Um Gottes Barmherzigkeit und Gnade willen! Menschen! haltet ein! das ist mein Vater!«
Eine allgemeine Verwirrung entsteht nun. Das Beginnen der stummen Fremden erregt Staunen. Die Priester blicken auf, erkennen den Senator, der, abgehärmt wie der Tod, kümmerlich in eine Decke gehüllt, ohnmächtig an dem Busen der verzweifelnden Tochter hängt; James sieht die Mordmesser über Justinens Haupte schweben. Des geliebten Mädchens Gefahr reißt ihn über die Schranken jeder Bedenklichkeit. »Justine!« ruft er und setzt in den Kreis, stößt die Mordlustigen von dem Mädchen zurück, trotzt jeder Mißhandlung. Die aufhetzende Zauberin wütet ihm gegenüber, Schaum vor dem Munde und Zittern in allen Gelenken, »Fort mit der tollen Fremden!« brüllte sie, »das Böse sitzt in ihr. Fort mit ihr, wenn euer Leben und der Großvater euch lieb sind!«
Es gibt unter der Menge Gemüter, die dem Aberglauben unbedingt gehorchen. Diese werfen James zu Boden und schleppen ihn zur Seite. Ines, ihre geliebte Sennora zu retten, umfaßt Justine mit voller Gewalt, und die übrigen Weiber, ohne auf ihr Zetergeschrei zu hören, zerren sie von dem Vater hinweg. Der Aermste ist aber noch nicht dem Feinde preisgegeben, denn, stark wie ein Löwe und stolz wie dieser, umschlingt den Betäubten der Pater Xaver. Ein siegverdienender Heldenmut blitzt aus seinem Auge, zwanzig Jahre scheinen von seinem Scheitel entflohen zu sein. »Müssinger!« ruft er dem sich Ermannenden ins Ohr, »du lebst noch! noch sehe ich, der Reuige, dich wieder! Vergib, wie ich bereue. Mein Blut für dich, oder mit dem deinen!«
Lächelnd sieht er gen Himmel; aus dem dämmernden Azur scheint die Marterkrone auf sein Haupt hernieder zu schweben. »Klara!« sagt er mit leiser himmlischer Sehnsucht, »ich bringe ihn dir! wir kommen zusammen! hilf uns empor!«
Während James wütet, Justine laut jammert, die Zauberin rast, und die Haufen um das festumschlungene Paar versammelt, unschlüssig auf das Schauspiel sehen, redet Pater Luis mit Donnerkraft zu den Kaziken und schildert ihnen die Schändlichkeit des Mords, die Unzulässigkeit ihres Wahns, die Lügen ihrer Prophetin. Sie horchen aufmerksam zu, aber betrübt klingen stets die Worte wieder: »Der Großvater stirbt; Vater, sollen wir ihn sterben lassen?«
»Gott ist euer Vater!« predigt mit jugendlichem Feuer der Greis, »jene Sterne sind nicht eure Ahnen, sondern ein Werk seiner mächtigen Hand! Seinen Gesetzen folgen sie, und treten aus den Wolken, wann er, unser einziger, heiliger Gott, es will; nicht, wann ihr einen Menschen schlachtet. Noch mehr, meine Freunde! ein Gedanke fliegt aus meiner Seele zum Himmel auf, ein einziger – eine Bitte, und dort leuchtet schon das Siebengestirn!«
Den Zeitpunkt der Wiederkehr des Sternbilds geschickt benützend, deutet der Jesuit gen Himmel, wo es in seiner Pracht hervorgetreten war. Aller Augen folgen dem Fingerzeig; alle Mienen beleben sich mit Freude und Lust. Ein Helles Gejauchze erschüttert den Plan. »Großvater!« rufen Männer, Weiber und Kinder, springend, tanzend und in die Hände klatschend, »bist du endlich wieder zu uns Verlassenen zurückgekehrt? Bist du nicht mehr böse auf uns? wie danken wir dir, lieber Vorfahr! sei gegrüßt!«
Und Feinde umarmen sich, und für die Gefangenen fließt Met und Chica in vollen Strömen, und an Mord wird nicht mehr gedacht, noch an die Zauberin, die sich beschämt entfernte! Justine liegt ungehindert in des Vaters Armen, James in denen des Pflegers, die Kaziken zu den Füßen des Priesters, dessen Wort und Gottesverheißung so schnell in Erfüllung gegangen. Im Nu ist ein anderer Geist lebendig geworden, die Trauer ist gewichen, und das Siegesmahl und das Fest des Siebengestirns verschmelzen in eine Feier. Jeder liefert seinen Beitrag hierzu. Der Platz vor des Kapitäns Zelte wimmelt von frohen Menschen. Lebensmittel und Getränke kommen im Ueberflusse herbei. Trommeln und Pfeifen blasen zum Tanz und rufen die Mädchen, die ihren Reihen bilden. Nach der seltsamen Musik einer mit Steinen gefüllten Kürbisflasche tanzt in wüsten Stellungen die Schwarzkünstlerin, die sich wieder eingefunden, Gruppen von jungen Leuten ringen und springen, andere singen Kampfgesänge; die Weiber, auf ihren Matten abgesondert, stimmen mit ein, und auf den Häuten des Jagurate ober des Stiers gelagert, trinken die Männer aus Hirnschädeln erschlagener Feinde oder getreuer Hunde, oder aus großen Stierhörnern den berauschenden Met, die gärende Chica; hören dem Pfarrer von Dominica zu, preisen den Gott der Spanier und beschließen im Rausche, zum Dank Christen zu werden. »Wir haben deine Kinder getötet,« sagen sie dem Pater treuherzig, »weil wir euch für unsre Feinde hielten und nach Beute lüstern waren; aber – wir selbst wollen von nun an dich Vater nennen und deinen Kaziken gehorchen, und dem, den du Gott nennst, denn er ist ein starker Geist, und, wahrlich, des Fremden Blut hätte es nicht allein getan!«
James und Münzner hatten sich indessen, Arm in Arm verschlungen, aus dem Gewühle entfernt und gingen, erzählend und dankend und zufrieden, längs dem Graben hin. Sie kamen an ein schmales Rohrgezelt, wohin Ines den Senator mit Justine hatte bringen lassen, damit sie ungestört seien. Auf dem Tummelplatze des freudigen Schmauses brannten hundert Fackeln, hier leuchtete nur der milde Sternenschimmer. Der kranke Vater schlief, Justine saß zu seinen Füßen, und ihr Herz war leidend und selig froh zugleich. Ines hatte sich herbeigeschlichen und die Mädchen kauerten einander gegenüber, und drückten sich nur die Hände, und streichelten sich nur die Wange, und bedurften der Sprache nicht im geringsten. Das Abendlicht war so helle, daß Justine ohne Mühe den Doktor und seinen Begleiter erkennen mochte, als sie in das Zelt traten. Sie stand schnell auf, streckte ihnen die Hände entgegen und sagte, voll von dem ruhigen Schmerze, gegen den die Bosheit selbst keine Waffen hat, »was wollt Ihr hier, Herr Doktor? was Ihr, Monsieur White? O kehret um, ich bitte euch. Dort liegt mein Vater – vielleicht in seinem letzten Schlummer! laßt ihn, wenigstens im Tode, seiner Tochter. Ihr habt den Wein seines Lebens vergeudet, laßt mir die Neige.«
Sie setzte sich stumm zu des Kranken Seite nieder, und die Männer flohen vor ihrer Rede. Sie gingen weiter. James mit Tränen im Blicke, Münzner mit Feuerqual in der Brust. »Kaum wieder neu belebt durch das Leben meines Freundes,« sagte der Doktor schwermütig, »so verstößt mich auch schon wieder der Tochter allzugerechter Vorwurf aus dem wiedergewonnenen Paradiese. Wie sehr bin ich der Vergebung bedürftig! auch der deinen, mein Sohn! Ich habe falsch geglaubt, falsch gehofft, falsch gehandelt! Gutes wollen und übel tun – welch verlornes Leben!«
»Wir wollen zusammen gehen!« erwiderte James, »zusammen und vereint dulden, wenn diese wilden Räuber uns nicht vereint noch töten; hören Sie, wie ihre Stimmen jubeln? vernehmen Sie den trunknen Gesang? welche Schrecken, welche nie erhörte Lage umgibt uns? ist es nicht ein Traum, daß ich auf der Parana schiffte, in Dominica Sie wiederfand? daß wir nur durch ein Wunder dem Brande, dem Tode entgingen, daß wir hier in den Savannen atmen, und unter diesem Himmelsstriche den Senator wiedergefunden haben? Rütteln Sie mich, mein Vater, daß ich erwache; denn sicher wohnen wir noch in der Rahmgasse, und alles ist nur Täuschung, eines schweren Schlummers Werk.«
»Wäre es doch also!« versetzte Münzner, »leider leben wir in der rauhsten Wirklichkeit. Dieser Himmel ist der Südamerikas, dort ragen die Zelte und Rohrdächer der Abiponer; in der Ferne heult der Tiger, und der Kaiman weint nach einem Raube. Alles ist wirklich um uns her, und Gottes Allmacht ist auch hier mit uns, so wahr, als dort ganz in der Ferne von den Höhen ein Feuermeer zu wallen scheint.«
»Wahrlich!« sagte James, hinsehend, »welch neue Erscheinung; ist nicht alles wunderbar in diesem zauberischen Lande? brennt dort ein vom Winde bewegter Wald? Oder fließt ein glühender Lavastrom um den Saum der Savanne?«
Mit raschen Schritten eilten sie dem Feste zu. Die Indianer hatten die Erscheinung ebenfalls bemerkt und standen, sie still betrachtend. Das Feuer, wandelnd, abwärtssteigend, verschwand bald, bald kam es wieder hervor; endlich wogte es tief unter, daß nur der Schein am Firmamente es bemerkbar machte.
»Das ist nicht Wald-, nicht Erdfeuer!« sagte ein Abiponer, dessen Augen, im Dunkel sogar, Falkenschärfe hatten, »das sind wandelnde Holzbrände! ein Feind, der uns das Gras abbrennen will, ist's, der dort kömmt.«
Die Abiponer gerieten in stürmische Bewegung. Die Männer pfiffen den Pferden, die Weiber den Hunden. Kinder und Herden, Alte und Kranke, Waffen und Vorräte wurden auf einen Haufen geschleppt, alle Fackeln ausgelöscht, tiefe Stille geboten, und lauschend drückten, die vordersten Wachen des Volks das Ohr an die Erde. Diese Kinder der Natur, mit den geschärftesten Sinnen, hören aus weiter Ferne das Schnauben von Tieren, die aus dem stillen Lager im Grase gejagt schienen, Gemurmel und Getöse von Menschen.
»Beruhigt euch,« sagte Pater Luis zu seinen beiden Gastfreunden, dem Doktor und James, »ich weiß, was sich uns naht. Ich hoffe darauf mit Zuversicht. Jene Berge sind Brasiliens Vormauern. Der Indianer, von welchem ich Ihnen sprach, mein Vater, war unter den Gefangenen der verwichenen Nacht, war mit mir aufs selbe Pferd gebunden, wußte seine Bande zu lösen. Gott schütze dich, Vater, sagte er, leise vom Pferde unter den Troß des Viehs gleitend, ich bringe dir Hilfe. Dort hinter den Bergen liegt der gute Jesus in den Wildnissen, und ich bin dort wie ein Pfeil, wenn mich kein Abiponer erschießt. Im Grase kriechend verlor er sich aus den Augen, und gewiß – ganz gewiß ist jenes Lichtmeer ein Bote seiner Hilfe. Unsere Fackeln zeigten den von den Bergen Steigenden die Richtung nach unserm Aufenthalt, und sie kommen jetzt sicher, um uns zu befreien.«
Die Abiponer rührten sich nicht, im Anschauen der seltsamen Erscheinung verloren, und vertrauten auf des Pfarrers Wort, der ihnen versicherte, es würde nicht ihnen, nicht den Ihrigen ein Leids geschehen, so lange er auf ihrer Seite stände. Der Tag war bereits angebrochen, als sich im Strahle des Morgenlichts die Szene entwickelte. Durch die grasige Ebene näherte sich ein großer Haufe. Gewehre blitzten in langer Reihe. Dieser Anblick entmutigte die Abiponer und sie wollten, dem Pulverblitze feind, die Flucht ergreifen. Pater Luis hielt sie mit seiner Beredsamkeit im Zaume. Die fremden Krieger machten auf Flintenschußweite Halt. Sie hatten sich beinahe sämtlich mit Pferden der Savanne beritten gemacht. Eine schimmernde Fahne flatterte in ihrer Mitte. Die Abiponer staunten das Panier mit dem goldenen Kreuz an und blickten auf Don Luis, der die Obersten aus ihnen wählte, und, von ihnen, Pater Xaver, James und der dienstfertigen Ines begleitet, wie in einer feierlichen Prozession, mit weißen Federn wehend, auf die Fremden losging. Weiße, schwarze und rotbraune Männer saßen regungslos, den Karabiner oder die lange Flinte in der Faust, auf den Pferden; dürftig gekleidet, aber voll von Kraft und Mut. Bei dem Paniere hielt, von einigen besser gekleideten Anführern umgeben, der Hauptmann des ansehnlichen Trupps, eine herrliche Mannsgestalt mit schwarzem Bart und frisch geröteten Wangen, in eine leichte braune Kutte gehüllt, Stiefel und Sporen an den Füßen, einen Strohhut mit einer bunten Feder auf dem Kopfe. Ein breiter Lebergürtel hielt ein Paar Pistolen und einen gewichtigen Säbel. Eine Doppelflinte hing über seinem Rücken. Kaum hatte er von ferne den Pater Luis wahrgenommen, als er vom Pferde sprang und stürmisch auf ihn zulief. »Beim heiligen Jakob!« rief er ihm auf spanisch zu, »Onkel! kennen Sie den Vetter Vereira noch? finden wir uns hier, und bin ich nicht gekommen wie der Blitz? Ihr Name, den mir der Bote nannte, war genug: mein Korps stieß zusammen, und hier sind wir; fast unzufrieden, Euch nicht mehr in Ketten zu finden, um Euch zu beweisen, wie ernst mir's war.«
»Ich bringe Euch hier ein Volk von Gefangenen,« sagte Luis hierauf, »Gefangene im Glauben. Statt ihr Feind zu sein, werdet Ihr Taufpate!«