Johanna Spyri
Wie Wiselis Weg gefunden wird
Johanna Spyri

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Kapitel.
Daheim, wo's gut ist

Als Otto und seine Schwester durch den langen, steinernen Hausflur hereinstürmten, trat die alte Trine aus einer Tür und hielt ihr Licht in die Höhe, um besser zu sehen, was dahergetrappelt kam. »So, endlich!« sagte sie, halb zankend, halb wohlgefällig. »Die Mutter hat schon nach euch gefragt, aber da war kein Bein zu sehen. Und acht Uhr hat's geschlagen – vor wer weiß wie langer Zeit.« Die alte Trine war schon Magd in der Familie gewesen, als die Mutter der beiden Kinder zur Welt kam. So hatte sie große Rechte im Haus und fühlte sich durchaus als Familienmitglied, eigentlich als Oberhaupt, denn an Alter und Erfahrung war sie die erste. Die alte Trine war vernarrt in beide Kinder ihrer Herrschaft und sehr stolz auf alle ihre Anlagen und Eigenschaften. Das ließ sie aber nicht merken, sondern sprach immer in entrüstetem Ton mit ihnen, denn das fand sie erzieherisch.

»Schuhe aus, Pantoffeln an!« rief sie jetzt. Der Befehl wurde aber gleich darauf von ihr selbst vollzogen, denn sofort kniete sie vor Otto hin, der sich auf einem Sessel niedergelassen hatte, und zog ihm die nassen Schuhe aus. Die kleine Schwester stand inzwischen mitten in der Stube und rührte sich nicht, was sonst nicht ihre Art war, so daß die alte Trine während ihrer Arbeit ein paarmal hinüberschielte. Jetzt war Otto gerüstet, und Miezchen sollte auf dem Sessel sitzen. Aber es stand noch auf demselben Platz.

»Nun, wollen wir warten, bis es Sommer wird, dann trocknen die Schuhe von selbst«, sagte die Trine.

»Pst! pst! Trine, ich habe etwas gehört. Wer ist in der großen Stube?« fragte Miezchen und hob den Zeigefinger.

»Alles Leute mit trockenen Schuhen, und andere kommen nicht hinein. Jetzt setz dich«, mahnte Trine.

Aber anstatt zu sitzen, sprang Miezchen hoch und rief: »Jetzt habe ich's wieder gehört, so lacht der Onkel Max.«

»Was?« schrie Otto und war mit einem Satz bei der Tür.

»Wart! wart!« schrie Miezchen nach und wollte gleich mit zur Tür hinaus. Aber jetzt wurde es abgefaßt und auf den StuhI gesetzt, die alte Trine hatte jedoch einen schweren Stand mit den zappelnden Füßchen. Doch gelang die Arbeit, und nun stürzte Miezchen zur Tür hinaus und hinüber in die große Stube und direkt auf den Onkel Max los, der richtig dort im Lehnstuhl saß.

Da war nun ein großer Freudenlärm und ein Grüßen und ein Willkommenrufen in allen Tönen, und in das Lachen der Kinder stimmte der Onkel Max mit ein. Es dauerte einige Zeit, bis sich der Tumult etwas gelegt hatte und die Festfreude einen ruhigen Charakter annahm. Denn ein Fest für die Kinder war der Besuch des Onkels jedesmal und aus triftigen Gründen. Der Onkel Max war ihr besonderer Freund. Er war fast immer auf Reisen und kam nur alle paar Monate einmal zu Besuch. Dann gab er sich aber mit den Kindern ab, als gehörten sie ihm selber an. Und was er für wunderbar herrliche Sachen in allen Taschen für sie brachte, das war mit nichts zu vergleichen, denn es war alles ganz fremdartig und zauberhaft. Der Onkel Max war ein Naturforscher und reiste in allen Winkeln der Erde umher. Und aus jedem brachte er etwas Eigentümliches mit.

Endlich saß die Gesellschaft geordnet um den Tisch herum, und die dampfende Schüssel brachte völlige Besänftigung in die aufgeregten Gemüter. Denn von der Schlittenbahn wurde immer ein richtiger Appetit mitgebracht. »So«, sagte der Papa und blickte über den Tisch hinüber, wo an der Seite der Mutter das Töchterchen fleißig arbeitete. »So, so, heute hat also das Miezchen keine Hand für seinen Papa, noch habe ich keinen Gruß bekommen. Und jetzt ist keine Zeit mehr dazu.«

Etwas zerknirscht schaute das Miezchen von seinem Teller auf und sagte: »Aber Papa, aber ich habe es nicht mit Absicht getan, und jetzt will ich gleich...« Und damit stieß sie mit großer Anstrengung den Sessel zurück.

Aber der Papa rief: »Nein, nein, jetzt nur keine Ruhestörung! Da gib die Hand über den Tisch hin, das übrige wollen wir dann nachholen. So ist's recht, Miezchen.«

»Wie hat man eigentlich das Kind getauft, Marie? Ich war zwar auch dabei, aber ich habe keine Ahnung, welcher Name in der Kirche ausgesprochen wurde, Miezchen doch nicht?« sagte der Onkel lachend.

»Du warst wirklich dabei, Max«, entgegnete seine Schwester, »da du der Pate des Kindes bist. Es erhielt damals den Namen Marie. Sein Papa machte daraus ein Miezchen, und Otto hat den Namen noch recht unnütz vervielfältigt.«

»O nein, Mama, wirklich nicht unnütz«, rief Otto ernsthaft. »Siehst du, Onkel, das geht nach ganz bestimmten Regeln. Wenn das kleine Ding ordentlich und sanftmütig ist, dann nenne ich es Miezchen. Das geschieht aber selten, und im gewöhnlichen Leben nenne ich es daher Miezi. Wird es aber böse, dann sieht es ganz aus wie ein kleiner wilder Kater und muß Miez genannt werden, der Miez.«

»Ja, ja, Otto«, tönte es nun zurück, »und wenn du böse wirst, dann siehst du ganz aus wie ein – wie ein...«

»Wie ein Mann«, ergänzte Otto, und da dem Miezchen eben kein Vergleich einfiel, so arbeitete es jetzt um so emsiger an seinem Brei herum.

Der Onkel lachte laut auf. »Das Miezchen hat recht«, rief er, »es ist besser, sich um seine Geschäfte zu kümmern, als auf Schmähungen zu antworten.« »Aber, Kinder«, setzte er nach einer Weile hinzu, »nun bin ich fast ein Jahr nicht hier gewesen, und ihr habt mir noch gar nichts erzählt. Was habt ihr denn inzwischen alles erlebt?«

Die neuesten Ereignisse erfüllten zunächst den Sinn der Kinder. So wurde gleich mit großer Lebhaftigkeit, meistens im Chor, die eben erlebte Geschichte erzählt, wie der Chäppi das Wiseli behandelt hatte, wie es fror und im Schnee stand und keinen Schlitten hatte und endlich doch noch zu zwei Fahrten kam.

»So ist's recht, Otto«, sagte der Papa. »Du mußt deinem Namen Ehre machen, für die Wehrlosen und Verfolgten mußt du dich immer einsetzen. Wer ist das Wiseli?«

»Du kannst das Kind und seine Mutter kaum kennen«, sagte die Mama, zu ihrem Mann gewandt. »Aber der Onkel Max kennt Wiselis Mutter recht gut. Du kannst dich doch noch auf den mageren Leineweber besinnen, Max, der unser Nachbar war. Er hatte ein einziges Kind mit großen braunen Augen, das oft bei uns im Pfarrhaus war und so schön singen konnte. Erinnerst du dich?«

Bevor aber die weiteren Erinnerungen besprochen wurden, steckte die alte Trine ihren Kopf zur Tür herein und rief: »Der Schreiner Andres möchte gern der Frau Oberst einen Bericht abgeben, wenn er nicht stört.« Diese harmlosen Worte verursachten große Verwirrung in der Gesellschaft. Die Mutter legte den Servierlöffel, mit dem sie soeben dem Onkel entgegenkommen wollte, beiseite und sagte eilig: »Entschuldigt mich!« Rasch ging sie hinaus. Otto sprang so stürmisch auf, daß er seinen Stuhl umwarf und dann selbst darüber stürzte, als er davonlaufen wollte. Das Miezchen hatte ähnliche Taten vor, aber der Onkel hatte seine ersten Bewegungen zum Aufruhr gesehen und hielt es nun mit beiden Armen fest. Aber es zappelte jämmerlich und schrie: »Laß los, Onkel, laß los. Im Ernst, ich muß gehen.«

»Wohin denn, Miezchen?«

»Zum Schreiner Andres. Laß schnell los! Hilf mir, Papa.«

»Wenn du mir sagst, was du vom Schreiner Andres willst, so lasse ich dich los.«

»Das Schaf hat nur noch zwei Beine und keinen Schwanz, und nur der Schreiner Andres kann ihm helfen. Jetzt laß los.« Nun stürmte auch das Miezchen fort. Die Herren schauten einander an, und Onkel Max brach in Gelächter aus und rief: »Wer ist denn der Schreiner Andres, um den deine ganze Familie sich zu reißen scheint ?«

»Das mußt du besser wissen als ich«, entgegnete der Oberst. »Es wird wohl ein Jugendfreund von dir sein und das Fieber der Verehrung wird auch dich noch ergreifen. Es muß in eurer Familie sein, bei uns hat es die Mutter verbreitet. Ich kann dir so viel sagen, daß der Schreiner Andres der Grundstein meines Hauses ist, auf dem alles feststeht. Und sicher werde alles auseinanderbrechen, sollte das Haus diesen Halt verlieren. Der Schreiner Andres ist hier Rat, Trost, Heil und Hilfe in der Bedrängnis. Will meine Frau ein Hausgerät haben, von dem sie gar nicht weiß, wie es aussehen soll und wozu man es braucht – der Schreiner Andres erfindet es und fertigt es an. Bricht Feuers- oder Wassersnot in der Küche oder im Waschhaus aus, der Schreiner Andres greift in die Elemente und bringt das Feuer ins Stocken und das Wasser in Fluß. Macht mein Sohn einen recht dummen Streich, der Schreiner Andres bringt alles wieder in Ordnung. Schmeißt meine Tochter das sämtliche Hausgerät entzwei, der Schreiner Andres leimt es wieder zusammen. So ist der Schreiner Andres die stützende Säule meines Hauses, und wenn diese zusammenbrechen würde, so gingen wir alle in Trümmer.«

Die Mutter war inzwischen wieder eingetreten, und ihr zuliebe schilderte der Vater die Verdienste des Schreiners Andres sehr eingehend. Onkel Max lachte schallend.

»Lacht ihr nur! Lacht ihr nur!« sagte die Mutter. »Ich weiß schon, was ich an dem Schreiner Andres habe.«

»Und ich auch«, bemerkte der Vater mit spöttischem Lächeln.

»Und ich auch!« behauptete das Miezchen herzhaft.

»Und ich auch!« sagte Otto seufzend, dem der Knöchel noch von seinem Sturz über den Stuhl hin weh tat.

»So, nun sind wir alle einer Meinung«, bemerkte die Mutter, »nun können die Kinder in Frieden zu Bett gehen.«

Auf diese Anzeige hin drohte dem Frieden gleich eine Störung. Aber es half nichts, die alte Trine stand schon vor der Tür und achtete darauf, daß die Hausordnung nicht überschritten wurde. Die Kinder mußten sich verabschieden, und gleich nachher verschwand die Mutter auch noch einmal, denn die Kinder schliefen nicht ein, ohne daß die Mutter zum Nachtgebet an ihre Betten gekommen war.

Als nun alles still und ruhig war, kam die Mutter wieder zu den Herren zurück und setzte sich gemütlich hin.

»Endlich«, sagte da der Oberst aufatmend, als habe er eine harte Schlacht hinter sich. »Siehst du, Max, erst gehört meine Frau dem Schreiner Andres, dann ihren Kindern und dann ihrem Mann, wenn noch etwas übrigbleibt.«

»Und siehst du, Max«, sagte die Mutter lachend, »wenn mein Mann noch so spottet – er mag unseren guten Schreiner Andres gerade so gern wie wir alle. Gestehe es nur ein, Otto! Eben hat mir Andres auch für dich noch einen Auftrag übergeben, er hat seine jährliche Summe gebracht und bittet um deine Hilfe.«

»Das ist wahr«, sagte der Oberst, »einen ordentlicheren, fleißigeren, zuverlässigeren Mann kenne ich nicht. Dem würde ich Weib und Kind und Hab und Gut und alles anvertrauen wie keinem anderen. Das ist der ehrlichste Mann in unserer ganzen Gemeinde und noch weit darüber hinaus.«

»Jetzt siehst du, Max«, sagte die Frau lachend, »ich konnte doch nicht mehr sagen.«

Ihr Bruder lachte mit über den Eifer, in den der Oberst unversehens gefallen war. Dann entgegnete er: »Nun habt ihr mir alle so viel von eurem Wundermann vorerzählt, daß ich wirklich wissen möchte, woher er stammt und wie er aussieht. Habe ich ihn denn noch nicht hier gesehen?«

»Ach, du hast ihn ja so gut gekannt, Max«, entgegnete seine Schwester. »Du mußt dich noch an den Andres erinnern, mit dem wir zur Schule gingen. Weißt du denn nicht mehr, wie zwei Brüder zusammen in derselben Klasse mit dir waren? Der ältere war damals schon ein rechter Taugenichts. Er war nicht dumm, aber tat nichts und blieb darum stecken und kam dann mit dem viel jüngeren Bruder in eine Klasse zusammen, in der du auch warst. Du mußt dich gewiß erinnern, er hieß Jörg und hatte ganz schwarzes, steifes Haar. Er bewarf uns, wo er konnte, mit irgend etwas, mit unreifen Äpfeln und Birnen und dann mit Schneebällen, und rief uns überall nach: ›Aristokratenbrut!‹«

»Oh, der!« rief Onkel Max lachend, »ja, nun weiß ich auf einmal alles. Richtig, ›Aristokratenbrut‹ rief er uns beständig nach. Ich möchte nur wissen, wie ihm das Wort in den Sinn kam. Er war ein widerwärtiger Kerl. Da sah ich ihn einmal einen viel kleineren Jungen ganz unbarmherzig durchprügeln. Dem half ich aber, dafür rief er mir mindestens zwölfmal nach: ›Aristokratenbrut!‹ Ach, nun weiß ich auch auf einmal, wer der andere war. Das war der magere, kleine Andres, sein Bruder, das ist gewiß euer Andres. Und dann ist das auch der Andres mit den Veilchen, nicht wahr, Marie? Oh, jetzt verstehe ich schon die dicke Freundschaft.« Onkel Max lachte aufs neue auf.

»Was für Veilchen? Das muß ich wissen«, fiel der Oberst ein.

»Oh, die Geschichte ist mir auf einmal vor Augen, als wäre sie gestern geschehen«, sagte der Onkel ganz angeregt von seinen Erinnerungen. »Die muß ich dir erzählen, Otto. Du weißt vielleicht durch deine Frau, daß wir hier im Dorf in jenen glücklichen Zeiten unserer Kindheit einen alten Schullehrer hatten, der fand, daß alle Mängel der Schulkinder aus ihnen heraus- und alle Fähigkeiten und guten Eigenschaften in sie hineingeprügelt werden könnten. So war er gezwungen, sehr viel zu prügeln, um den einen oder andern guten Zweck zu erreichen, manchmal auch beide auf einmal. Einmal nun war ihm der magere Andres unter die Hand gekommen. Dem schlug er nun so kräftig seine wohlgemeinte Ermahnung auf den Rücken, daß der Andres laut aufschrie. In diesem Augenblick stand meine kleine Schwester, die kürzlich in die Schule eingetreten war und sich noch nicht so recht in die dort herrschenden Gebräuche eingelebt hatte, plötzlich auf von ihrem Sitz in der ersten Bank. Sie lief eilig zur Tür. Der Schullehrer hielt inne mit seiner Arbeit und rief ihr nach: ›Wohin läufst du?‹ Marie kehrte sich um. Die hellen Tränen liefen ihr über die Backen, und sie sagte ganz aufrichtig: ›Ich will heimgehen und es dem Papa sagen.‹ ›Wart, ich will dir!‹ rief jetzt der Schullehrer überrascht und stürzte vom Andres weg auf die kleine Marie los. Die prügelte er aber nicht, er nahm sie nur beim Arm und setzte sie ziemlich fest auf ihren Platz hin. Dann sagte er noch einmal: ›Wart, ich will dir!‹ Damit war aber alles abgetan. Auch der Andres wurde in Ruhe gelassen, und so nahm alles einen friedlichen Ausgang. Aber die Tränen, die meine Schwester für den Andres vergossen hatte, und ihr Einschreiten gegen den Tyrannen wurden nicht vergessen. Von dem Tag an lag jeden Morgen ein Strauß Veilchen auf ihrem Platz und durchduftete den ganzen Schulraum. Und nachher kam noch ein anmutigerer Duft von dem Platz her, denn da lagen große Erdbeersträuße mit den prächtigsten dunkelroten Beeren, wie sie sonst nirgends zu sehen waren. Und so ging es das ganze Jahr durch immerfort. Wie sich dann aber die Freundschaft zu dem erstaunlich hohen Grad entwickelt hat, wo sie nun angelangt ist, das muß meine Schwester wissen und uns mitteilen.«

Der Oberst hatte seine Freude an der Geschichte der Tränen und der Veilchen und forderte seine Frau auf, weiter zu erzählen.

Sie sagte lachend: »Erdbeeren und Veilchen blühen deiner Ansicht nach das ganze Jahr durch, Max. Das ist aber nicht ganz so. Aber der gute Andres wurde wirklich das ganze Jahr durch nicht müde, mir irgend etwas Erfreuliches aus Feld und Wald zu suchen und an meinen Platz zu legen, solange wir miteinander zur Schule gingen. Er trat dann lange vor mir aus und kam in die Lehre zu einem Schreiner in der Stadt. Er kam aber oft nach Hause, ich verlor ihn nie ganz aus den Augen. Und als mein Mann dieses Gut kaufte und wir uns eben verheiratet hatten, handelte es sich darum, daß Andres sich etwas ankaufen und sich selbständig niederlassen wollte. Er hatte seine Eltern verloren und stand ganz allein, aber als tüchtiger Arbeiter da. Er hatte seine Augen auf das Häuschen mit dem sauberen kleinen Garten dort unterhalb der Kirche gerichtet, konnte es aber nicht ankaufen, da der Verkäufer sofort bares Geld haben wollte und Andres erst etwas verdienen mußte. Aber wir kannten ihn und seine Arbeit. Mein Mann kaufte das Gütchen an für ihn, und er hat es keinen Augenblick zu bereuen gehabt.«

»Nein, wahrhaftig nicht«, fiel der Oberst ein. »Der brave Andres hat längst sein Gut vollständig abgezahlt, und seither bringt er mir jedes Jahr um diese Zeit eine ganz hübsche Summe, den Gewinn seiner Jahresarbeit. Die lege ich ihm gut an. Er ist jetzt schon ein wohlhabender Mann, und nun nimmt sein Besitztum jährlich sehr zu. Er kann sein Häuschen noch zu einem großen Haus machen, der brave Andres. Es ist nur schade, daß er wie ein Einsiedler lebt und darum sein erarbeitetes Gut gar nicht genießen kann.«

»Hat er denn keine Frau und keine Familie? Und wo ist der bitterböse Jörg schließlich hingekommen?« fragte Onkel Max weiter.

»Nein, er hat gar niemanden«, antwortete die Schwester. »Er lebt völlig allein, wirklich wie ein Einsiedler. Er hat eine lange, traurige Geschichte erlebt, die ich mit angesehen habe und die ihm gewiß alle Lust genommen hat, je eine Frau zu suchen. Der Bruder Jörg ist hier einige Jahre herumgestrolcht. Er hat nie gearbeitet, sondern gehofft, durch furchtbares Schimpfen auf alle diejenigen, die keine Lumpen waren wie er, endlich doch noch sein Glück zu machen. Und als ihm dies nicht gelang, auch der gute Andres ihm endlich nicht mehr aus seinen Schulden und allem Bösen heraushelfen konnte und auch nicht mehr wollte, da ist er verschwunden. Wohin, hat man nie recht gewußt. Jedermann war froh, daß er fort war.«

»Was war denn die traurige Geschichte, Marie?« fragte der Bruder. »Die muß ich auch noch wissen.«

»Und ich auch«, sagte der Oberst und zündete zu der Erzählung vergnüglich eine neue Zigarre an.

»Aber Otto«, bemerkte die Frau Oberst, »dir habe ich dieses Erlebnis wohl schon sechsmal erzählt.«

»So?« entgegnete ruhig der Oberst. »Es gefällt mir, wie es scheint.«

»So fang an!« ermunterte der Onkel.

»Du mußt dich noch an das Kind erinnern können, Max«, begann seine Schwester, »von dem ich heute abend schon einmal gesprochen habe, das ganz in unserer Nähe wohnte. Es gehörte dem bleichen, mageren Leineweber, den wir immer sein Weberschifflein hin- und herwerfen hörten, wenn wir in unserem Garten standen. Das Kind sah zart und nett aus und hatte große, lustig glänzende Augen und so schöne braune Haare. Es hieß Aloise.«

»In meinem Leben habe ich keine Aloise gekannt«, warf Onkel Max ein.

»Oh, ich weiß schon, warum«, fuhr seine Schwester fort. »Wir nannten sie auch nie so, besonders du nicht. Wisi nannten wir sie, zum Schrecken unserer seligen Mama. Weißt du denn nicht mehr, wie oft du selbst sagtest, wenn wir am Klavier Lieder singen wollten mit Mama und es so leise tönte: ›Man muß das Wisi holen, sonst geht's nicht‹?«

Jetzt stieg die Erinnerung mit einemmal in Onkel Max' Gedächtnis auf. Er lachte auf und rief: »Oh, das ist's, das Wisi, ja gewiß, das Wisi kenne ich. Ich sehe es deutlich vor Augen mit dem lustigen Gesicht, wie es am Klavier stand und so tapfer darauflos sang. Ich mochte es gern, das Wisi. Es war auch nett anzusehen. Das ist wahr. Die gute Mutter hatte immer einen Schreckensanfall, wenn ich ›Wisi‹ sagte. Ich habe aber nie gewußt, wie das Wisi eigentlich hieß.«

»Freilich hast du das gewußt«, bemerkte die Schwester, »denn jedesmal sagte die Mama, es sei eine Barbarei, aus dem schönen Namen Aloise ein Wisi zu machen.«

»Das habe ich wohl jedesmal überhört«, meinte Onkel Max. »Aber wo ist denn das Wisi hingekommen?«

»Du weißt, es war in derselben Klasse mit mir in der Schule, wir sind miteinander von Klasse zu Klasse gestiegen bis hinauf zur sechsten. Da kann ich mich ganz gut erinnern, wie alle diese Jahre durch der Andres als treuster Freund und Beschützer dem Wisi zur Seite stand in Freud und Leid. Und es konnte den Freund gut brauchen. Meistens, wenn es zur Schule kam und die Tafel mit Rechnungen bedeckt bringen sollte wie wir anderen auch, da stand nicht eine Zahl darauf. Es legte sie aber mit dem lustigsten Gesicht auf die Schulbank hin, und im folgenden Augenblick stand alles darauf, was darauf stehen sollte. Denn der Andres hatte schnell die Tafel genommen und die Rechnungen darauf gesetzt. Oft geschah es auch, daß Wisi in seiner raschen Weise mit dem Ellbogen eine Scheibe eingeschlagen hatte in der Schulstube, oder es hatte im Garten an des Schulmeisters Pflaumenbaum geschüttelt. Und wenn dann Gericht über diese Untaten gehalten wurde, dann blieb regelmäßig alles auf dem Andres sitzen. Nicht daß er von jemand angeklagt wurde, sondern er selbst sagte gleich halblaut, er meine, er habe die Scheibe zerdrückt. Und er glaube auch, er habe an dem Pflaumenbaum gerüttelt, und so bekam er die Strafe. Wir Kinder wußten immer ganz gut, wie es war. Aber wir ließen es so gehen. Wir waren so gewöhnt daran, daß es so sei, und dann hatten wir alle das lustige Wisi so gern, daß wir's ihm immer gönnten, wenn es ungestraft davonkam. Und Äpfel und Birnen und Nüsse hatte Wisi immer alle Taschen voll, die kamen alle vom Andres. Denn was er nur hatte und erlangen konnte, das stecke er alles dem Wisi in den Schulsack. Ich dachte manchmal darüber nach, wie es denn sein könne, daß der stille Andres gerade das allerlustigste und aufgeweckteste Kind der ganzen Schule am liebsten habe. Und dann sann ich darüber nach, ob es nun auch gerade den stillen Andres besonders gern habe. Es war wohl immer freundlich zu ihm, aber so war es auch mit den anderen. Und als ich einmal ernstlich unsere Mama fragte, wie das wohl sei, da schüttelte sie ein wenig den Kopf und sagte: ›Ich fürchte, ich fürchte, diese artige Aloise ist ein wenig leichtsinnig und kann noch in eine schwere Schule kommen.‹ Diese Worte gaben mir viel zu denken und kamen mir immer wieder in den Sinn.«

Die Frau Oberst sah lächelnd vor sich hin. »Als wir dann zusammen in den Religionsunterricht gingen, da kam Wisi regelmäßig am Sonntagabend zu uns herüber, und wir sangen zusammen am Klavier Choräle. Daran hatte es damals sehr große Freude, es konnte alle die schönen Lieder auswendig und sang sie mit heller Stimme. Wir hatten auch unsere Freude an den Abenden, Mama und ich, und auch darüber, daß Wisi so gern in den Unterricht ging und ihn sich wirklich zu Herzen nahm. Es war nun ein großes Mädchen geworden und sah recht gut aus. Seine lustigen Augen hatte es noch, und wenn es auch nie so kräftig aussah wie die Bauernmädchen im Dorf, so hatte es doch eine blühende Gesichtsfarbe und war netter als sie alle. Damals war der Andres noch in der Stadt als Lehrjunge, er kam aber immer über den Sonntag heim. Dann kam er auch jedesmal zu uns ins Pfarrhaus, und am liebsten sprach er dann immer mit mir von den vergangenen Tagen der Schule. Und dann kamen wir immer bald auf das Wisi zu sprechen. Das kam so im Zusammenhang, und schließlich sprachen wir dann nur noch von ihm. Dem Andres ging ganz das Herz und der Mund auf bei diesen Erinnerungen, und während alle Welt längst das Wisi nie anders also so genannt hatte, nannte er es unwandelbar das ›Wiseli‹. Und das kam dann so ganz eigen zärtlich heraus.

Da kam auch ein Sonntag, als das Wisi und ich noch nicht achtzehn Jahre alt waren. Gegen Abend trat er bei uns ein und sah ganz rosig aus. Und als wir nun mit Mama zusammensaßen, da sagte Wisi, es sei gekommen, uns mitzuteilen, daß es sich mit dem jungen Fabrikarbeiter versprochen habe, der seit kurzer Zeit im Dorfe wohnte. Sie könnten gleich heiraten, da er eine gute Anstellung habe unten in der Fabrik, und so hätten sie denn schon alles festgesetzt, daß sie gleich in zwölf Tagen zusammenkommen könnten. Ich war so erstaunt und so traurig, daß ich kein Wort sagen konnte. Eine Zeitlang sagte die Mutter auch nichts, sie sah ganz bekümmert aus. Dann aber sprach sie ernstlich mit dem Wisi und stellte ihm vor, wie leichtsinnig es sei, daß es sich so schnell mit dem Fabrikarbeiter eingelassen habe. Es kenne ihn ja kaum, und da sei doch ein anderer, der ihm Jahre lang nachgegangen sei und ihm gezeigt habe, wie lieb er es habe. Und zuletzt fragte sie es dringend, ob denn nicht alles noch rückgängig gemacht werden oder doch eine gute Zeitlang hinausgeschoben werden könne. Es könne noch bei seinem Vater bleiben, es sei ja noch so jung. Da fing Wisi zu weinen an und sagte, es habe ganz bestimmt sein Wort gegeben, alles sei eingerichtet auf die Zeit und dem Vater sei's recht. Nun sagte die Mutter nichts mehr, aber das arme Wisi weinte immer ärger. Da nahm sie es bei der Hand und zog es zum Klavier hin, an den Platz, wo es immer stand, wenn wir zusammen sangen. Sie sagte in ihrem freundlichen Ton zu ihm: ›Trockne nun deine Tränen, wir wollen noch einmal zusammen singen.‹ Dann schlug sie uns das Lied auf, und wir sangen zusammen:

›Befiehl du deine Wege,
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.

Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.‹

Wisi ging dann wieder getröstet von uns, die Mutter hatte ihm noch einige freundliche Worte gesagt.

Aber mich hatte die Sache recht traurig gemacht. Ich hatte ein ganz bestimmtes Gefühl, daß das arme Wisi seine frohen Tage nun hinter sich hatte, und dann tat mir der Andres unsäglich leid. Was würde der sagen? Er sagte aber nie etwas, gar kein Wort, aber ein paar Jahre lang ging er herum wie ein Schatten und war noch stiller geworden als vorher. Ich habe auch seither nie mehr sein stillfröhliches Gesicht gesehen, wie er es damals doch oft gezeigt hat.«

»Der arme Kerl!« rief Onkel Max aus. »Hat er denn keine andere Frau genommen?«

»Ach, nein, Max«, entgegnete seine Schwester ein wenig strafend, »wie konnte er denn, wie kannst du so etwas sagen. Er ist ja die Treue selbst.«

»Das konnte ich ja nicht wissen, liebe Schwester«, erwiderte der Bruder begütigend. »Ich konnte doch nicht voraussehen, daß dein vielseitig begabter Freund nun auch noch die Unwandelbarkeit an sich trägt. Aber das Wisi, erzähl weiter von ihm. Ich hoffe wirklich, das lustige Wisi ist nicht unglücklich geworden, es würde mir leid tun.«

»Ich merke schon, Max«, sagte die Schwester, »daß du es heimlich mit dem Wisi hältst und kein Mitleid hast mit dem treuen Andres, dem es doch fast das Herz abgedrückt hat, daß das Wisi für ihn verloren war.«

»Doch, doch«, versicherte der Onkel, »ich kann ihm nachfühlen, wie unglücklich er war. Aber weiter, wie ging's mit dem Wisi? Es hat doch seine lustigen Augen nicht verweint?«

»Doch, ich glaube schon«, fuhr die Schwester fort. »Ich habe Wisi nicht mehr oft gesehen, es hatte viel zu tun. Ich glaube, der Mann war nicht eben böse, aber er hatte etwas Rohes, er konnte so grob und unfreundlich sein, auch mit seinen kleinen Kindern. Wisi hatte gewiß wenig Freude mehr. Es hatte mehrere nette Kinder, aber sie waren alle sehr zart, es verlor sie wieder eins nach dem andern. Fünf hatte es begraben müssen, nur ein einziges ist ihm geblieben, ein feines, zartes Geschöpfchen, ein kleines Wiseli. Es ist nicht viel größer als unser Miezchen und ist doch gut drei Jahre älter. Wisis Gesundheit hatte durch das alles so gelitten, daß man deutlich sehen konnte, was kommen würde. Und nun ist es auch da, eine schnelle Auszehrung rafft ihr Leben hin. Ich fürchte, es ist gar keine Hoffnung mehr.«

»Nein!« rief Onkel Max erschrocken aus. »Das kann doch nicht sein, ist's wirklich wahr? Kann man da nichts machen, Marie? Wir wollen doch gleich nachsehen, vielleicht ist noch zu helfen.«

»Ach nein, da ist nicht mehr zu helfen«, sagte die Schwester traurig. »Da war überhaupt nicht mehr zu helfen. Wisi war für all die Arbeit und Anstrengung viel zu zart.«

»Und was macht nun der Mann?« fragte Onkel Max.

»Ach, den habe ich ja ganz vergessen, das hatte das kranke Wisi auch noch durchzumachen. Es wird nun bald ein Jahr sein, da wurde ihm in der Fabrik der eine Arm und das Bein so zerschlagen, daß man ihn halbtot nachhause brachte. Danach konnte er nicht mehr arbeiten. Er muß kein besonders geduldiger Kranker gewesen sein. Wisi hatte ihn nun auch noch zu verpflegen zu allem andern. Er starb dann ungefähr ein halbes Jahr nach dem Unfall. Seither lebt Wisi allein mit dem Kind.«

»Und so blieb von allem gar nichts mehr übrig als ein kleines Wiseli? Was macht man damit? Aber nein, so traurig wird's doch nicht kommen müssen. Das Wisi kann noch gesund werden und alles noch kommen, wie es hätte sein sollen von Anfang an.«

»Nein, nein, dazu ist es zu spät«, entgegnete die Schwester sehr bestimmt. »Das arme Wisi hat seinen Leichtsinn schwer büßen müssen. Aber jetzt ist es spät geworden.« Und fast erschrocken stand sie auf, denn über dem Gespräch war die Mitternachtsstunde vorübergegangen.

Seit einiger Zeit schon war der Oberst ganz still geworden, er hatte sich in seinen Lehnstuhl zurückgelegt und war fest eingeschlafen. Onkel Max hatte zwar keinen Schlaf, denn mit der Erzählung von dem armen Wisi waren ihm alle Jugenderinnerungen so lebendig aufgestiegen, daß er noch eine Menge von Dingen und Persönlichkeiten besprechen wollte. Aber seine Schwester war unerbittlich, sie hielt die Lampe in der Hand und drängte zum Aufbruch.

So half denn nichts. Um aber nicht allein die unwillkommene Störung zu tragen, weckte er seinen Schwager mit einem so gewaltigen Ruck an seinem Stuhl, daß der Oberst mit einem Schrecken emporschoß, als sei eine feindliche Bombe auf ihn gefahren. Aber sein Schwager klopfte ihm friedlich auf die Schulter und sagte: »Es war nur eine leise Mahnung von seiten deiner Frau, daß wir uns zurückziehen möchten.« Der Rückzug wurde dann vollzogen, und bald stand das Haus auf der Höhe ganz still im Mondschein da. Und unten am Berg stand eins, da sollte es auch bald still werden. Jetzt brannte noch ein schwaches Lämpchen drinnen und warf seinen matten Schimmer durch das schmale Schubfenster in die monderhellte Nacht hinaus.


 << zurück weiter >>